Volk in Angst: Kriminalstatistik & Krimis

Die Panikmacher

Georg Restles mitunter leicht alarmistische, aber in aller Kürze hervorragend recherchierte ARD-Doku Volk in Angst zeigt eindrücklich, wie mit der Polizeilichen Kriminalstatistik Politik gemacht wird. Das wirft auch ein Schlaglicht auf die Krimi-Dichte oder Tagesschau-Berichte im deutschen Fernsehen.

Von Jan Freitag

Klima, Kriege, Wohnungsnot. Feinstaub, Armut, Zoonosen. Höcke, Putin, Donald Trump: Es gibt 1000 gute Gründe, vor dieser Zeit Angst zu haben! Warum fällt uns jetzt schon länger, ein einziger nur ein? Wer vor drei Wochen verfolgte, wie die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) das Land aufwühlt, stand womöglich kurz vor der inneren Emigration. Fürs „Rekordhoch“ angezeigter Gewaltdelikte, machten Bild und AfD schließlich vor allem die äußere Immigrationverantwortlich. Oder im Duktus populistischer Stimmungsmarodeure: Die Ausländer. Plural. Also alle?

Der haltungsstarke ARD-Journalist Georg Restle hat da seine Zweifel und prüft „Faesers Schreckensbilanz“ plus „Staatsversagen“ mal eingehend auf Populismusverdacht. Nüchtern betrachtet stieg die Zahl polizeibekannter Verdachtsfälle von gefährlicher Körperverletzung und sexualisierter Gewalt bis hin zu Mord und Totschlag tatsächlich um 1,5 Prozent. Die der Tatverdächtigen ohne deutschen Pass gar um weitere sechs Punkte. Was aber sagt beides aus? Dieser Frage geht die Monitor-Doku „Volk in Angst“ ab heute in der Mediathek nach.

Kurze, aber präzise 30 Minuten führt sie auf die Reise durch ein furchtsames, argwöhnisches, kleinmütiges Land. Es beginnt am Dortmunder Hauptbahnhof, für Blaulichtmedien „einer der gefährlichsten Deutschlands“. Die Jahresbilanz klingt ja auch happig: 764 Gewalttaten an einer eher regional als national relevanten Zugstation. Andererseits, betonen Ortskundige wie Christina Wittler von der Bahnhofsmission oder Sachkundige wie Prof. Gina Wollinger von der Polizeihochschule NRW, gelten die meisten Angriffe Obdachlosen und Drogenabhängigen, ausgerechnet denen also, die anderen Angst machen.

Aus Sicht des Freiburger Kriminologen Dietrich Oberwittler enthält die PKS also nicht nur „hohe Dunkelziffern“, sondern „systematische Verzerrungen“. Rund ein Drittel eingestellter Verfahren zum Beispiel oder die Tatsache, dass Menschen migrantischer Herkunft weitaus öfter kontrolliert und angezeigt werden als biodeutsche. Georg Restle sieht in der PKS abgekürzten Polizeistatistik somit nur einen „Arbeitsnachweis der Polizei, kein realistisches Bild“. Und das wird 500 Kilometer südlich noch deutlicher. Sigmaringen. Badisches Fachwerkidyll. 17.000 Einwohner. Alle in Selbstisolation, so scheint es.

Zwei befragte Passanten jedenfalls trauen sich vor lauter Ausländerkriminalität kaum noch raus. Die Flüchtlingsunterkunft, noch Fragen? Ein Beamter der dortigen Polizeiwache korrigiert jedoch, Straftaten gebe es nur innerhalb der Einrichtung. Jung, männlich, sozial benachteiligt, sind viele der Insassen naturgemäß gewaltaffiner als, sagen wir: ältere Anwältinnen, und damit zwar füreinander gefährlich. Für andere weniger. Was empirisch belegbar ist, müsste man halt nur noch allgemein bekannt machen. Leider geschieht das Gegenteil.

Eine Erhebung der Macromedia Hochschule Hamburg hat ergeben, wie tendenziös das Fernsehen Gewalt thematisiert. Während ein Drittel der Tatverdächtigen Nichtdeutsche sind, betrug ihr Berichtsanteil 84,7 Prozent. Selbst die Tagesschau, meint WDR-Moderator Restle, gewichte einseitig. Während der arabische Anschlag von Magdeburg Ende 2024 acht Beiträge und einen Brennpunkt nach sich zog, waren es beim deutschen von Mannheim vorigen März zwei ohne Sondersendung. Womit wir beim Untertitel von „Volk in Angst“ wären: „Wie mit Verbrechen Politik gemacht wird.“

Angst, weiß Macromedia-Professor Thomas Hestermann im SZ-Interview, „generiert Quoten, Klicks und Wählerstimmen“, sie sei also „ein Geschäftsmodell“. Und darin wirkt wenig auf abstoßendere Art anziehend als die rassistisch genährte Furcht vorm schwarzen Mann – das wusste schon der Paranoia-Dirigent Eduard Zimmermann, als er ab 1967 unterm Aktenzeichen XY reihenweise dunkler Gestalten durch hiesige Wohnstuben schickte. Dabei geschehen bis zu 60 Prozent der Tötungs- und Dreiviertel aller Sexualdelikte im „sozialen Nahfeld“, also unter Bekannten und Verwandten. Rund 100 Femizide im Jahr zeigen: die größte Gefahr für Frauen liegt nicht im Bett der nächsten Asyleinrichtung, sondern dem eigenen.

Das Risiko, fernab davon Opfer physischer Gewalt zu werden, ist ungleich kleiner als in den USA. Die Kluft zwischen Kriminalitätsrealität und ihrer Wahrnehmung hat folglich andere Ursachen – politische, kulturelle, ökonomische, psychosoziale. Und sie werden zwar medial selten erzeugt, aber nachhaltig verstärkt. Macromedia-Studien zufolge etwa dadurch, dass TV-News und -Magazine bereits 2017 doppelt so häufig über Gewaltverbrechen berichtet hatten als zehn Jahre zuvor und 2023 den nächsten Höchstwert erreichten.

Deutschland, sagt Thomas Hestermann, „ist eins der sichersten Länder der Welt“, aber seine Bevölkerung „geradezu angstsüchtig“. Im Sog des sprachlichen Exportschlagers german angst fluten uns Mediatheken, Podcasts, Buchgeschäfte mit „leichtem Grusel“ popkultureller Real und Fake Crime. Allein der Tatort zählt surreale 2,3 Todesopfer pro Fall. Im Rekordjahr 2014 waren es gar 150 von bis zu 2000 Tötungsdelikten, die Fachleute Jahr für Jahr am Bildschirm zählen – das Dreifache der aktuell 668 Fälle, die ihrerseits einen Bruchteil des Höchstwerts von 1993 darstellen.

Die Sorge, Opfer einer Straftat zu werden, das misst die Versicherung R & V seit langem, geht zwar kontinuierlich zurück. Von vier Fünfteln der Deutschen 1990 auf derzeit 20 Prozent. Für den Freiburger Kriminologen Hans-Jörg Albrecht „nimmt das subjektive Sicherheitsempfinden“ abgesehen von einer „Beule im Zuge von Angela Merkels Flüchtlingspolitik nach 2015“ tendenziell sogar zu. Parallel aber beeinflusst die Menge publizistisch verabreichter Verbrechen gepaart mit der fear mongering genannten Panikmache manipulativer Medien das kollektive Sicherheitsempfinden.

„Je mehr Konsum, desto mehr Kriminalität“ – auf die Formel bringt Albrecht auf SZ-Anfrage den Zusammenhang von echter und verbreiteter Verbrechensdichte. Im Rahmen seiner Kultivationshypothese, wonach ein Übermaß an Fernsehen individuelle Weltbilder prägt, sprach der Kommunikationsforscher George Gerbner schon vor 50 Jahren vom Mean World Syndrome. Dem Gefühl einer feindseligen, gefährlichen Welt dank zu viel Bildschirmgewalt also, die der Doomscrolling genannte Hang des Digitalzeitalters, schlechte Nachrichten durch noch schlechtere zu bestätigen, weiter verstärkt.

Während die Aufklärungsquote handelsüblicher Krimis nahe 100 Prozent gepaart mit dem „CSI-Effekt“ unfehlbarer Forensik das Publikum in Sicherheit wiegt, müssen die Verbrechen von Nordic Noir bis Real Crime somit immer blutiger werden. „Heute brauchst du schon einen Toten mit krassem Hintergrund, damit es gekauft wird“, sagt ein Essener Polizeireporter in Restles Reportage über sein Metier. „Mord und Totschlag führen zu Emotionen, Spannung, Aufregung“, pflichtet Fernsehforscher Albrecht bei. „Langwierige Ausführungen zu CumEx-Geschäften eher nicht“. Es sei denn, die Täter wären Geflüchtete.



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