80. Jahre Kriegsende: Gedenken & Verdrängen

Opfer nach Mitternacht

Wenn sich das Ende des Zweiten Weltkriegs heute zum 80. Mal jährt, gleicht das Fernsehgedenken irritierend genau jenem zur ähnlich alten Auschwitzbefreiung im Januar: die großen Sender zeigen business as usual und verdrängen echte Aufarbeitung in die Nische. Ein Erinnerungsüberblick am Bildschirm.

Von Jan Freitag

Der Krieg ist ein furchtbares, aber auch faszinierendes Geschäft. So wenig sich irgendjemand darin durchschlagen möchte, übt er doch einen Sog aus, der am Bildschirm geradezu kriegslüstern wirkt. Ende der Neunzigerjahre etwa, als das öffentlich-rechtliche Fernsehen förmlich überlief vor Hitlers Soldaten, Volk, Schlachten und Hofstaat. Als Chef der ZDF-Abteilung für Zeitgeschichte, ließ Guido Knopp damals reihenweise Sach- oder Spielfilme drehen, gerne in der Mischform Dokudrama. Es glich einer Sucht. Und fast alle großen Kanäle waren ihr verfallen.

Weil Abhängigkeiten jeder Art eher destruktiv sind, ist es daher zu begrüßen, dass von ARD und ZDF bis RTL und Sat1 alle geheilt sind. Auch heute ist die Zahl militärischer Stoffe demnach überschaubar. Besser: ausgerechnet heute. Denn am 8. Mai 1945 ging mit Deutschlands bedingungsloser Kapitulation der Zweite Weltkrieg zu Ende. Genau 80 Jahre später, ein Tag von epochaler Tragweite, sind sie alle nahezu frei von inhaltlicher Erinnerung an damals. Während Privatsender Interesse nicht mal heucheln, indem sie bellizistische Blockbuster zeigen, delegiert ihre öffentlich-rechtliche Konkurrenz das Gedenken in die Nische der Spartenkanäle und Dritten Programme.

Das hat System – kennzeichnet es doch ziemlich exakt die Arbeitsteilung vom 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung vor gut drei Monaten. Am Montag hat die ARD ihren Dokumentarplatz nach den Tagesthemen zwar der animierten Oral History Hitlers Volk – Ein deutsches Tagebuch 1939 bis 1945 geräumt, die als verlängerter Vierteiler in der Mediathek steht. Ansonsten aber fand nur das Volkssturm-Melodram Die Freibadclique am Mittwoch den Weg ins lineare Hauptprogramm. Und im Zweiten? Läuft ein Neoheimatfilm der Reihe Lena Lorenz, bevor es nach Mitternacht doch etwas Gedächtnisfutter gibt.

Christian Lerchs Drama Das Glaszimmer begleitet eine Kriegerwitwe und ihr Kind auf der Flucht durchs Chaos der letzten Kriegstage ins Münchner Umland – und auch das hat System. Denn wer sich das Angebot dieser Tage so anschaut, findet viele Täterperspektiven, aber kaum Opferperspektiven. Gestern etwa warf Neo mit Oliver Hirschbiegels Der Untergang und Dennis Gansels Napola anspruchsvolle, aber einseitige Blicke auf nationalsozialistische Verbrechen. Der rbb dagegen gedenkt heute fast ganztägig des 8. Mai, tut dies allerdings mit Überbetonung auf die letzten Gefechte der Reichshauptstadt.

Wenn er zwischen Kinder der Flucht (13.10 Uhr) und Nestwärme – Mein Opa, der Nationalsozialismus und ich (22.10 Uhr) in Bernhard Wickis Die Brücke (20.15 Uhr) von 1959 gipfelt, auf der es ausnahmslos um Wehrmachtseltern und Volkssturmkinder geht, wird das Dilemma des Kriegsende-Gedenkens offenkundig. Anders als am 27. Januar geht es am 8. Mai schließlich um beide Seiten – Angreifer und Angegriffene des verlustreichsten Kriegs der Geschichte. Die Täter dabei auszublenden, wäre nicht nur lückenhaft, sondern fahrlässig.

Umso mehr fällt auf, wie die linearen Regelprogramme ihren Fokus vom Objekt aufs Subjekt verschieben, also das Gegenteil ausgewogener Aufarbeitung leisten. Der WDR etwa sendet um 22.45 Uhr in der Reihe Menschen hautnah die Doku Wir Kriegskinder. Erste, nicht zweite Person Plural. Als ginge es um uns allein. Der NDR macht den Bock sogar noch ein wenig mehr zum Gärtner und zeigt das Primetime-Dokudrama Der Norden zwischen Petticoat und Spätheimkehrern. Letztere übrigens eine Lieblingszielgruppe des Erinnerungsfernsehens – gut zu beobachten am Abend im Hessischen Rundfunk.

Nach Gebaut aus Trümmern – 80 Jahre Kriegsende in Hessen um neun, begibt sich das Reportageformat Re 60 Minuten auf die Spur der kriegsgefangenen Väter. Phoenix dagegen beschränkt sich im Themenschwerpunkt Wendepunkte des Zweiten Weltkriegs auf militärstrategische Themen. Das ist legitim, aber auch angemessen? Nicht annähernd so sehr wie der dreiviertelstündige Rückblick auf Richard von Weizsäckers Bundestagsrede vor genau 40 Jahren, den der rbb leider erst 23.45 Uhr vornimmt. Dass er die Kapitulation am 8. Mai 1985 Befreiung genannt hatte, war ein Wendepunkt der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Weitere 40 Jahre später hätte sie daher ein differenzierteres Andenken verdient als heute.

Immerhin, es gibt Ausnahmen. Der MDR zeigt erst War mein Uropa ein Nazi? (22.40 Uhr) und im Anschluss Nazijäger – Reise in die Finsternis. Zuvor lässt Arte Das Urteil von Nürnberg (20.15 Uhr) von 1961 mit Spencer Tracy, Marlene Dietrich oder Burt Lancaster Revue passieren. Und dann stellt uns der BR endlich eine Zeugin der Zeit vor, die bis heute für die Opfer gegen die Täter kämpft: Beate Klarsfeld, bekannt als Nazijägerin. Leider läuft ihr Porträt Donnerstagfrüh kurz nach Mitternacht. Damit auch ja niemand zuschaltet.



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