Fernsehrückblick: Best- und Worst-of 2024

Blutsauger, Früchte, jüdischer Alltag

Wenn die Welt dem Abgrund entgegentaumelt, ist das Fernsehen wahlweise Flucht oder Konfrontation, also relevant oder eskapistisch und selten gar beides. 2023 vor allem mit Mystery, Coming-of-Age, Empowerment oder Fake-Dokus. Und 2024? Ebenso mit Mystery, Coming-of-Age, Empowerment oder Fake-Dokus, aber zuzüglich Vampiren, die Zombies als TV-Beißer ablösen, allerdings längst nicht so zubeißen wie empowerte Frauen. Das zeigen die elf bemerkenswertesten Fernsehereignisse.

Platz 11: Ripley, Netflix

Ein probates Mittel eskapistischer Ästhetik ist zu Farbfilmzeiten schwarzweiß. In dieser Grauschattierung hat Steven Zaillian zuletzt Patricia Highsmiths talentierten Mr. Ripley auf Serienformat gebracht, und siehe da – Andrew Scotts mordender Hochstapler ist so hinreißendes Fluchtentertainment, dass die Welt ringsum acht Folgen lang zum Stillstand kommt.

Platz 10: Becoming Karl Lagerfeld, Disney+

Wer erzählerische Funktionen ihrer Form unterordnen will, findet kaum besseren Stoff als die Haute Couture. Gleich drei Serien haben sich deshalb Modemachern gewidmet. Neben Diors The New Look und Cristóbal Balenciaga auch Karl Lagerfeld, den Daniel Brühl als profilneurotisches Genie mit einer Grandezza spielt, als wäre sie vom Meister selbst kreiert.

Platz 9: Carsten Sostmeier, ARD

„Tänzerisch leicht wie das Lichtspiel einer Kerze, welches sich in einer sanften Brise elegant hin- und herbewegt“ – so hat der ARD-Reporter Carsten Sostmeier keinen Lyrik-Wettbewerb kommentiert, sondern das olympische Dressur-Reiten in Paris – und dem Sport anmutige Augenblicke der vielleicht letzten sorglosen Sommerspiele geschenkt.

Platz 8: Maxton Hall, Prime Video

Dark, Barbaren, Liebes Kind, Die Kaiserin: Serien made in germany sind auch global gefragt, stehen aber im Schatten von Maxton Hall – einer geistig schlichten, physisch saftigen New-Adult-Schmonzette, die Amazons Click-Rekorde bricht. Immerhin müssen deutsche Darsteller dank solcher Erfolge im Ausland nicht mehr ständig NS-Uniform tragen.

Platz 7: Shōgun, Disney+

Als Richard Chamberlains Kapitän Blackthorne 1982 im ZDF anno 1600 Japan ansegelte, war es ein einziges Rätsel. Daran hat sich weder 42 noch 424 Jahre später was geändert. Wie groß die Faszination der fernöstlichen Hochkultur ist, zeigt jedoch Rachel Kondos Serien-Remake von Shōgun – ein bildgewaltiges Meisterwerk, das völlig zu Recht 18 Emmys gewann.

Platz 6: Stefan Raab, RTL+

Als Stefan Raab Mitte September gegen Regina Halmich Dresche bezog, war unklar, dass es nur ein Vorgeschmack auf viel härtere Prügel war. Schon das zweite Comeback Du gewinnst hier nicht die Million bekam von Kritik und Quote konsequent aufs Maul und zeigt eindrücklich: Alter schützt vor Langeweile nicht. Dass es vor Dummheit nicht schützt, zeigte Thomas Gottschalk allerdings deutlicher.

Platz 5: Der Upir, joyn

Jahrelang waren die Bildschirme voller Zombies und gaben der Apokalypse ein zerfleddertes Antlitz. 2024 wurden sie von Vampiren verdrängt, die meist heiß waren wie im ZDF-Theater Love Sucks. Manchmal aber auch skurrile Loser wie Der Upir mit Rocko Schamoni und Fahri Yardim als Blutsauger, die jede Filmregel brechen, aber gerade deshalb glänzen.

Platz 4: Zeit Verbrechen, RTL+

Wie traurig Paramounts Rückzug von deutscher Fiktion ist, zeigt kein Format mehr als Zeit Verbrechen. Vier Regisseure haben dafür Episoden des erfolgreichen Podcast verfilmt. Und allein schon Helene Hegemanns Milieustudie jugendlicher Gewalt wäre jeden Fernsehpreis wert gewesen. Gemeinsam liefern sie den Beweis: Krimi geht auch ohne Klischees.

Platz 3: Schwarze Früchte, ARD-Mediathek

Um marginalisierte Gruppen sichtbar zu machen, der schwule Schwarze Lamin Leroy Gibba seine Coming-of-Age-Serie zwar selbst produzieren. Auch deshalb dürfen seine Schwarzen Früchte jedoch voller Abgründe sein – und dennoch ungeheuer liebevolle, liebenswerte Seriencharaktere, wie sie sonst nur die herausragende ARD-Serie 30 Tage Lust ersonnen hat.

Platz 2: Angemessen Angry, RTL+

Was macht frau in einer Gesellschaft, die sexuellen Missbrauch ächtet, aber nicht ahndet, mit Tätern? Marie Blochings Zimmermädchen Amelie schreitet dank magischer Kräfte blutig zur Selbstjustiz. Damit reiht sie sich nicht nur angemessen angry in weibliche Selbstermächtigungen wie Sexuell verfügbar (ARD) ein, sondern ist trotz aller Brutalität brüllend komisch.

Platz 1: Die Zweiflers, ARD-Mediathek

Jüdisches Leben wird meist nur auf zwei Arten erzählt: Ganz ohne Holocaust („Alles auf Zucker“) oder unbedingt mit (alles andere). David Haddas Porträt der fiktiven Frankfurter Feinkostsippe Die Zweiflers schafft es, historischen Ausnahmezustand und aktuellen Alltag so zu vereinbaren, dass daraus die lustigste, ernsteste, tiefste, leichteste Serie 2024 wurde.


One Comment on “Fernsehrückblick: Best- und Worst-of 2024”

  1. Elke Dobisch's avatar Elke Dobisch says:

    “Während das Wesen von Löb Strauß, wie er 1829 in Buttenheim getauft wurde, noch einigermaßen verbürgt ist, sind Dialoge, Gegner, Zeitgenossen bloß mundgerechte Erfindungen…” SZ 30.12.24

    Finde den Fehler… 🙂


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