Man kann Jan Böhmermann Selbstgerechtigkeit, Snobismus, Geltungsdrang, Arroganz vorwerfen. Weit weniger verwerflich ist hingegen sein Mut, sich mit Stimme, Person, Gesicht bedingungslos ins mediale Empörungsgewitter zu stellen, sofern es seiner Idee von publizistischer Notwendigkeit entspricht. Der Entrüstungssturm, den er mit seiner öffentlichen Enttarnung des rechtsradikalen Verschwörungsesoterikers Clownswelt entfacht hat, war also kein Kollateralschaden, sondern genauso gewollt.
Es zeigt nebenbei, dass öffentlich-rechtliche Sender selbst aus ihrem Nachtprogramm heraus noch zur crossmedialen Diskurshoheit in der Lage sind. Zumindest national. Denn international wurde der Kuchen längst so geteilt, dass für deutsche Player kaum noch sichtbare Krümel übrigbleiben. Unter den 100 größten Medienunternehmen der Welt befinden sich laut einer Erhebung von mediadb.eu zwar immerhin acht deutsche. Bertelsmann, einst europaweit führend, hat sich allerdings um zwei Plätze auf den 18. verschlechtert.
Die Springer SE schafft es nach Abspaltung mehrerer Job- und Immo-Portale nur noch auf Rang 97. Unangefochtener Marktführer: Alphabet, dessen 350 Milliarden Dollar Umsatz mehr als das Doppelte des Zweiten Meta Platforms sind und fast das Zwanzigfache der RTL-Mutter Bertelsmann. Bester reiner Film- und Fernsehkonzern: Comcast an 4. Stelle. Noch nicht auf der Liste steht die Telekom, was sich durch die Übernahme der WM-Rechte 2026 für MagentaTV allerdings ändern könnte.
Ob das ein gutes oder schlechtes Signal für die öffentlich-rechtlichen Ausschreibungsverlierer ist? Schwer zu sagen! Fußball gehört zwar zur televisionären Grundversorgung, kostet aber auch Unsummen an TV-Gebühren. Netflix dagegen könnte wiederum ein paar Plätze gutmachen, nachdem es von HBO die Sesamstraße übernommen hat, weil – einmal dürfen Sie raten; genau: Donald Trump.
Der hat dem Sender PBS nämlich sämtliche Subventionen für die gemeinnützige Kindersendung gestrichen, seinen Feldzug gegen Demokratie und Pressefreiheit also auf die Allerkleinsten ausgeweitet. Dafür gibt, na ja, irgendwie schon gute Nachrichten aus Deutschland. Da nämlich hat der Berliner Verlag von Silke und Holger Friedrich bekannt gegeben gemeinsam mit der dpa Kurt TucholskysWeltbühne neu aufzulegen.
Die Frischwoche
26. Mai – 1. Juni
Zweitbeste Nachricht der Woche: ab 1. Juni wiederholt One im Wochenrhythmus eine weitere Legende, wenngleich eine weniger politische: Helmut Dietls Kir Royal. An Sensationen neuerer Art ist das Programm hingegen etwas ärmer als üblich. Sehenswert könnte womöglich die Mafia-Serie Mobland mit Pierce Brosnan als Pate ab Freitag zehn Teile lang bei Paramount+ sein, wer weiß.
Ähnlicher Titel, artverwandtes Metier, völlig anderes Genre: Moneyland – Marc Wieses dokumentarischer Einblick in die schillernde Schattenwelt der Finanzindustrie, ab Dienstag in der Arte-Mediathek. Ebenso interessant könnte die ARD-Doku Härte statt Hygge, ab Sonntag online, sein. 45 Minuten lang blickt sie ins hermetisch abgeriegelte, hypernationalistische Dänemark, eines der vielleicht verklärtesten Länder der Erde.
An gleicher Stelle läuft am Mittwoch Dead Girls Dancing, Anna Rollers grandios gefilmtes, einfühlsam inszeniertes Spielfilmdebüt um einen Roadtrip dreier Abiturientinnen ins Ungewisse, für den die Filmemacherin voriges Jahr den wichtigen VGF-Nachwuchspreis bekam. Das dürfte deutlich deeper sein als Twisted Metal, ein zehnteiliges Action-Geballer aus dem John-Doe-Kosmos, tags zuvor bei ZDFneo.
Und irgendwo dazwischen rangiert dann ab Donnerstag die Bestseller-Adaption The Better Sister mit Jessica Biel und Elizabeth Banks als Schwestern mit dunklem Familiengeheimnis inklusive Mord und Totschlag. Noch was? Ach ja: Staffel 8 von Rick & Morty. Wer’s aberwitzig animiert mag, wird in diesem Mad-Scientists-Irrsinn bei Warner TV bestens versorgt.
Dub, Reggae, Dancehall, Offbeat – für Onbeat-Fans generell ein schwieriges Terrain. Es sei denn, man beackert es so kreativ, ja experimentell wie Pachy Garcia. Unterm Nom de Guerre Pachyman lotet der gebürtige Puerto Ricaner seit Jahren schon in Los Angelos die Grenzen seiner karibischen Klangwelten aus und durchlöchert sie mit Soul, Jazz, Kraut, Rock, Drum‘n‘Bass, bis daraus etwas ganz Eigenes wird.
Auf das fünfte Album Another Place zum Beispiel eine Art sedativen Südsee-House, der mithilfe fließender Gitarren und halluzinogener Orgeln durchs warme Meer fließt wie Pilze durch Blutbahnen. Viel Percussion, wenig Akkorde, keine Vocals ständiges Mäandern am Rand der Disharmonie: Das macht die Platte zu einer sinnlichen Grenzerfahrung des alternativen Flowerpowers. Und selbst für Offbeat-Allergiker hörbar.
Pachyman – Another Place (May 23)
Pressyes
Noch ein, zwei Schippen Humus drauf ins äquatoriale Blumenbeet schippt René Mühlberger. Der Wiener Gitarrist, einst strikt dem Sixties-Sound verhaftet, reitet auf seiner dritten Platte Sundrops! einmal mehr die Wellen des Golf von Mexiko (Mexiko!). Seine Surfboards: Tiefenentspannte Family-of-the-Year-Gesänge, Marimbas und Steeldrums, dazu mal krautig verworrene, mal gallertartig zähe Gitarren und sehr wenig Anstrengung.
Das ist in der Regel dieser 14 neuen Songs eher selten was für Math-Rocker und Akkorde-Rechner; seine Sundrops! wollen genau so sein wie die Single-Auskopplung Waves of Joy: Sonnenstühle, auf denen die Komplexität der Gegenwart zerfließt wie Sonnenöl im Sand. Umso origineller, dass er die simplizistische Androgynität hin und wieder mit breitbeiniger Macker-Pose aufmotzt. Als Gesamtpaket: wie ein Yoga-Retreat im Probekeller.
Pressyes – Sundrops! (Kitsuné Records)
Pan American
Und bitte – als wäre heut karibische Nacht: Wie lässig kann denn bitte hochpolitischer HipHop nach Strandausflug klingen?! Bei Leron Thomas aka Pan Amsterdam vollumfänglich. Wenn der texanische New Yorker auf seiner neuen Platte rappt: “Livin more vicariously than a white girl through her mixed baby / Don’t believe in scarcity so don’t try to under pay me / Tell an Uncle Tom chicken and gravy / For the team so don’t try to trade me”, steckt darin mehr PoC-Realität als sein Flow verrät.
Aufgewachsen im Trump-Territorium Houston, mixt er wie gewohnt elegante Jazztrompeten und eiernden Laid-Back-Pop unter seine sanft zerwühlten Raps voller KKK und N****z, dass man beides nur mit etwas Mühe zusammenkriegt. Dann aber entfaltet Confines, was die ersten vier Alben gezeigt haben: leibhaftig instrumentierten Producer-HipHop, der schwer nach Band klingt und damit weiter ausholt als im Genre üblich.
Zum 50. Jahrestag des Prozessbeginns gegen die erste RAF-Generation zeigt die ARD in der Mediathek Niki Steins Dokudrama Stammheim, (Foto: Hendrik Heiden/SWR) mit dem der Regisseur Reinhard Hauffs skandalumwittertes Kammerspiel von 1986 mit Ulrich Tukur als Andreas Baader weiterentwickelt. Das ist starker, aber brillanter Politiktobak.
Von Jan Freitag
Das Bildungsprogramm neigt seit jeher zur Personalisierung historischer Ereignisse. Wer Geschichte spürbar machten will, erzählt sie gern am Beispiel handlungsrelevanter Akteure. Besonders hierzulande herrscht dabei allerdings ein Faible für Antagonisten, das fast an Fimmel grenzt, Tendenz zum Fetisch einer deutschen Sado-Maso-Beziehung. Der beliebteste heißt natürlich Adolf Hitler. Dicht gefolgt allerdings von Andreas Baader. Und wer uns mit einem der beiden realfiktional das Gruseln lehrt, besetzt ihn möglichst prominent.
Den Diktator haben daher neben Bruno Ganz, Götz George oder Thomas Thieme auch Charlie Chaplin und Anthony Hopkins verkörpert. Der RAF-Terrorist hingegen wurde bereits von Ulrich Tukur, Moritz Bleibtreu oder Sebastian Koch gespielt und jetzt ganz neu auf dem Filmpersonalkarussell: Henning Flüsloh. Er ist der Unbekannteste von allen. Vor allem aber ist er der Beste. Und das in einer filmisch raffinierten, inszenatorisch originellen, emotional mitreißenden Rekapitulation. Ihr geschichtliches Original feiert am 21. Mai Jubiläum.
Vor genau 50 Jahren begann der Prozess gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin. Der Vorwurf damals: 58 vollendete oder versuchte Morde, dazu sechs Raubüberfälle und die Bildung einer kriminellen Vereinigung. Das Gericht: ein Mehrzweckgebäude am Rande der JVA Stuttgart. Sein Standort: Stammheim. Ein Name wie Donnerhall. Eigentlich voll ausreichend für ein Dokudrama, dem die ARD natürlich dennoch den didaktischen Untertitel Zeit des Terrors verpasst. Aber das macht nichts.
Denn was Niki Stein damit erschaffen hat, ist ein kleiner Meilenstein des politischen Historytainments. Der Tatort-Regisseur legt ihn am 28. April 1974, als die ersten zwei Häftlinge im Hochsicherheitstrakt ankommen. Zuvor kontrolliert ein JVA-Beamter die Zellen, berichtet dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss einen Schnitt weiter, vom „ordnungsgemäßen Zustand“. Dann läuten Hubschraubergeräusche den Anfang vom Ende eines denkwürdigen Strafprozesses ein.
Im Gegensatz zur ersten großen, skandalumtosten RAF-Fiktion Stammheim mit Ulrich Tukur als Andreas Baader bildet er allerdings nur einen Teilaspekt des anderthalbstündigen Reenactments. 1986 hatte ihn Stefan Aust noch komplett ins Zentrum eines gefilmten Bühnenstücks gestellt, das zwar den Goldenen Bären erhielt, aber die Berlinale-Jury sprengte. Fast 40 Jahre, nachdem sich deren Präsidentin Gina Lollobrigida empört vom Preisträger distanzierte, teilt sein Drehbuch die Ereignisse dagegen in zwei Teile.
Bevor die vier Angeklagten in der zweiten Filmhälfte den eigens errichteten Gerichtssaal am Rande der JVA betreten, darf sie das Publikum daher im Knastalltag beobachten. Mehr noch als die 192 Prozesstage, von denen wir gut ein Dutzend erleben, besser: erdulden, zeigt ihn Niki Stein als klaustrophobisches Theater der Selbstindoktrination. Freund oder Feind, Sieg oder Tod, Schwein oder Mensch – auch in Gefangenschaft herrscht das Diktat kategorischer Dichotomien, die Niki Stein mit der stoischen Freundlichkeit des stellvertretenden Vollzugsleiters konterkariert.
„I hab immer Frau Enschlin und Herr Raschpe gsagt“, sagt Horst Bubeck zum Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses (Hans-Jochen Wagner) und fügt hinzu, nie gezählt zu haben, „wie oft sie mich Arschloch genannt“ hätten. Wie Füslohs Baader und Gudrun Ensslin (Lilith Stangenberg) die Wachleute, aber auch Ulrike Meinhof (Tatiana Nekrasov) mit Beleidigungen aller Art traktieren – dieser Psychoterror ist dabei kaum zu glauben, wäre er nicht bestens durch das reichhaltige Archiv offizieller Dokumente und illegaler Abhörmaßnahmen dokumentiert.
Anders als Hauff macht Stein aus Austs Stoff also ein doppeltes Kammerspiel. Weil er zudem ständige Abstecher in den Stuttgarter Landtag macht, wo die Ereignisse der nächsten dreieinhalb Jahre aufarbeitet werden, hebt es sich dramaturgisch wohltuend von Uli Edels Terror-Varieté Der Baader-Meinhof-Komplex (nach einer Vorlage von, genau: Stefan Aust) ab. Aber auch ästhetisch betritt sein Dokudrama Neuland. Schließlich mischt es nicht nur Aufnahmen realer Rahmenhandlungen unter eindringliche Spielszenen; weil Niki Stein letztere gern in grobkörniger Optik der Siebziger dreht, gehen Original und Fälschung unmerklich ineinander über.
Gepaart mit Glanzleistungen aller Beteiligten sorgt Stammheim somit nicht nur für Authentizität, sondern etwas, das Konservative dem Film gewiss ebenso vorwerfen wie Hauff und Edel oder Margarethe von Trottas gefeiertes Ensslin-Biopic Deutschland im Herbst von 1981: völlig Neutralität. Ideologische Verbohrtheit und polizeiliche Willkür werden hier nicht gewertet, sondern geschildert. Diese Nüchternheit animiert überaus fesselnd zur eigenen Urteilskraft. Und viel mehr kann Fernsehen 2025 nicht wollen.
Das Alte ist zwar selbst für Neulinge mit Bildersturm und Drang nicht per se überflüssig, aber was seine Zeit hatte, darf gern entsorgt werden. Gerard Depardieu zum Beispiel, der wegen sexueller Gewalt zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt wurde und mit seinem Machismo hoffentlich nie wieder Flatscreen oder Leinwand verunreinigt. Thomas Gottschalks Übergriffigkeit war zwar weniger rabiat, aber dennoch antiquiert genug, um seinen Rücktritt grundsätzlich gutzuheißen.
Dass der bestenfalls mittelalte Constantin Schreiber nach nur vier Jahren die Hauptausgabe der Tagesschau verlässt, gehört eher nicht in diese Galerie. Die Kündigung der Woche allerdings schon: RTL wirft das selbstreferenzielle Eigenrecycling Du gewinnst hier nicht die Million aus dem Programm. Was vor Stefan Raabs Comeback als Majestätsbeleidigung gegolten hätte, nun aber nicht weniger ist als das Eingeständnis ins Scheitern einer Ikone an sich selbst.
Dafür spricht auch, dass sein österreichischer ESC-Beitrag Baller am Samstag nur im Mittelfeld gelandet ist. Na immerhin, könnte man sagen; zuvor besaßen deutsche Songs schließlich ein Abo auf den letzten Platz. Fast zehn Millionen Zuschauer*innen aber hatten ohnehin mehr Spaß am moderierenden Dreigestirn Hazel Brugger, Michelle Hunziker und Sandra Studer als an den Platzhirschen der Manosphere.
Wobei die ja keineswegs an Einfluss verlieren. Im Gegenteil: Sie nehmen sich mitunter sogar eigenmächtig das Recht heraus, geheime Nachrichtendienstdokumente zu veröffentlichen. Dass ein paar Fanzines die gut 1100 Seiten Verfassungsschutzbericht zum Rechtsextremismus der AfD war allerdings überfällig. So viel Transparenz muss eine Demokratie schon vertragen. Interessanter ist allerdings, dass der publizierende Cicero flächendeckend „rechts“ genannt wurde.
Jenes Magazin also, das Kulturstaatsminister Wolfram Weimer gegründet hatte. Während die Brandmauer hierzulande aber nur kokelt, steht sie andernorts längst in Flammen. Das US-Heimatschutzministerium prüft demnach die Beteiligung an einer Reality-Show, in der Einwanderer um Greencards kämpfen. Das Konzept hatte Produzent Rob Worsoff zwar auch Barack Obama angeboten. Doch erst unter Donald Trump könnten diese Hunger Games Realität werden.
Die Frischwoche
19. – 25. Mai
Kleiner Zeitsprung, gleiches Thema: Die Arte-Mediathek zeigt ab Freitag Steve McQueens Fernsehserie Little Axe. Im Anthology-Format skizziert der Oscar-Preisträger Fälle von strukturellem Rassismus im Großbritannien der 60er bis 80er Jahre. Unbedingt beeilen: Der Fünfteiler ist nur sieben Tage online. Und kleiner Ortswechsel, ähnliches Thema: Die ARD-Doku Gefängnisse der Zukunft zeigt tags zuvor online den Strafvollzug von morgen.
Damit aber zur leichteren Unterhaltung. Guy Ritchies weltumspannender Abenteuerfilm Fountain of Youth, ab Freitag bei Apple TV+ mit Natalie Portman als Schatzsucherin. Oder die Prime-Serie Motorheads um abgehängte Hillbillys im amerikanischen Rust Belt, die ihre Liebe zu alten Autos bei Laune hält. Oder Sirens auf Netflix, wo Luxusfrauen um Julianne Moore ab Donnerstag fünf Teile lang im Reichtum schwelgen. Oder aus dem England der Achtziger: Video Nasty.
Auf der Suche nach VHS-Kassetten einer real existierenden Horrorfilmreihe geraten drei Teenager sechsmal 25 Minuten in eine Mordsgeschichte, die für sie selber zum Gruseln ist. Und damit zurück in den deutschsprachigen Raum. In der ZDF-Serie Tschappel kämpfen drei Gleichaltrige um Liebe, Glück und Selbstermächtigung auf dem oberschwäbischen Dorf. Und das ist – obwohl der Achtteiler eigentlich Untertitel bräuchte – angenehm unpeinlich.
Samstag startet dann die österreichische Real-Crime-Fiction Ohne jede Spur um eine verschwundene Triathletin in der ARD-Mediathek. Und auf völlig andere Art unterhaltsam ist die dreiteilige Doku Forever Jan. Auf gleichem Portal versucht sie den haltungsstarkern Entertainer Jan Delay zu ergründen – und serviert damit ein großes Tortenstück bundesdeutscher Popkultur.
Anfang der 80er, die Bühne war Männerterrain, schaffte es eine Frauenband aus Hamburg mit vier Platten zu ein bisschen Weltruhm: Xmal Deutschland. Mehr als 40 Jahre später legt Sängerin Anja Huwe (vo., Kevin Cummins) zwei ihrer vier Platten neu auf und geht damit auf Tour. Ein Gespräch mit der 66-jährigen Künstlerin über farblosen Wave, weibliche Role Models und was ihre Malerei mit dem Sound von damals zu tun hat.
Anja Huwe, Xmal Deutschland klangen Mitte der 80er angenehm, vor allem aber angemessen düster für die damalige Zeit. Trifft das 40 Jahre später ebenso zu?
Anja Huwe: Witzigerweise habe ich die alten Sachen über lange Zeit gar nicht gehört. Warum soll ich auch meine eigenen Platten auflegen? Manuela…
Bis 1988 eure Gitarristin…
…meinte irgendwann, dass das alte Zeug auch heute noch gar nicht so schlecht klinge. Und dadurch, dass ich wir es jetzt in Den Haag und Paris live gespielt haben, hab‘ ich sie mir noch mal ganz bewusst neu angehört und war überrascht, wie strukturiert und gerade der Sound noch immer ist.
Der ist ja ohnehin zeitlos. Aber wie steht es mit der Atmosphäre eurer Alben, die in einer ungeheuer dystopischen Epoche entstanden sind, als alle dachten, entweder im Atomkrieg oder sauren Regen zu sterben?
Weil die Zeiten heute ähnlich dystopisch sind, funktioniert unsere Musik wieder richtig. Anscheinend korrespondiert sie gut mit epochalen Ängsten. Denn in den Neunzigern, als alles in Ordnung schien, hat sich niemand dafür interessiert. Dass sie jetzt besser passt, merkt man daran, wie die Leute drüber diskutieren. Das ist aber ein Phänomen, keine Absicht.
Jetzt zwei Alben und zwei Singles zu remastern…
Und zwar in den Abbey Road Studios, also ziemlich fett!
Ist das demnach nur eine Neuauflage für die Nostalgie oder auch ein Kommentar auf unsere Gegenwart?
Viel Kommentar, wenig Nostalgie. Das sieht man ja auch daran, wie viele aus der Generation TikTok sich dafür interessieren. Die Idee zur Reissue hatte ich bereits vor Corona und Trumps Wiederwahl. Wenn wir schon damals veröffentlich hätten, wäre es vermutlich irgendwie verpufft. Jetzt spürt man, dass die Leute den Sound wieder fühlen wie vor 40 Jahren.
Das merkt man auch daran, dass eure einzige Charts-Platzierung nicht 1982 war, sondern 2024 mit einer Single-Sammlung auf Platz 50.
Stimmt. Und als sie in kürzester Zeit komplett ausverkauft war, wurde uns klar, dass wir da mehr draus machen können. Das hatte natürlich auch viel mit Angebot und Nachfrage zu tun, weil es Xmal Deutschland einfach jahrzehntelang nur gebraucht zu kaufen gab. Es lag aber auch an den Bandfotos, die unglaublich reingehauen haben. Und dann haben sie ein bisschen Pingpong mit meinem Solo-Album und der neuen, alten Zeit gespielt. Da passte offenbar alles zusammen.
Fünf Frauen aus einer männerdominierten Pop-Epoche mit knallbunten hochtoupierten Haaren. Ein ikonisches Bild, das farblich interessanterweise mit deiner pointilistischen Malerei korrespondiert, die ja auch extrem bunt ist.
Auch das ist Zufall. Aber weil meine Kunst generell synästhetisch ist, Töne also Farben haben und umgekehrt, steckt dahinter vielleicht doch etwas Unterbewusstes, wer weiß. Am Ende ist alles irgendwie miteinander verbunden.
Wobei eure Musik von damals inklusive deines stakkatoartigen atonalen Gesangs wie die meisten Bandfotos etwas Schwarzweißes ausgestrahlt haben, oder?
Schon, das Farblose, Nüchterne unseres Sounds war eine bewusst gewählte Ästhetik. Ein Stilelement des gesamten Genres, dass ja im Gothic und Wave wurzelt. Deshalb hatte unsere Musik auch nichts Warmes, sie sollte eine gewisse Distanz erzeugen. Ich selber bin schließlich ein eher distanzierter Typ, bis heute. Ich bin gerne mit Menschen zusammen, aber wenn ich das Gefühl habe, mir blickt jemand zu direkt in die Seele, blocke ich ab.
Hat das was mit deiner Heimatstadt Hamburg zu tun?
Kann schon sein. Aber noch mehr mit mir als Persönlichkeit. Ich lasse mich einfach nicht gern vereinnahmen. Vielleicht auch aus der Erfahrung heraus, die du angesprochen hast: Als Frauen, fast noch Mädchen, in einer männerdominierten Branche, wurden wir, aber auch Leute wie Annette Humpe, oft an der Musik vorbei aufs Optische reduziert. Das nervte und hat vielleicht zur Abwehrhaltung geführt. Ich mache deshalb auch heute noch äußerst ungern Selfies mit Fans oder Freunden. Aber es hat uns dabei geholfen, frühzeitig klare Haltungen zu entwickeln. Bei Konzerten zum Beispiel.
Inwiefern?
Wenn die Männer dort mal Bedenken geäußert hatten, ob wir das auf der Bühne hinkriegen, haben wir halt die Verstärker aufgedreht und sie weggefegt. Das funktionierte immer.
War es 1980 denn ein bewusstes, womöglich gar feministisches Statement, mit fünf Frauen auf Bühnen zu stehen, die weitestgehend von Männern besetzt waren?
Nee, wir waren einfach Freundinnen, die gemeinsam auf Konzerten waren und irgendwann zusammen Musik gemacht haben. Deshalb kamen ja auch bald die ersten Jungs dazu. Anfangs noch als male token (lacht), aber letztlich als vollwertige Bandmitglieder. Danach waren wir halt keine Mädchenband mehr, wie viele bis dahin meist abschätzig meinten. Mir wäre am liebsten gewesen, es hätte überhaupt keine Geschlechterzuweisungen gegeben. Einfach Band. Das reicht.
In einer perfekten Welt. In einer derart unvollkommenen wie unserer damals, war es aber dennoch ein Statement. Hat es euch wenigstens zu Role Models gemacht?
Nicht mal das, glaube ich. Damals steckten wir dafür einfach zu sehr in unserer Blase und hatten schon genug damit zu tun, als Frauen zu beweisen, dass wir Instrumente beherrschen. Im Rückblick sieht man das aber natürlich ein bisschen anders. Da erscheinen wir schon wegen unserer Erfolge durchaus als Statements und Role Models. Dabei waren wir uns wirklich selbst genug damals. Andererseits passiert es bis heute, dass Männer erfolgreichen Frauen im Popgeschäft die musikalische Kompetenz absprechen oder schlimmer noch: ihren Job erklären. Je älter man wird, desto mehr nimmt man das wahr.
Haben dir diese Erfahrungen schon frühzeitig ein dickes Fell verpasst?
Eigentlich nicht. Ich bin eher vorsichtig als dickfellig. Im Moment bin ich aber vor allem dankbar, die Zeit von damals noch mal wachrufen zu können. Das ist wie ein Erbe.
Mit dir als inoffizielle Nachlassverwalterin?
Für eine Nachlassverwalterin bin ich künstlerisch zu breit aufgestellt und mein Leben lang – und vermutlich bis zum Ende – aktiv. Ich habe ja schon in der Schule gemalt und wollte auch auf die HFBK.
Die Hochschule für Bildende Kunst in Hamburg, auf der auch Leute wie Daniel Richter und Fatih Akin studiert haben.
Bin aber nicht genommen worden und habe mich auch deshalb zunächst für die Musik entschieden. Ich war immer beides. Bis heute.
Huch, es ist ein weißer, alter, heterosexueller Mann geworden! Da drängt sich doch glatt der Verdacht auf, auch sonst – politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich – gäben die Geschlechtsgenossen des neuen Papstes den Ton an. Doch kaum, dass man Pius XIV. auf seinen Konservatismus hin durchleuchtet, werden nicht nur trumpkritische Tweets des amerikanischen Stellvertreter Gottes publik. Auf seiner ersten Pressekonferenz kämpft er auch vehement für die journalistische und Rede-Freiheit in aller Welt.
Ein guter Start also für den Hirten der 1,5 Milliarden Katholiken und Katholikinnen abseits der MAGA-Blase und Faschofanclubs. Für ARD und ZDF, aber auch Privatsender und Streamingdienste, stellt sich derweil die Frage: Mit Nazis reden oder nicht? Auch nach der Entscheidung des Verfassungsschutzes, die AfD zwar rechtsextrem einzuordnen, aber nicht mehr offiziell zu nennen, wird das Zweite die Präsenz ihrer Funktionäre im Programm „überdenken“.
Das Erste dagegen will „an geeigneter Stelle“ auf deren Gesinnung hinweisen, ihre Partei aber weiterhin „abbilden“. Für ProSiebenSat.1-Chefredakteur Sven Pietsch indes ändere die Einstufung „nichts an unserer journalistischen Grundhaltung“, während RTL den Umgang mit der AfD „nicht abschließend geklärt“ habe. Gut, vorerst haben beide rein informationell ja auch genug mit der Verarbeitung des plötzlichen Todes von Naddel el-Faraq zu tun. Gibt halt wichtigeres als Faschismusgefahren.
Sofern dafür noch genügend Personal vorhanden ist. Denn ProSiebenSat1 streicht, wie unlängst publik wurde, 430 Stellen und plant Sparziele von 80 Millionen Euro – ein knallharter, vermutlich allerdings schwer vermeidbarer Einschnitt angesichts stetig sinkender Werbeeinnahmen. Aber gut Joko & Klaas gegen ProSieben (Mittwoch) oder Germany’s Next Topmodel (Donnerstag) bleiben ja Reklame-Cashcows.
Die Frischwoche
12. – 18. Mai
Ansonsten ist aus dem Süden nichts neues im Angebot der Woche zu finden. Das füllen also andere. Amazon Prime zum Beispiel mit der bemerkenswerten College-Serie Overcompensating, die ab Donnerstag oberflächlich an Highschool-Klamauk der Nullerjahre andockt. Dank einer schwulen Hauptfigur beim Überkompensieren fehlender Heterosexualität aber deutlich diverser und damit gehaltvoller ist als alle Folgen American Pie zusammen.
Ebenfalls in der Tradition vergleichbarer Fiktionen steht die Apple-Serie Murderbot tags drauf. Analog zu SciFi wie Westworld oder I, Robot spielt Alexander Skarsgård darin einen Sicherheits-Cyborg, der ein Bewusstsein entwickelt, das aber mal besser für sich behält, um nicht recycelt zu werden. Klingt drollig, ist pfiffig, vor allem aber sehr philosophisch und damit sehenswert. Wie die joyn-Mockumentary Messiah.
Florian Lukas spielt darin zeitgleich einen Ballermann-Barden, der Jahre nach seinem One-Hit-Wonder zurück ins Rampenlicht will und es dabei komplett an Selbstreflexion mangeln lässt. Schon witzig, wenngleich deutlich unterm Kotzbrocken-Niveau von Stromberg. Richtig großartig ist demgegenüber der Netflix-Sechsteiler Das Reservat um eine Kopenhagener Gated Communitiy, in der ein philippinisches Hausmädchen verschwindet und Abgründe der oberen Zehntausend Dänemarks zutage fördert.
Parallel dazu stellt die ARD das Dokudrama Stammheim in ihre Mediathek. Genau 50 Jahre nach dem Beginn der dortigen RAF-Prozesse, zeigt es ungeheuer eindringlich, wie die Gefangenen im Hochsicherheitsgefängnis agiert haben. Auf der radikal anderen Seite ideologischer Gräben blickt Sky am Donnerstag drei Teile lang aufs Nazi-Kartell, in dem der NS-Verbrecher Klaus Barbie nach seiner Flucht einen südamerikanischen Narco-Staat gründen half.
Weniger diktatorisch, aber keineswegs demokratisch geht es in der ZDF-Mediatheken-Doku Trophy Men über die Gründung der Champions League zu. Und als Abbinder für Nostalgiefans: Samstag kehrt der legendäre Anwalt Matlock mit weiblicher Besetzung 19 Folgen lang bei Sky zurück. Schon weil sie von der Oscar-Preisträgerin Kathy Bates gespielt wird, könnte das aber auch etwas für die Generationen Y bis Z sein.
Seit ihrem Welterfolg Bad Banks ist die Autorin Jana Burbach (Foto: Sucheep Homsuwan/Paramount+) in der Drehbuchbranche heiß begehrt. Warum sie sich für die Paramount-Serie Parallel Me entschieden hat und wie man realistische Mystery für Streamer schreibt, erzählt die 39-jährige Münchnerin im Interview des KNA-Mediendienst im Interview
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Jana Burbach, wenn Sie selbst einen Schal hätten, mit dem sich Tony in Ihrer Paramount-Serie Parallel Me in andere Existenzen ribbeln kann – welche wären das?
Jana Burbach: Zurzeit keine, dafür bin ich als Autorin viel zu glücklich. Früher hatte ich natürlich andere Berufswünsche, die ich auch ausprobiert habe. Schauspielerin zum Beispiel oder Regisseurin.
Keine grundsätzlich anderen Berufe allerdings wie Feuerwehrfrau oder Astronautin…
Stimmt. Aber Drehbuchschreiben, hat bei mir vor zehn Jahren am meisten geklickt. Und weil ich hier sogar erstmals das Showrunning gemacht, Musik und Kostüme ausgesucht, mit dem Cast kommuniziert, also gewissermaßen Regieaufgaben und sogar eine kleine Rolle übernommen habe, bin ich abgesehen von ein wenig Erholung gerade wunschlos glücklich.
Und dann ist die Story, mit magischer Hilfe in parallele Identitäten zu schlüpfen, auch noch mit ihrer eigenen Biografie verlinkt.
Da speist sich einiges aus meiner Geschichte, ja. Weil ich seit meiner Zeit am Theater sehr ans kreative Kollektiv glaube, ist vieles noch im Writers Room entstanden. Die Popstar-Episode hat zum Beispiel auch damit zu tun, dass meine Mutter Sängerin ist und mich diese Welt interessiert. Die Realität hat aber auch die der Produktion beeinflusst. Die Geschichte um die japanische Mutter haben wir etwa mit Malaya Stern Takeda entwickelt, nachdem sie als Toni gecastet war. Die Entwicklung war also schon sehr lebendig.
Gibt es analog zum Method Acting von Lee Strasberg also auch so etwas wie Method Writing, das vor allem aus dem Leben des Autors schöpft?
In jeder Form des fiktionalen Schreibens steckt doch irgendeine Lebenserfahrung. Von nichts kommt nichts. Das gilt aber auch für die Vorbereitung. Christian Schwochow…
Für den Sie Teile der Drehbücher zu Bad Banks verfasst haben.
… spricht von sinnlicher Recherche, die sich nicht nur aus Texten und Büchern anderer speist, sondern aus eigener Erfahrung. Um zu verstehen, wie die Leute in der Finanzbranche denken, reden, ticken, sich kleiden, haben wir bei Bad Banks eng mit einem Ex-Banker als Berater zusammengearbeitet. Ein Bank-Praktikum war leider nicht möglich. Man kann auf jeden Fall über Dinge schreiben, die man nicht selbst erlebt hat, aber man sollte dann eng mit Menschen kooperieren, die die entsprechende Lebenserfahrung haben.
Andernfalls wäre ihr Portfolio auch unmöglich gewesen. Sie haben von der Milieustudie Bad Banks bis zur Fantasy-Serie Tribes of Europa eine enorme Bandbreite! Wo ist da der rote Faden?
Das wird ja fast tiefenpsychologisch (lacht). Bei Just push Abuba und Parallel Me finden sich jedenfalls mehr Gemeinsamkeiten, weil beides auf meiner Initiative beruht, während mir alles andere angeboten wurde. Ein gemeinsamer Nenner ist Neugier. Sie geht so weit, dass ich Bad Banks ohne die geringste Ahnung vom Finanzwesen gemacht habe oder Die Heiland mit wenig Vorkenntnissen über Blindheit (lacht). Mich fasziniert das Unbekannte.
Eine weitere Gemeinsamkeit war bis auf die Netflix-Serie Tribes of Europa, dass alles öffentlich-rechtlich war. Worin bestehen die grundlegenden Unterschiede zu Streamern?
Als die neu waren, gab es eine Art Goldgräberstimmung, weil sie sehr schnell viel Content gebraucht haben. Den kompletten Produktionsauftrag zu Tribes of Europa haben wir wegen eines kurzen Pitch-Papiers bekommen. Da hieß es oft: macht einfach, los! Das ist öffentlich-rechtlich anders, wo die Entscheidungsprozesse langwieriger sind, man aber auch eine ganz andere Verantwortung trägt – für Rundfunkbeiträge des Publikums oder politische Anliegen. Dafür haben Streamer den Anspruch, auf einem heillos überfüllten Markt gut zu unterhalten. Deshalb ist auch bei denen die Goldgräberstimmung mittlerweile vorbei.
Die großer Entertainment-Konzerne Disney, Apple oder jetzt Paramount schütten ihre Plattformen auch nicht mehr mit Geld zu?
Schon vor Corona nicht mehr. Weil längst Bedenken und Vorsicht herrschen, sind wir vorläufig auch das letzte deutsche Original von Paramount+. Bei den Öffentlich-rechtlichen herrschen nochmals andere Sparzwänge und Ängste, aber es gab einfach zu schnell zu viele Streamer, da wird der Markt jetzt wieder deutlich kleiner. Die Euphorie ist ein wenig verflogen.
Bleibt die kreative Freiheit, von der häufig die Rede war, dort dennoch größer?
Ich fand nie, dass die Freiheiten dort größer waren. Die Einschränkungen sind einfach andere. Die Öffentlich-Rechtlichen kannten ihr Publikum aus langjähriger Erfahrung einfach besser und wussten ziemlich genau, was es von ihnen will. Gerade, weil die Zuschauer im Schnitt älter sind, ging es viel um gute Verständlichkeit und die richtigen Werte. Dass Die Heiland keine Kinder will, wäre bei Netflix kaum diskutiert worden. Bei ARD und ZDF überwiegt eben die Sorge, das Publikum zu überfordern, bei den Streamern hingegen, das Publikum zu langweilen. Deshalb sind die ersten 90 Sekunden dort so ungemein wichtig. Ich finde das aber auch gar nicht so schlimm.
Ach…
Je mehr sich Redakteure beider Plattformen um ihren Markt kümmern, desto besser kann ich mich um meine Geschichten kümmern. Ansonsten müsste ich die ganze Zeit nebenher Marktforschung betreiben.
Schreiben Sie den Markt und seine Zielgruppen trotzdem ein Stück weit mit?
Ich versuche hauptsächlich intuitiv und leidenschaftlich an Projekte ranzugehen. Ich will nicht zu strategisch sein oder irgendwie Dienst nach Vorschrift machen. Selbst wenn ich wie bei Bad Banks in ein bestehendes Projekt einsteige, suche ich darin Aspekte, die mich brennend interessieren.
Fühlen Sie sich von Branche, Publikum, Kritik eigentlich ausreichend wertgeschätzt?
Heutzutage eher, das hat sich in Deutschland gewandelt. Initiativen wie „Kontrakt 18“ haben dazu beigetragen, das Drehbuch als Basis von allem im Bewusstsein zu verankern. Das ist angesichts der Relationen wichtig. Eine teure Perücke kostet bei uns mitunter mehr als das erste Konzept, kein Witz. In Dänemark fließen durchschnittlich zehn Prozent des Budgets in die Drehbuchentwicklung, in Deutschland ungefähr drei. Das verstehe ich schon deshalb nicht, weil eine große Geschichte auch mit kleinem Budget gut werden kann. Umgekehrt wird das schwierig.
Könnte die relativ neue Entwicklung des Showrunnings, das zwingend am Drehbuch, aber nicht an der Regie beteiligt ist, die Relation verbessern?
Total! Showrunning bedeutet letztlich, uns Autoren zuzutrauen, Produktionsprobleme lösen zu können und die Qualität der Geschichten ins Zentrum zu rücken. Durch die vielen Außen- und Auslandsaufnahmen hatte Parallel Me gehörige Engpässe, die manchmal nur mit einer frischen Idee übers Drehbuch zu bewältigen waren.
Welche Vor- und Nachteile hat da dann das Arbeiten im Writers Room?
Zunächst sitzt man viel zusammen, damit alle die gleiche Geschichte im Kopf haben. Dann wird die Arbeit aufgeteilt – in diesem Fall jeder zwei Folgen, ich auch. Als Headautorin überarbeite ich aber auch noch die Bücher der anderen, bin also bis zuletzt verantwortlich für die Qualität des Ganzen.
Am Ende wird also nicht durch sechs geteilt?
Das Budget wird schon geteilt, aber fürs Headwriting gibt’s was obendrauf.
Hatte die Entscheidung, mit Parallel Me Mystery zu machen, eigentlich auch damit zu tun, dass sie made in germany seit Dark auch international wahnsinnig erfolgreich ist?
Ich hatte schon länger die Geschichte einer extrem wandelbaren Frau, die sich ständig anpassen muss, im Hinterkopf. Ursprünglich ging es um Wohnungsumzüge, also Neuanfänge. Weil ich Und täglich grüßt das Murmeltier so liebe, wollte ich den wiederkehrenden Tag von Phil aber in immer neue Biografien von Toni umdrehen. Ein übernatürlicher Kniff erlaubt es, existenzielle Fragen unterhaltsam zu stellen. Das war keine Marktstrategie.
Sondern?
Der Wunsch die bestmögliche Geschichte zu erzählen.
Wenn sich das Ende des Zweiten Weltkriegs heute zum 80. Mal jährt, gleicht das Fernsehgedenken irritierend genau jenem zur ähnlich alten Auschwitzbefreiung im Januar: die großen Sender zeigen business as usual und verdrängen echte Aufarbeitung in die Nische. Ein Erinnerungsüberblick am Bildschirm.
Von Jan Freitag
Der Krieg ist ein furchtbares, aber auch faszinierendes Geschäft. So wenig sich irgendjemand darin durchschlagen möchte, übt er doch einen Sog aus, der am Bildschirm geradezu kriegslüstern wirkt. Ende der Neunzigerjahre etwa, als das öffentlich-rechtliche Fernsehen förmlich überlief vor Hitlers Soldaten, Volk, Schlachten und Hofstaat. Als Chef der ZDF-Abteilung für Zeitgeschichte, ließ Guido Knopp damals reihenweise Sach- oder Spielfilme drehen, gerne in der Mischform Dokudrama. Es glich einer Sucht. Und fast alle großen Kanäle waren ihr verfallen.
Weil Abhängigkeiten jeder Art eher destruktiv sind, ist es daher zu begrüßen, dass von ARD und ZDF bis RTL und Sat1 alle geheilt sind. Auch heute ist die Zahl militärischer Stoffe demnach überschaubar. Besser: ausgerechnet heute. Denn am 8. Mai 1945 ging mit Deutschlands bedingungsloser Kapitulation der Zweite Weltkrieg zu Ende. Genau 80 Jahre später, ein Tag von epochaler Tragweite, sind sie alle nahezu frei von inhaltlicher Erinnerung an damals. Während Privatsender Interesse nicht mal heucheln, indem sie bellizistische Blockbuster zeigen, delegiert ihre öffentlich-rechtliche Konkurrenz das Gedenken in die Nische der Spartenkanäle und Dritten Programme.
Das hat System – kennzeichnet es doch ziemlich exakt die Arbeitsteilung vom 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung vor gut drei Monaten. Am Montag hat die ARD ihren Dokumentarplatz nach den Tagesthemen zwar der animierten Oral History Hitlers Volk – Ein deutsches Tagebuch 1939 bis 1945 geräumt, die als verlängerter Vierteiler in der Mediathek steht. Ansonsten aber fand nur das Volkssturm-Melodram Die Freibadclique am Mittwoch den Weg ins lineare Hauptprogramm. Und im Zweiten? Läuft ein Neoheimatfilm der Reihe Lena Lorenz, bevor es nach Mitternacht doch etwas Gedächtnisfutter gibt.
Christian Lerchs Drama Das Glaszimmer begleitet eine Kriegerwitwe und ihr Kind auf der Flucht durchs Chaos der letzten Kriegstage ins Münchner Umland – und auch das hat System. Denn wer sich das Angebot dieser Tage so anschaut, findet viele Täterperspektiven, aber kaum Opferperspektiven. Gestern etwa warf Neo mit Oliver Hirschbiegels Der Untergang und Dennis Gansels Napola anspruchsvolle, aber einseitige Blicke auf nationalsozialistische Verbrechen. Der rbb dagegen gedenkt heute fast ganztägig des 8. Mai, tut dies allerdings mit Überbetonung auf die letzten Gefechte der Reichshauptstadt.
Wenn er zwischen Kinder der Flucht (13.10 Uhr) und Nestwärme – Mein Opa, der Nationalsozialismus und ich (22.10 Uhr) in Bernhard Wickis Die Brücke (20.15 Uhr) von 1959 gipfelt, auf der es ausnahmslos um Wehrmachtseltern und Volkssturmkinder geht, wird das Dilemma des Kriegsende-Gedenkens offenkundig. Anders als am 27. Januar geht es am 8. Mai schließlich um beide Seiten – Angreifer und Angegriffene des verlustreichsten Kriegs der Geschichte. Die Täter dabei auszublenden, wäre nicht nur lückenhaft, sondern fahrlässig.
Umso mehr fällt auf, wie die linearen Regelprogramme ihren Fokus vom Objekt aufs Subjekt verschieben, also das Gegenteil ausgewogener Aufarbeitung leisten. Der WDR etwa sendet um 22.45 Uhr in der Reihe Menschen hautnah die Doku Wir Kriegskinder. Erste, nicht zweite Person Plural. Als ginge es um uns allein. Der NDR macht den Bock sogar noch ein wenig mehr zum Gärtner und zeigt das Primetime-Dokudrama Der Norden zwischen Petticoat und Spätheimkehrern. Letztere übrigens eine Lieblingszielgruppe des Erinnerungsfernsehens – gut zu beobachten am Abend im Hessischen Rundfunk.
Nach Gebaut aus Trümmern – 80 Jahre Kriegsende in Hessen um neun, begibt sich das Reportageformat Re 60 Minuten auf die Spur der kriegsgefangenen Väter. Phoenix dagegen beschränkt sich im Themenschwerpunkt Wendepunkte des Zweiten Weltkriegs auf militärstrategische Themen. Das ist legitim, aber auch angemessen? Nicht annähernd so sehr wie der dreiviertelstündige Rückblick auf Richard von Weizsäckers Bundestagsrede vor genau 40 Jahren, den der rbb leider erst 23.45 Uhr vornimmt. Dass er die Kapitulation am 8. Mai 1985 Befreiung genannt hatte, war ein Wendepunkt der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Weitere 40 Jahre später hätte sie daher ein differenzierteres Andenken verdient als heute.
Immerhin, es gibt Ausnahmen. Der MDR zeigt erst War mein Uropa ein Nazi? (22.40 Uhr) und im Anschluss Nazijäger – Reise in die Finsternis. Zuvor lässt Arte Das Urteil von Nürnberg (20.15 Uhr) von 1961 mit Spencer Tracy, Marlene Dietrich oder Burt Lancaster Revue passieren. Und dann stellt uns der BR endlich eine Zeugin der Zeit vor, die bis heute für die Opfer gegen die Täter kämpft: Beate Klarsfeld, bekannt als Nazijägerin. Leider läuft ihr Porträt Donnerstagfrüh kurz nach Mitternacht. Damit auch ja niemand zuschaltet.
Georg Restles mitunter leicht alarmistische, aber in aller Kürze hervorragend recherchierte ARD-Doku Volk in Angst zeigt eindrücklich, wie mit der Polizeilichen Kriminalstatistik Politik gemacht wird. Das wirft auch ein Schlaglicht auf die Krimi-Dichte oder Tagesschau-Berichte im deutschen Fernsehen.
Von Jan Freitag
Klima, Kriege, Wohnungsnot. Feinstaub, Armut, Zoonosen. Höcke, Putin, Donald Trump: Es gibt 1000 gute Gründe, vor dieser Zeit Angst zu haben! Warum fällt uns jetzt schon länger, ein einziger nur ein? Wer vor drei Wochen verfolgte, wie die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) das Land aufwühlt, stand womöglich kurz vor der inneren Emigration. Fürs „Rekordhoch“ angezeigter Gewaltdelikte, machten Bild und AfD schließlich vor allem die äußere Immigrationverantwortlich. Oder im Duktus populistischer Stimmungsmarodeure: Die Ausländer. Plural. Also alle?
Der haltungsstarke ARD-Journalist Georg Restle hat da seine Zweifel und prüft „Faesers Schreckensbilanz“ plus „Staatsversagen“ mal eingehend auf Populismusverdacht. Nüchtern betrachtet stieg die Zahl polizeibekannter Verdachtsfälle von gefährlicher Körperverletzung und sexualisierter Gewalt bis hin zu Mord und Totschlag tatsächlich um 1,5 Prozent. Die der Tatverdächtigen ohne deutschen Pass gar um weitere sechs Punkte. Was aber sagt beides aus? Dieser Frage geht die Monitor-Doku „Volk in Angst“ ab heute in der Mediathek nach.
Kurze, aber präzise 30 Minuten führt sie auf die Reise durch ein furchtsames, argwöhnisches, kleinmütiges Land. Es beginnt am Dortmunder Hauptbahnhof, für Blaulichtmedien „einer der gefährlichsten Deutschlands“. Die Jahresbilanz klingt ja auch happig: 764 Gewalttaten an einer eher regional als national relevanten Zugstation. Andererseits, betonen Ortskundige wie Christina Wittler von der Bahnhofsmission oder Sachkundige wie Prof. Gina Wollinger von der Polizeihochschule NRW, gelten die meisten Angriffe Obdachlosen und Drogenabhängigen, ausgerechnet denen also, die anderen Angst machen.
Aus Sicht des Freiburger Kriminologen Dietrich Oberwittler enthält die PKS also nicht nur „hohe Dunkelziffern“, sondern „systematische Verzerrungen“. Rund ein Drittel eingestellter Verfahren zum Beispiel oder die Tatsache, dass Menschen migrantischer Herkunft weitaus öfter kontrolliert und angezeigt werden als biodeutsche. Georg Restle sieht in der PKS abgekürzten Polizeistatistik somit nur einen „Arbeitsnachweis der Polizei, kein realistisches Bild“. Und das wird 500 Kilometer südlich noch deutlicher. Sigmaringen. Badisches Fachwerkidyll. 17.000 Einwohner. Alle in Selbstisolation, so scheint es.
Zwei befragte Passanten jedenfalls trauen sich vor lauter Ausländerkriminalität kaum noch raus. Die Flüchtlingsunterkunft, noch Fragen? Ein Beamter der dortigen Polizeiwache korrigiert jedoch, Straftaten gebe es nur innerhalb der Einrichtung. Jung, männlich, sozial benachteiligt, sind viele der Insassen naturgemäß gewaltaffiner als, sagen wir: ältere Anwältinnen, und damit zwar füreinander gefährlich. Für andere weniger. Was empirisch belegbar ist, müsste man halt nur noch allgemein bekannt machen. Leider geschieht das Gegenteil.
Eine Erhebung der Macromedia Hochschule Hamburg hat ergeben, wie tendenziös das Fernsehen Gewalt thematisiert. Während ein Drittel der Tatverdächtigen Nichtdeutsche sind, betrug ihr Berichtsanteil 84,7 Prozent. Selbst die Tagesschau, meint WDR-Moderator Restle, gewichte einseitig. Während der arabische Anschlag von Magdeburg Ende 2024 acht Beiträge und einen Brennpunkt nach sich zog, waren es beim deutschen von Mannheim vorigen März zwei ohne Sondersendung. Womit wir beim Untertitel von „Volk in Angst“ wären: „Wie mit Verbrechen Politik gemacht wird.“
Angst, weiß Macromedia-Professor Thomas Hestermann im SZ-Interview, „generiert Quoten, Klicks und Wählerstimmen“, sie sei also „ein Geschäftsmodell“. Und darin wirkt wenig auf abstoßendere Art anziehend als die rassistisch genährte Furcht vorm schwarzen Mann – das wusste schon der Paranoia-Dirigent Eduard Zimmermann, als er ab 1967 unterm Aktenzeichen XY reihenweise dunkler Gestalten durch hiesige Wohnstuben schickte. Dabei geschehen bis zu 60 Prozent der Tötungs- und Dreiviertel aller Sexualdelikte im „sozialen Nahfeld“, also unter Bekannten und Verwandten. Rund 100 Femizide im Jahr zeigen: die größte Gefahr für Frauen liegt nicht im Bett der nächsten Asyleinrichtung, sondern dem eigenen.
Das Risiko, fernab davon Opfer physischer Gewalt zu werden, ist ungleich kleiner als in den USA. Die Kluft zwischen Kriminalitätsrealität und ihrer Wahrnehmung hat folglich andere Ursachen – politische, kulturelle, ökonomische, psychosoziale. Und sie werden zwar medial selten erzeugt, aber nachhaltig verstärkt. Macromedia-Studien zufolge etwa dadurch, dass TV-News und -Magazine bereits 2017 doppelt so häufig über Gewaltverbrechen berichtet hatten als zehn Jahre zuvor und 2023 den nächsten Höchstwert erreichten.
Deutschland, sagt Thomas Hestermann, „ist eins der sichersten Länder der Welt“, aber seine Bevölkerung „geradezu angstsüchtig“. Im Sog des sprachlichen Exportschlagers german angst fluten uns Mediatheken, Podcasts, Buchgeschäfte mit „leichtem Grusel“ popkultureller Real und Fake Crime. Allein der Tatort zählt surreale 2,3 Todesopfer pro Fall. Im Rekordjahr 2014 waren es gar 150 von bis zu 2000 Tötungsdelikten, die Fachleute Jahr für Jahr am Bildschirm zählen – das Dreifache der aktuell 668 Fälle, die ihrerseits einen Bruchteil des Höchstwerts von 1993 darstellen.
Die Sorge, Opfer einer Straftat zu werden, das misst die Versicherung R & V seit langem, geht zwar kontinuierlich zurück. Von vier Fünfteln der Deutschen 1990 auf derzeit 20 Prozent. Für den Freiburger Kriminologen Hans-Jörg Albrecht „nimmt das subjektive Sicherheitsempfinden“ abgesehen von einer „Beule im Zuge von Angela Merkels Flüchtlingspolitik nach 2015“ tendenziell sogar zu. Parallel aber beeinflusst die Menge publizistisch verabreichter Verbrechen gepaart mit der fear mongering genannten Panikmache manipulativer Medien das kollektive Sicherheitsempfinden.
„Je mehr Konsum, desto mehr Kriminalität“ – auf die Formel bringt Albrecht auf SZ-Anfrage den Zusammenhang von echter und verbreiteter Verbrechensdichte. Im Rahmen seiner Kultivationshypothese, wonach ein Übermaß an Fernsehen individuelle Weltbilder prägt, sprach der Kommunikationsforscher George Gerbner schon vor 50 Jahren vom Mean World Syndrome. Dem Gefühl einer feindseligen, gefährlichen Welt dank zu viel Bildschirmgewalt also, die der Doomscrolling genannte Hang des Digitalzeitalters, schlechte Nachrichten durch noch schlechtere zu bestätigen, weiter verstärkt.
Während die Aufklärungsquote handelsüblicher Krimis nahe 100 Prozent gepaart mit dem „CSI-Effekt“ unfehlbarer Forensik das Publikum in Sicherheit wiegt, müssen die Verbrechen von Nordic Noir bis Real Crime somit immer blutiger werden. „Heute brauchst du schon einen Toten mit krassem Hintergrund, damit es gekauft wird“, sagt ein Essener Polizeireporter in Restles Reportage über sein Metier. „Mord und Totschlag führen zu Emotionen, Spannung, Aufregung“, pflichtet Fernsehforscher Albrecht bei. „Langwierige Ausführungen zu CumEx-Geschäften eher nicht“. Es sei denn, die Täter wären Geflüchtete.
Wie herum die Welt rotiert, hängt von der Perspektive ab, aber weil es gegen den Uhrzeigersinn erfolgt, tendiert die Astronomie zum Linksdrall. Politisch dagegen hat sie seit geraumer Zeit definitiv Rechtsdrall, zuletzt auch in Deutschland. Hier gilt seit Freitag nicht nur die zweitstärkste Bundestagsfraktion als gesichert extremistisch; auch die erststärkste kippt weit nach rechts, in dem sie Wolfram Weimer zum Kulturstaatsminister ernennt.
Wer ihn nicht kennt: ausgebildet bei FAZ und Welt, hat der wertkonservative Publizist den nationalliberalen Cicero mit aufgebaut und wurde parallel als Blut-und-Boden-Ideologe verhaltensauffällig, der von biologischer Selbstaufgabe faselt und damit nur knapp vorm Umvolkungsvokabular verharrt. Als Opern-Fan ohne Feuilleton-Kenntnisse fehlt ihm allerdings vor allem jeder praktische oder auch nur theoretische Bezug zur Popkultur, von Alternativkultur ganz zu schweigen.
Kein Wunder also, dass der elitäre Zyniker Ulf Poschardt Wolfram Weimer als Heilsbringer feiert, der den „links-grün-versifften“ Kulturbetrieb mal ordentlich durchkärchert. Ob er das tut, bleibt jedoch abzuwarten. Als Journalist ist er zumindest auf dem medialen Standbein seines neuen Ressorts trittsicher. Und so, wie der Kulturbetrieb gegen ihn auf die Barrikaden geht, könnte er sich durchaus zur Kompromissfähigkeit genötigt fühlen.
Rechte Säuberungsaktionen à la Polen, Ungarn, USA stehen daher nicht zu befürchten, im Gegenteil: Weimer lobt pflichtschuldig die Vielfalt der Kulturlandschaft und setzt sich womöglich für publizistische Mehrwertsteuerbefreiung ein. Das wäre schon deshalb nötig, da der Jahresbericht der Reporters sans frontières Alarm schlägt: Erstmals seit Jahrzehnten lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Staaten mit ernsthaft bedrohter Pressefreiheit.
Die USA – deren Führer nun auch Filme mit Zöllen belegt – sind auf Platz 57 abgerutscht, Argentinien auf 87. Als 11. steht Deutschland zwar noch gut da, aber gehörig unter Druck. Und zwar nicht nur von rechts, sondern wirtschaftlich – grasen die (a)sozialen Netzwerke doch längst fast alle Anzeigen und Aufmerksamkeit redaktionell betreuter Medien ab.
Die Frischwoche
5. – 11. Mai
Im Licht dieser Art Fortschrittsbacklash lohnt sich ein Blick auf Sowjet Jeans, aber Donnerstag in der Arte-Mediathek. 1979 vertreibt der lettische Kostümbildner Renars illegal Westwaren und hält sich den KGB mit halbherziger Spitzelarbeit vom Leib – bis er eine Regisseurin seines Theaters auskundschaften soll, in die er sich verliebt hat. Als der systemkritische Filou daraufhin in der Psychiatrie landet, entspinnt sich eine achtteilige Politgroteske, die zugleich tonnenschwer und federleicht ist.
Das gilt auf zoologischer Ebene auch für die Prime-Doku Octopus! Aus dem Off präsentiert von der hinreißenden Phoebe Waller-Bridge, erzählt uns der Zweiteiler zeitgleich das bizarre Leben wandlungsfähiger Tintenfische – was einerseits zum Niederknien originell ist. Andererseits aber auch auf die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage durch die destruktivste aller Arten verweist: Der Mensch.
Teil einer Spezies, die unfassbare Zerstörungen betreibt wie den Zweiten Weltkrieg, dessen Ende sich ebenfalls am Donnerstag zum 80. Mal jährt. Und wie es sich gehört, ist das lineare Fernsehprogramm voller Gedenk… ach nee: ARD und ZDF ignorieren das historische Datum ebenso wie die großen Privatsender nahezu komplett und delegieren es in die Nische der Spartenkanäle. Heute immerhin stellt das Erste die vierteilige Tagebuch-Animation Hitlers Volk online. Insgesamt aber erinnert der vergessene Sendeauftrag schwer an den 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung.
Man könnte also mutmaßen, der ÖRR würde sich dieser Tage halt eher um Fiktionen bemühen. Tut er aber nicht. Denn während die hochinteressante Horror-Psychose Insomnia um eine Frau, die wie ihre Mutter am 40. Geburtstag aufhört zu schlafen, am Freitag bei Paramount+ startet, läuft das originellste Format der Woche bei Amazon Prime. In Drunter und Drüber versucht die Belegschaft eines Wiener Friedhofs die drohende Schließung abzuwenden.
Das ist nach etwas zähem Auftakt am Freitag sieben Teile lang nicht nur auf morbide Art unterhaltsam; Nicolas Ofczareks Erbsenzähler, dem das Amt einen Freigeist (Julia Jentsch) als neue Chefin vorsetzt, ist auch ein drolliger Rollentausch ihrer Zusammenarbeit in Der Pass. Ein letzter Tipp noch: tags zuvor werden Max & Joy, also Herre & Denalane drei Teile lang in der ARD-Mediathek porträtiert.