Dayanir & Hellwig: Casting & Chabos

Wenn’s klappt – geil!

Phillis Dayanir und Johanna Hellwig casten seit 2016 gemeinsam von Pilcher bis Tatort nahezu das gesamte TV-Repertoire, aber die ZDF-Serie Chabos ist ihr personalpolitisches Meisterstück. Ein Gespräch übers hintergründig bedeutsame Besetzungsfach und wie man darin Kostendruck mit Qualitätsanspruch verbindet.

 

Von Jan Freitag

Phillis Dayanir, Johanna Hellwig, für die ZDF-Serie Chabos mussten Sie acht Hauptfiguren als Teenager und Erwachsene besetzen. Wie findet man die Balance zwischen äußerlicher Übereinstimmung und schauspielerischer Eignung?

Johanna Hellwig: Bei der Besetzung spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: das Temperament einer Figur, ihre Dynamik im Ensemble, die äußere Erscheinung. Optik und Inhalt können unterschiedliche Geschichten erzählen – oder gemeinsam die eine stützen. Gerade bei dieser Serie war es von Anfang an entscheidend, dass die Zuschauer*innen junge und ältere Besetzung sofort als dieselbe Figur wahrnehmen und sich mit ihnen identifizieren können.

Phillis Dayanir: Und genau da entstehen bei Bauchmenschen wie mir früh konkrete Bilder der Darsteller*innen im Kopf, die ihrer Figur auch inhaltlich entsprechen. Da in der Serie die Rolle des erwachsenen Peppi eine zentrale Begleitfigur der jungen Chabos ist, haben wir sie als erste besetzt. Danach haben wir das Jugendcasting gestartet. Weil die Feinjustierung meistens parallel erfolgt, kamen die erwachsenen Schauspieler allerdings gedanklich schnell dazu.

Ist Ihre Kartei da bereits nach Ähnlichkeiten mit Älteren oder Jüngeren vorsortiert?

Dayanir: Nein, sowas gibt es bei uns nicht. Mit jedem neuen Projekt gehen wir bei der Suche nach Übereinstimmungen wie Trüffelschweine in die Wühlarbeit.

Kommt da bei Ihnen bereits eine KI zum Einsatz?

Hellwig: Für thematische Recherchen nutzen wir digitalen Tools schon, im eigentlichen Castingprozess aber nicht. Wir sind neuen Technologien gegenüber offen, vertrauen wir aber weiterhin stark auf unsere eigene Kreativität und Erfahrung.

Wie ist Ihre Wahl da auf die jungen Chabos Nico Marischka, Jonathan Kriener, Loran Alhasan, Arsseni Bultmann und die erwachsenen Johannes Kienast, David Schütter, Max Mauff und Erol Afsin gefallen?

Dayanir: Recherche, Recherche, Recherche. Sichtungen, Vorbesprechungen und Nachbesprechungen untereinander mit Regie, den Produzentinnen und unserer tollen ZDF-Redakteurin Kristl Philippi, viele Impulse wahrnehmen, aber eben auch Erfahrung. Für die jüngere Besetzung haben wir unterschiedlichste Wege eingeschlagen, um neue Talente zu finden.

Wobei besonders die Regie vermutlich keine Lust auf acht socialmedia-gecastete Anfänger am Set hat…

Hellwig: Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch waren zum Glück sehr offen und angstfrei was junge, unerfahrenere Spieler*innen betrifft, auch bezüglich Social-Media-Talenten. Wenn jemand gut spielt und sich die Rolle zu eigen macht, bekommt er eine Chance – egal mit welchem Background.

Dayanir: Und immerhin zwei der vier Jungs hatten vorher ein wenig Dreherfahrung. Ähnlich wie die Darsteller*innen mit großer Social-Media-Präsenz, die ihren Platz im Ensemble sehr gut gefunden haben.

Gibt die Produktion dem Casting darüber hinaus Aufträge mit auf den Besetzungsweg – Stars und Influencer zum Beispiel?

Dayanir: Die Kombination aus neuen Talenten und prominenter Besetzung war von allen Seiten gewünscht. Das hat uns aber keinesfalls kreativ eingeschränkt, im Gegenteil, unsere BBC-Produzentinnen und die ZDF-Redaktion haben uns alle Freiheit gelassen und eine schöne Arbeitsatmosphäre geschaffen. Wir konnten uns vielmehr mit Vorschlägen aus den unterschiedlichsten Themenfeldern austoben.

Hellwig: Allein die Thematik der 2000er hat hier ein großes Feld der Referenzen und Easter Eggs in den Besetzungsvorschlägen geöffnet.

Denken Sie beim Casting auch als Talentscouts mit dem Ziel, Nachwuchs aufzubauen?

Dayanir: Klar, Talente ausfindig zu machen, ist ein wunderschönes Gefühl. Vor allem, weil wir so nicht nur Rollen besetzen, sondern Menschen auf ihrem Weg begleiten dürfen und das macht diesen Beruf besonders erfüllend.

Hellwig: Wir bleiben neugierig. Ob auf der Straße, im Theater oder bei Vorsprechen von Absolvent*innen. Manchmal ist da genau dieser eine Moment, in dem der Funke überspringt.

Wächst der Bedarf nach Laien statt Profis auch deshalb, weil sie unterm Kostendruck sinkender Budgets einfach billiger sind?

Hellwig: Die Frage ist, ob man an der Besetzung von Talenten mit weniger Erfahrung am Ende wirklich spart. Unerfahrenheit sein kann vielleicht weniger Gage, dafür aber mehr Betreuungs- und Drehzeit erfordern. Deshalb sollte die Neugier aufs Talent immer dessen Beitrag zur Geschichte dienen, nicht dem Etat.

Dayanir: Schließlich haben auch die Großen alle klein angefangen – jemand hat ihnen die erste Chance gegeben, gesehen zu werden. Dennoch ist knappe Kalkulation für jedes, also auch unser Gewerk immer eine Herausforderung.

Führt die dazu, dass Community Casting zunimmt, also die Besetzung mit Laien wie bei der Weiße Hai, wo bis auf sieben Profis der gesamte Cast vom Drehort stammte?

Hellwig: Laien zu besetzen hat Vor- und Nachteile. Oft fühlen sie sich in ihrer bekannten Umgebung wohl und können die Rollen natürlich ausfüllen; das bringt manchmal das gewisse Etwas. Anderseits ist Community Casting meist zeitaufwendiger und damit kostenintensiver.

Dayanir: Um Vertrauen aufzubauen, haben die jungen Chabos vor und während des Drehs in einer WG gewohnt und sind so Freunde geworden, was in ihr Zusammenspiel eingezahlt hat. Auch auf diese zwischenmenschlichen Töne muss man im Castingprozess achten. Wir suchen natürliche Dynamik zwischen den Rollen, die soziale Beziehungen lebendig werden lässt.

Suchen Sie bei der Besetzung junger Figuren auch das erwachsene Potenzial oder reicht zunächst ihre Eignung fürs aktuelle Alter?

Dayanir: Da stecke ich tief im Hier und Jetzt. Gerade bei Jungschauspieler*innen ist schwer vorherzusagen, wie sie sich vom Teenager- ins Erwachsenenalter entwickeln. Und ob sie den Beruf überhaupt dauerhaft ausüben wollen.

Hellwig: Schauspielagent*innen haben hier natürlich einen anderen Ansatz. Man hat die langfristige Agenda im Blick, da sie die Karriere ihrer Klient*innen aktiv fördern. Trotzdem sind wir auch als Caster*innen Fans der ersten Stunde und freuen uns über jeden neuen Erfolg der Spieler*innen.

Ist Unerfahrenheit bei Nachwuchsschauspielerin eher hinderlich oder sogar förderlich, weil sie impulsive, unverbildete Lockerheit mit sich bringt?

Hellwig: Eher letzteres. Besonders Kinder können unglaubliche Freiheit im Spiel mitbringen. Dabei ist es aber auch wichtig, dass sie sich beim Casting und am Set sicher fühlen.

Dayanir: Bei Nachwuchsschauspielenden kommt vieles – je nach Rolle – ja aus dem Inneren des Seins. Das ist ein tolles Potenzial, das aber auch einzuordnen ist und manchmal einzufangen gilt. Diese Aufgabe ist im Castingprozess auch schon von großer Bedeutung.

Jetzt haben wir viel über die Besetzung Unbekannter gesprochen. Wie bringt man denn Prominente wie Anke Engelke dazu, bei Chabos eine Nebenrolle zu spielen?

Dayanir: Bei spannenden Stoffen und starken Drehbüchern ist die Rollengröße nicht immer ausschlaggebend, es geht vielmehr um die Qualität der Rolle an sich und im Ensemble.

Sofern man sich traut, sie überhaupt dafür anzusprechen.

Dayanir: Fragen kostet nichts. Das Budget ist zwar nie außen vor, aber unser Ansatz immer zuerst ein kreativer.

Hellwig: Wir kennen Anke Engelke schon durch andere Projekte, was erste Schritte erleichtert. Aber selbst, wenn man sich nicht kennen würde, zeigt die Freundlichkeit in der Kommunikation auch bei anderen bekannten Namen seitens der Managements oder Agenturen, wie respektvoll der Umgang insgesamt ist.

Kann man den Casting-Prozess von Drehbuch bis Drehschluss in einen Satz fassen?

Dayanir: Nach Bewerbung, Drehbuch, Kennenlernen, vergleicht man gemeinsame Visionen, recherchiert, recherchiert, recherchiert, sichtet und kombiniert aufgrund intensiver Gespräche die Favoriten nach E- und Live-Castings zum Ensemble.

Hellwig: Das bei Chabos aus circa 60 Sprechrollen bestand.

Oha!

Beide (lachend): Oh ja!

Ist Ihre Arbeit mit dem ersten Drehtag dann beendet?

Hellwig: Im besten Fall sogar ein paar Wochen vorher, um Regie, Maske, Kostüm die Gelegenheit zu geben, genügend Zeit für ihre Vorbereitung mit den Schauspieler*innen zu haben. Weil es immer mal zu Umbesetzungen kommen kann, sind wir aber auch während des Drehs on hold. Präsent zu sein ist für uns einfach wichtig.

Dayanir: Wir befinden uns auch sonst später immer wieder im Austausch mit Regie und Produktion, Set-Besuche inklusive.

Unterscheidet sich all das eigentlich zwischen Pilcher, Tatort oder Chabos?

Dayanir: Leidenschaft und Intensität in der Besetzung sind überall gleich groß. Was sich unterscheidet, ist der Rahmen: Manche Prozesse sind komplexer oder nehmen mehr Zeit in Anspruch, doch das Herzblut bleibt überall dasselbe.

Hellwig: Projekte unterscheiden sich generell durch ihre Besetzungen hinter der Kamera. Jede Regie, jede Produktion, jeder Sendeplatz, Sender, Streamer, Kinorelease und Stoff, hat andere Anforderungen, auf die man sich neu einlassen muss. Aber genau das ist schön, spannend und fordernd an unserem Beruf.

Wie oft gibt es zwischen Standard und Abweichung da Perfect Matches?

Hellwig: Der Anspruch ist zunächst natürlich immer das absolute Perfect Match, der Wunsch so nah wie möglich ranzukommen ist immer da. Und wenn’s klappt – geil!

Dayanir: Für mich führt der Magic Moment zum Perfect Match, eine Energie im Raum, die Verbindungen zwischen den Spieler*innen, die Impulse durch die Regie. Wer das spüren will, sollte unbedingt Chabos streamen, solche Augenblicke sind das Herz unserer Arbeit.


Helge Schneider: Katzeklo & Klimperclown

Cello im Ruhrpottkeller

Helge Schneider ist gerade 70 Jahre alt geworden, von denen er Dreiviertel auf der Bühne steht. Die ARD hat ihm dazu ein selbstgemaltes Geburtstagsporträt gewidmet. Und The Klimperclown ist, nun ja, so sehr Helge Schneider, wie es gerade noch zu ertragen ist. Also absolut aberwitzig. Und großartig.

Von Jan Freitag

Um das Phänomen des kuriosesten aller deutschen Komiker zu verstehen, muss man kurz auf Zeitreise nach Kiel gehen. In seiner 121-jährigen Geschichte hat das Studio am Dreiecksplatz schon viel erlebt. Aber was dort um den 79. Geburtstag geschah, war selbst fürs älteste Lichtspielhaus der Stadt ungewöhnlich. Mitten im Hauptfilm verließ die Hälfte der Zuschauer den Saal, nicht wenige wutentbrannt. Das wäre indes kaum der Rede wert, hätten die verbliebenen 50 Prozent nicht vor Lachen unterm roten Mobiliar gelegen. Wenn es noch eines abschließenden Beweises dafür bedürfte, dass Humor ist, wenn man trotzdem lacht: Ende 1993 lieferte ihn Helge Schneider in Texas – Doc Snyder hält die Welt in Atem, als teilte Mose das Meer des schlechten Geschmacks.

Für Fans ein Revolutionär, für alle anderen Dilettant: so wie die dadaistische Westerngroteske vor 33 Jahren das Kinopublikum spaltete, wandelt ihr Autor, Regisseur, Komponist und Hauptdarsteller auch kurz vor seinem 70. Geburtstag zwischen Genie und Wahnsinn. Für diesen Balanceakt widmet ihm die ARD nun ein wahnsinnig geniales Porträt. Und weil außer ihm selbst nun wirklich niemand in Helge Schneiders Kopf zu blicken vermag, begibt er sich mithilfe seines langjährigen Bühnenpartners Sandro Giampietro persönlich auf den Grund des Unergründlichen.

Wer ein konventionelles Filmporträt erwartet, wird also enttäuscht. Wer ein unkonventionelles erwartet, allerdings ebenso. Der Klimperclown, wie es nach kurzer Kino-Auswertung ab Montag in der Mediathek auf Erwartungsflexible wartet, dekonstruiert sämtliche Konstanten klassischer Dokumentationen mit derselben Hingabe wie ihr Beobachtungsobjekt. Es beginnt, wo sonst, bei der eigenen Geburt. Schneider stellt sie mit zwei Handpuppen nach und nutzt dabei seine infantil-debile Kopf- und Gaumenstimme der Katzeklo-Ära, die FAZ-Feuilletonisten bis heute verlässlich die Fußnägel hochklappt.

Knapp 80 Minuten stolpert der Jubilar scheinbar orientierungslos durch 63 Jahre Bühnenerfahrung. Der Minderjährige musiziert bereits mit Cello und Günther in Ruhrpottkellern. Als Erwachsener vermischt er bald Comedy und Jazz zu einer Art multiinstrumentellem Nihilismus. Aus seinem gut gefüllten Fundus absurder Perücken, Anzüge, Brillen, Plateauabsätze kostümiert Schneider Kunstfiguren jenseits aller Stereotypen. Das wirklich Absurde aber ist: wie im Kieler Kinosaal lacht sich die Hälfte der Deutschen schlapp, wenn er „meine Schuhe, die lieb‘ ich sehr / ohne Schuhe, wär‘ ich nicht hier“ singt.

Wenn der Gitarrenvirtuose (und Klaviervirtuose (und Saxofonvirtuose (und Geigenvirtuose (und Schlagzeugvirtuose (und Akkordeonvirtuose))))) dazu schräge Tonfolgen zupft, belegt er das ungeschriebene Filmgesetz, nur gute Eiskunstläufer können schlechte Eiskunstläufer spielen, und lüftet nebenbei einen Teil seines Witzgeheimnisses: Niemand füllt die Leerstellen unserer Logik virtuoser mit Nichts als der Sohn eines Fernmeldemonteurs und einer Finanzbeamtin. Geboren am 30. August 1955 in Mühlheim/Ruhr, ungefähr 30 Jahre vor jener Medienrevolte, denen auch die Mauern der herrschenden Lachhaftigkeit nicht standhielten.

Mitte der 80er nämlich baut das Privatfernsehen, namentlich RTL und Tele5, drollige Brücken über den Mainstream-Frohsinn. Zwischen Dieter Hallervordens Glubschaugen-Klamauk und Dieter Hildebrandts Verkündungskabarett legen Anarchos wie Christof Schlingensief und Hape Kerkeling, Harald Schmidt und Herbert Feuerstein, Bully Herbig und Corny Littmann, also viele Männer und außer Anke Engelke kaum eine Frau den Humor ihrer Tage zugleich höher und tiefer. Alles hochkonzentriert in Texas.

In dessen „Verweigerungskomik“, schrieb damals der Filmkritiker Georg Seeßlen, sei „immer was los“, man wisse „nur nicht genau was“. Rettungslose Schönseher hätte sich vom Klimperclown da womöglich Aufklärung erhofft, was genau in den vier Fortsetzungen, sieben Kriminalromanen, elf Hörbüchern, zwei Dutzend Cameo-Auftritten und Abertausend Liedern wie Es gibt Reis, Baby los ist. Kleiner Spoiler: Statt alte Fragen zu beantworten, stellt der Film lieber ein paar neue.

Ob der ehemalige Kelly-Family-Sänger Angelo tatsächlich Helge Schneiders Schlagzeug-Roadie ist zum Beispiel und falls (höchstwahrscheinlich) nicht: Warum ihm die ARD geschlagene zwei der 82 Minuten von herausragender Belanglosigkeit beim Schlagzeugaufbau zusieht. Überhaupt: das Klimperclown-Personal… Helge Schneider holt den halben Cast früherer Filme in sein Selbstporträt und verbringt mit ihnen Zeit ohne jeden Mehrwert. Einfach nur Menschen mit Menschen beim, tja, Menschensein oder auch mal alleine mit sich, einem Handstaubsauger und Frank Sinatra im Wohnmobil.

Was an der Loseblattsammlung früher Homevideos, späterer Kinofilme, junger Konzertmitschnitte und brandneuer Dokumentaraufnahmen real oder erfunden ist, Fiktion oder Dokumentation, weiß nur Helge Schneider allein. Weit wichtiger als jede Wahrhaftigkeit ist ohnehin, dass dem kuriosesten, vor allem jedoch uneitelsten aller deutschen Komiker von Herzen egal zu sein scheint, was andere, also wir, das Publikum, von ihm denken. Diese Kaltschnäuzigkeit allein ist bereits lustiger als alle Bühnenprogramme selbsterklärter Comedians zusammen.


Piers ProSieben & Rentnerdetektive

Die Gebrauchtwoche

18. – 24. August

Weil Film- und Fernsehschaffende regelhaft sterblich sind, spielen Todesfälle bekannter TV-Figuren hier normalerweise nur Nebenrollen. Bei Rolf Seelmann-Eggebert machen wir allerdings mal eine Ausnahme. Jahrzehntelang Kopf und Stimme der öffentlich-rechtlichen Adelsberichterstattung, schaffte es der frühere Auslandskorrespondent, den Aberwitz aristokratischer Relikte im profanen Zeitalter mit exakt der richtigen Tonlage zu vermitteln.

Dafür gebührt dem Hamburger aus Berlin, der Freitag voriger Woche mit 88 Jahren von uns gegangen ist, ein kleiner Nachruf. Der Abschiedsgruß gilt schließlich auch einer Epoche berufsethischer Verbindlichkeit, die mit Journalisten wie ihm ins Grab gehen. Als Gegenbeweis könnte man jene Medienplayer anprangern, die Robert Habecks grünen Staatssekretär Patrick Graichen wochenlang öffentlich geschlachtet haben, über die Vetternwirtschaft der jetzigen Regierung aber höflich schweigen.

Oder man bohrt dickere Bretter und weist nochmal auf die anstehende Übernahme von ProSiebenSat.1 durch Pier Berlusconis MFE hin. Schwer zu sagen, ob Silvios Sohn die umbenannte Mediaset glaubhaft zur Mitte führt, wie kürzlich angedeutet. Giorgia Melonis Regierung jedenfalls hält er für die „bestmögliche“. Um dem deutschen Fernseh-Konglomerat trotz stagnierender Umsätze und der Fusion von RTL mit Sky jährlich 400 Millionen Euro Gewinn abzutrotzen, droht da nicht nur ein radikaler Sparkurs, sondern der programmatische Rechtsruck.

Bessere Nachrichten gefällig? Der ZDF-Film In die Sonne schauen geht womöglich ins deutsche Oscar-Rennen. Und die ZDF Studios haben mit Disney+ eine Lizenzvereinbarung unterzeichnet, Tausende Stunden regional produzierter Serien und Filme von Nord Nord Mord bis Marie Brand aufs Streamingportal zu stellen. Ein Stock, der bis Ende des Jahres auf über 3.000 Episoden und Filme wachsen könnte. Warum das gut ist? Weil es Reichweite und Erträge generiert, um Streamern die Stirn zu bieten.

Die Frischwoche

25. – 31. August

Netflix vor allem. Für seine Krimikomödie Thursday Murder Club ab Donnerstag stand so ein gewaltiges Budget zur Verfügung, dass mit Helen Mirren, Pierce Brosnan, Ben Kingsley ein halbes Altersheim voller Stars die Romanverfilmung um greise Hobby-Detektive bevölkern. Auch deshalb: nicht der Rede wert, aber durchaus unterhaltsam. Was wohl auch für die spanische Mystey-Serie Zwei Gräber tags drauf an gleicher Stelle gilt.

Und etwas weniger vermutlich fürs Serien-Prequel des Agenten-Blockbusters The Terminal List, ab Mittwoch bei Prime Video. Bleibt noch extrem viel ARD-Material der Woche. Heute zum Beispiel macht Ingo Zamperoni den Auftakt mit seiner Primetime-Doku Merkels Erbe – 10 Jahre Wir schaffen das, inklusive Interview mit der Ex-Bundeskanzlerin. Dienstag gefolgt von der dreiteiligen Küblböck-Story, denen die Beetz Brothers zum Glück noch deren Transidentität Lana Kaiser im Titel anhängen.

Donnerstag zeigt die Mediathek des Ersten dann noch den originellen kleinen Dokumentarfilm Der talentierte Mr. Felinton um einen Regisseur, der zwei deutschen Kollegen Idee und Film geklaut und damit sogar Preise gewonnen hat. Freitag dann geht das Erste mit Zwei Frauen für alle Felle in Reihe, die – Achtung, Kalauer – Veterinärinnen sind. Und zu guter Letzt noch eine Sportdokumentation, die wirklich bemerkenswert ist.

In 13 Steps porträtiert der deutsche Autor Michael Wech nämlich die unfassbare Karriere des amerikanischen Hürdenläufers Edwin Moses. Und das ist annähernd zwei Stunden auf eine Art und Weise fesselnd, die sich wohltuend von den Lobhudeleien anderer Sportdokumentarfilmer*innen absetzt. Und zum Schluss ein Schmankerl: am Freitag startet in der ARD-Mediathek die norwegische Tragikomödie Below um eine Norwegerin, die sich nach einem Autounfall querschnittsgelähmt sechs Teile lang nicht in ihr Schicksal fügen will.


Becoming Madonna: Virgin & Aktivistin

Madonna Mia

In 40 Jahren Weltkarriere hat sich Madonna ständig gehäutet und stand doch stets ganz oben. Eine ZDF-Doku zeigt, wie oft sie dafür den Mainstream einfach umgeleitet hat.

Von Jan Freitag

Um zu verstehen, was Skandale skandalös macht, muss man das Wort kurz aus dem Blitzlicht der Regenbogenpresse ins Dämmerlicht seiner sprachlichen Herkunft holen. Im Griechischen beschrieb skándalon einst den Stein des Anstoßes, der beim Aufprall für Ärger sorgen könnte. Ob sich jemand daran stößt, hing allerdings schon in der Antike schwer davon ab, was gesellschaftlich als allgemein anstößig galt. Und das kann sich bekanntlich permanent ändern.

1903 zum Beispiel taugte es zum Skandal, falls die Dame statt Rock Hosen trug. Rund 60 Jahre drauf war letztere zwar selbst an Frauenbeinen normal; dafür sorgte es verlässlich für bürgerliche Schnappatmung, wenn ersterer zu hoch übers Knie reichte. 1983 dagegen bestand der Skandal umgekehrt eher darin, dass CSU-Bundestagspräsident Richard Stücklen der Grünen Petra Kelly ihr Beinkleid im Plenarsaal verbieten wollte, während eine Geschlechtsgenossin nur Monate später durch den Fleischwolf des prüden Amerika gedreht wurde, weil sie ein Brautkleid getragen hatte, sich darin Like A Virgin auf der Bühne geräkelt und obendrein so hieß wie eine Marienstatue.

Madonna mia!

Es war der skandalumtose Kickstart einer Künstlerin, die das erregungsökonomische Konzert nicht nur mitspielen, sondern dirigieren wollte. Und wie ihr das gelang, zeigt eine Dokumentation, die das Kalkül gewaltiger Popkarrieren bereits im Titel trägt: Becoming Madonna. Denn dass sie mit respektablem Abstand zu Taylor Swift und Rihanna die kommerziell erfolgreichste Solokünstlerin der Welt geworden, vor allem jedoch: bis heute geblieben ist, war in erster Linie ihr eigenes Werk. Ein streng kalkuliertes, wie Regisseur Michael Ogden 90 Minuten lang glaubhaft macht. Aber aus tiefster Überzeugung.

Schon, als das Mädchen aus Michigan mit kaum 25 erstmals die Top 10 der amerikanischen Billboard-Charts stürmt, fragt es, wer „den größten Star Amerikas“ managt und verkündet: „Den will ich!“ Also kriegt Madonna Michael Jacksons Impresario Freddy Demann. Und nachdem sie zwei Jahre später bei den MTV Awards die amerikanische Prüderie im Brautkleid provoziert, springt Like A Virgin tags drauf auf die 1. Welch ein Kontrast zu den Anfängen.

Als Madonna Louise Ciccone aus dem verträumten Bay City ins schlaflose New York zieht, will die junge Tänzerin zwar bereits ganz nach oben; ihre Vorbilder heißen jedoch noch Blondie oder Lou Reed. Um im Indiepop jener kulturell richtungsweisenden Tage Fuß zu fassen, lernt die Minderjährige daher Schlagzeug und Gitarre. Neben unbekanntem Archivmaterial einer ganz gewöhnlichen Provinzjugend, das Michael Ogden zusammengetragen hat, zählen solche frühen Live-Auftritte zum Faszinierendsten, was Bandbiografien bislang gezeigt haben. Sie bleiben allerdings Episode.

Mithilfe zahlloser Zeitzeugen und Wegbegleiter vom ersten Labelchef Seymour Stein über Ex-Managerin Camille Barbone oder Videoregisseurin Mary Lambert bis hin zur ihrem Entdecker Michael Rosenblatt erleben wir den Werdegang einer globalen Ikone bis in die Niederungen unaufgeräumter Kinderzimmer und Backstagebereiche. Wirklich Fahrt nimmt das Porträt aber erst auf, als der Regisseur tonnenweise Klatsch und Tratsch hinein kippt. Allein die PR-taugliche Hochzeit vom Bad Girl Madonna mit dem Bad Boy Sean Penn belegt fast ein Fünftel der knappen Sendezeit.

Dieser boulevardeske Zuschnitt könnte ebenso wie das Dreschen billiger Phrasen („Sie hat das gewisse Etwas“), ein überhasteter Ritt durch die letzten 25 Jahre ihrer epischen Laufbahn (mit sechs weiteren Top-1-Alben bis 2019) oder der Umstand, dass Madonna selbst leider nicht persönlich zu Wort kommt (dafür in Dutzenden älterer Interviews) ein Makel dieser gutrecherchierten Fernanalyse sein – würde die als Showmance diskreditierte Liaison zweier Superstars ihrer Zeit weniger Wissenswertes übers Showgeschäft, seine handelnden Akteure und vor allem Madonna selbst aussagen. Die ist schließlich nicht nur das Role Model weiblichen Empowerments ihrer patriarchalen Branche schlechthin, sondern ein dezidiert politischer Popstar, ohne den mehrere Fortschrittsbewegungen weitaus träger flössen.

Egal, ob sich das „Material Girl“ 1984 wie zuvor bereits Cindy Lauper mit hedonistischer Lebensfreude dazu bekennt, dass Mädchen mitunter halt auch einfach nur Spaß wollen, zwei Jahre später für Penthouse und Playboy auszieht oder im millionenfach verkauften Bildband Sex zur LP Erotica das Selbstbestimmungsrecht weiblicher Erotik propagiert: Durch die Wirkmacht ihrer Popularität macht Madonna in jeder Karrierephase alle eigenständiger, deren Gefühlshaushalt unter Kuratel der herrschenden, meist männlichen Moral steht. Und das sind beileibe nicht nur Frauen, sondern andersartige Menschen jeder Herkunft, Hautfarbe, sexuellen Identität.

Spätestens, als ihr schwuler Freund und Vertrauter Martin Burgoyne mit 23 Jahren an AIDS stirbt, engagiert sich Madonna auch auf offener Bühne für die Rechte Homosexueller. 1989 dann folgt der Affront, im Video zum nachdenklichen Like A Prayer einen schwarzen Jesus zu küssen. Beides macht sie zwar mehr denn je zur Zielscheibe evangelikaler Rechtspopulisten, die unter Präsident Reagan nicht weniger als unter Donald Trump jede Abweichung vom heteronormativen Mainstream verteufeln. Vor allem aber wird Madonna so zur Ikone nahezu sämtlicher Zuflüsse, die heutzutage unterm Sammelbegriff LGBTQA+ firmieren.

Kurz, bevor die renitenten Riot Grrrls der späten Achtziger im Folgejahrzehnt zu Spice Girls werden, die Repräsentation und Selbstermächtigung eher materialistisch als emanzipatorisch auffassen, macht die Blond Ambition Tour Madonna 1990 also endgültig zur antirassistischen Queer-Aktivistin. Oder wie sie selber es ausdrückt: „Ich habe mich mit den Augen eines heterosexuellen Machos angeschaut habe und gemerkt: Ich kann auch ganz anders.“

Ihre Häutungsprozesse, die auch danach noch Moden und Stile in aller Welt beeinflussen, frühstückt Michael Ogdens Porträt zwar etwas zu fix ab. Am Ende seiner Zeitreise aber blickt man klarer auf ein Selbstvermarktungsgenie, das die Grenzen seiner Prinzipien zur PR und umgekehrt seit jeher selber zieht und sich damit länger als jedes andere im Aufsichtsrat der Aufmerksamkeitsindustrie hält. Nur eines braucht Madonna Louise Ciccone, geboren am 16. August 1958 in Bay City, längst nicht mehr, um 41 Jahre nach Like A Virgin wohl auch ihr 16. Album in die Top-3 der US-Charts zu bringen: Skandale.

Becoming Madonna, 90 Minuten, ab 9. August in der ZDF-Mediathek und am 23. August in 3sat


Jörgs Julia & Svenjas Theo

Die Gebrauchtwoche

11. – 17. August

Es gibt weniger relevante und wirklich relevante Nachrichten. Wohin jene gehört, dass Israel offenbar planmäßig vier palästinensische al-DschazīraJournalisten als angebliche Terroristen getötet hat, scheint da ebenso wie jene von der bevorstehenden Übernahme des deutschen TV-Konzerns ProSiebenSat1 durch die italienische MFE im Berlusconi-Besitz zur zweiten Kategorie zu gehören. Allerdings nicht im Vergleich zur Breaking News der Woche: Jörg Pilawa und Julia Klöckner sind ein Paar!

Wichtigste Konsequenz: Nach dem die Bundestagspräsidentin Julian Reichelts rechtsradikales Online-Portal Nius auf einer CDU-Veranstaltung mit der linksliberalen taz gleichgesetzt hat, dürfte ihr Lover sein Abo gekündigt und durch eines der Jungen Freiheit ersetzt haben – vermutlich Klöckners Blut-, Leib- und Boden-Format, zu dem sich im Unterhaltungssegment womöglich Sex and the City gesellt.

Sollte der Nestlé-Fan mit Gender-Fimmel die heteronormative Konsumgören-Serie geschaut haben, ist damit seit Freitag Schluss. Da endete nach 27 Jahren die lausige Fortsetzung And Just Like That und damit eine Ära antiemanzipativen Entertainments. Was unumwunden zu dessen König führt: Kurz, nachdem der Medienkonzern Skydance zum Preis von Stephen Colberts Entlassung Paramount kaufte, hat letzteres die Rechte an Donald Trumps Prügelorgie UFC für sieben Jahre à 1,07 Milliarden Dollar erworben.

Democracy dies in the darkness einer Nation, deren Pressefreiheit im Gleichschritt mit dem Realitätssinn verschwindet – besonders deutlich beim Rauswurf der US-Chefstatistikerin Erika McEntarfer, die Trump durch den MAGA-Propagandisten E.J. Antoni ersetzt. Warum es der Tagesschau keine Spitzenmeldung wert war, dass Trumps wirtschaftlicher Misserfolg nun nicht mehr offiziell kommuniziert wird, bleibt das Geheimnis ihrer Redaktion.

Die Frischwoche

18. – 24. August

Aus Gründen die Frischwoche in Stichworten

Montag, ARD-Mediathek: The Klimperclown, ein Porträt von und mit Helge Schneider zum 70. Geburtstag, das ungefähr so aberwitzig ist wie Jubilar und Verfasser

Dienstag, ZDF-Mediathek: AfD – Aufstieg in der Flüchtlingskrise, Dokumentation einer erschreckenden Allianz aus Machtkalkül, Rassismus und Ressentiment

Mittwoch, Disney+: The Twisted Tale, beeindruckende Biopic-Serie über den bizarren Justizirrtum an der vermeintlichen Mörderin Amanda Knox

Donnerstag, Netflix: Fall vor Me, deutscher Erotikthriller mit Svenja Jung auf Theo Trebs, der sich keines Erotikthriller-Klischees zu schade ist

Freitag, Sky: Boyzone, dreiteilige Doku übers aberwitzige Milliardengeschäft der Boygroups in den Neunzigern am Beispiel einer der erfolgreichsten

Freitag, ZDF-Mediathek: Always Hamburg, sechsteilige Doku übers aberwitzige Minusgeschäft des HSV, der trotzdem Millionen Herzen bewegt

Sonntag, Neo: Chabos, achtteilige Dramaserie um vier deutsche Jungs, die 2006  in einer Nacht ihre Zukunft vergeigen und 20 Jahre später danach suchen


Nastassja Kinski: Männermacht & Befreiung

Vom Lustobjekt zum Filmsubjekt

Das Arte-Porträt Geschichte einer Befreiung zeigt, wie sich Nastassja Kinski (Foto: arte) aus dem Griff allmächtiger Männer befreien konnte. Aber auch, wie fest er vor 50 Jahren war – und wieder zu werden droht.

Von Jan Freitag

Wer einem Gefängnis entfliehen will, muss dafür oft keine Mauern aus Steinen, Stahl und Stacheldraht erklimmen. Mindestens ebenso scher überwindlich sind die Mauern aus Brauchtum, Klischees und Schränken voller Schubladen. Schubladen, in denen einst kaum jemand so tief steckte wie Nastassja Aglaia Nakszynski. Die Tochter des deutschen Weltstars Klaus Kinski war schließlich noch ein Kind, als sie ihr Filmdebüt feierte und dabei tat, was die Gesellschaft 1975 selbst dann von Frauen erwartete, wenn sie erwachsen waren: zu schweigen.

In Wim Wenders‘ Kino-Drama Falsche Bewegung tat es die 13-Jährige zwar vor allem, weil sie ein stummes Mädchen spielte. Aber auch danach wurde ihr der Mund verboten, sobald Nastassja Kinski als Objekt männlicher Machtgelüste besetzt wurde. Szene für Szene, Affäre für Affäre, Film für Film geriet der Teenager in die übergriffigen Hände doppelt so alter Herren von Richard Widmark über Christian Quadflieg bis Malcom McDowell. Und stets wurde die Schublade, in der sie saß, ein Stück tiefer. Aufschrift: Lolita. Opfer. Femme Fatale.

Es war ein Gefängnis der unüberwindlichen Art. So schien es jedenfalls zu Beginn ihrer beispiellosen Karriere – und sollte sich als ebenso großer Trugschluss wie die Aussage des Produzenten von Falsche Bewegung erweisen, „das Mädchen“ sei „nicht fürs Filmgeschäft gemacht“. Denn was Anfang der Achtziger folgte, steht im Untertitel einer ebenso beispiellosen Dokumentation: Die „Geschichte einer Befreiung“. Und die französische Regisseurin Marie-Gabrielle Fabre beginnt mit dem Befreiungsschlag schlechthin: Paris, Texas.

Gerade mal 21, verfügte sie 1984 zwar über die Erfahrung aus gut einem Dutzend internationaler Werke unterschiedlicher Regisseure. Doch erst ihre zweite (nicht letzte) Zusammenarbeit mit Wim Wenders sprengte die Ketten der ewigen Kindfrau. Es waren bleischwere, lukrative, scheinbar unvermeidbare Fesseln einer Impulsschauspielerin in Beugehaft patriarchaler Herrschaft. Als zweites Kind des Set-Berserkers Klaus Kinski war Nastassja schließlich von Hause aus Gewalt in ihrer niederträchtigsten Form gewöhnt.

Anders als ihre Geschwister wurde sie nach eigener Aussage zwar nie vom leiblichen Vater vergewaltigt. Missbräuchlich war sein Verhalten allerdings schon – durch Abwesenheit, Machtdemonstrationen, passive Aggressivität. „Wenn er uns mal in den Arm genommen hat, hat man keine Luft mehr bekommen“, sagt sie aus dem Off eines der seltenen Familienfotos in trauter Atmosphäre. „Wir hatten alle Angst vor ihm.“ Ein Gefühl, das sich wie Blutspuren durch säftelnde Fiktionen zieht, die selbst im Schatten von #MeToo unglaublich sind.

Ein Jahr, nachdem Wolfgang Petersen die 15-Jährige dazu nötigen durfte, sich für den öffentlich-rechtlichen Tatort: Reifeprüfung vor der Kamera auszuziehen, spielt sie im italienischen Inzest-Drama Bleib wie du bist die Geliebte des dreimal so alten Marcello Mastroianni. Doch was 1978 unterm Emanzipationsbegriff der sexuellen Revolution firmierte, war nichts anderes als struktureller Machtmissbrauch eines männerdominierten Metiers. Die Filmbeziehungen basierten folglich „nicht auf Liebe“, wie Sprecherin Marit Beyer kommentiert, „sondern erotisierenden Dominanzverhältnissen“.

Handgezählte 18 Missbrauchsszenen der Minderjährigen schneidet Fabres fabelhafte Cutterin Anna Brunstein dafür einmal am Stück ineinander. Es sind kaum erträgliche, überaus anschauliche Filmausschnitte, in denen Nastassja Kinski ihre Vergewaltigung mal ausdruckslos, mal angewidert über sich ergehen lässt – bis sie sich mit einem Stein befreit. Dass er ihr vom verurteilten Sexualstraftäter Roman Polanski gereicht wird, mit dem sie anschließend ein fruchtbares, aber toxisches Abhängigkeitsverhältnis eingeht, passt ins Bild einer Epoche kreativer Alphatiere, die Frauen als Mischung aus Muse, Spielzeug, Trophäe betrachtet haben.

In ihrer großartig geschnittenen Kompilation aus Filmsequenzen, Talkshowbesuchen und Archivmaterial, wo ihr der graumelierte Studio-Choleriker Rudi Carrell schon mal aufs Meerjungfrauenkostüm sabbert, werden die Zwangsmechanismen dahinter körperlich spürbar – und sagen meist zweierlei aus: Wie lange das Patriarchat seine Herrschaft noch über Schutzbefohlene ausüben konnte. Und wie stark eine davon war, um sich eigenhändig daraus zu befreien. Für aktuelle O-Töne war Nastassja Kinski zwar offenbar nicht zu haben. Auch ältere Interviews geben allerdings Auskunft darüber, mit welcher Energieleistung sie insgesamt vier, fünf Karrieren aufnahm und in jeder davon tiefe Spuren hinterließ.

Zuletzt 2022 an Martina Gedecks Seite der Roman-Verfilmung Die stillen Trabanten – ein intensives Porträt weiblicher Selbstermächtigung im reiferen Alter. Damals dachten vermutlich viele, der Male Gaze genannte Männerblick auf Frauen sei langsam Geschichte. Fast 50 Jahre nach ihrem Debüt als Lustobjekt aber wurden grad die misogynen Gewalttäter Sean Combs und Harvey Weinstein teils vom Vorwurf sexuellen Missbrauchs freigesprochen, während ein anderer im Oval Office sitzt. Nastassja Kinskis Geschichte einer Befreiung ist da nicht nur sehenswert, sondern hochaktuell. Die Gefängnismauer bröckelt, aber sie fällt nicht.

Nastassja Kinski – Geschichte einer Befreiung, 54 Minuten, ab 9. August in der Arte-Mediathek


Weimers Dialektik & Disneys Alien

Die Gebrauchtwoche

4. – 10. August

Geizige Wasser sind freigiebig, oder wie hieß das Sprichwort doch gleich? Egal, Staatsminister Wolfram Weimer stand früh im Verdacht, sein Ressort als das für Regierungskultur zu begreifen, die entweder entbehrlich ist oder nationale Sitten und Werte widerspiegelt. Auch deshalb verbietet er ihr nun das Gendern, vulgo: sprachliche Gleichberechtigung, weil es – pure Dialektik, bevormundend sei. Zugleich aber will Weimer 250 Millionen Euro Filmförderung lockermachen, den Topf also verdreifachen. Irgendwer nannte das mal Wumms.

Was in diesem Fall wörtlich zu nehmen wäre. Denn was Weimer wirklich fördern will, sind deutsche Blockbuster. Massentaugliche Überwältigungsformate, die US-Streamern Paroli bieten. Ob dieser Filmpatriotismus (unions)wertegeleitet wäre, bleibt vorerst so offen wie unsere Augen auf konservative Kulturpolitik. Die nämlich hat ja erst kürzlich bewiesen, mit wem sie sich im Zweifel gemein macht.

Als Friedrich Merz die Bromance der Bosse namens Made for Germany, kurz M4G, mit exakt einer Frau unter 61 Männern präsentierte, haben die Journalismus-Attrappen der Unionspressestelle von Bild bis Welt Mathias Döpfners Initiative mit geldwertem Agenda-Populismus gefeiert. In den Deutschlandradio-Podcast Tech Bro Topia übers unheimliche Machtkonzentrat der Tech-Milliardäre schafft es der Presse-Krösus Döpfner damit zwar noch nicht, aber von Peter Thiel trennt ihn eigentlich nur noch der globale Einfluss.

Den exekutiert Donald Trump gerade mal wieder auf dem Rücken der pluralistischen Demokratie. Beim Treffen mit KI-Vertretern in Washington hat er im Vorbeigehen das weltweite Urheberrecht beerdigt. Dagegen trauert Christian Lindner vergangenem Einfluss so hinterher, dass der frühere Minister des… äh, was war noch sein Ressort? Egal… Er verklagt das Satiremagazin Titanic für irgendeinen Witz über den Nachwuchs mit seiner Frau Franca Lehfeldt, die – Dialektik Part 2 – für Springer arbeitet, wo rücksichtslose Enthüllungen ohne Rücksicht auf Menschen zum Ertragsmodell zählen.

Liberale, das lehrt dieses Beispiel, werden halt dünnhäutig, wenn man ihnen liberal kommt. Und Konservative sowieso. Deshalb haben Teile der Unionsfraktion eine Lügenkampagne von Julian Reichelts AfD-Fanzine NIUS gegen Frauke Brosius-Gersdorf genutzt die normal liberale Verfassungsrichterin in spe abzusägen. Ach, wie sehr sehnen sich da selbst Linke doch mittlerweile nach Helmut Kohls geistig-moralischer Wende von 1983, als Konservative noch keine Trumpisten waren …

Die Gebrauchtwoche

11. – 17. August

Im selben Jahr übrigens, als ein Mädchen aus Michigan zum Weltstar himmelwärts stieg und nie mehr zur Erde herabstieg. Diesen Prozess beschreibt das ZDF-Porträt Becoming Madonna in ihrer Mediathek. Und versprochen: Es gibt handfeste Überraschungen zu bestaunen. Drei, vier Popularitätslevel tiefer, aber noch immer eine Celebrity ist Nastassja Kinski. Die Tochter des legendären Cholerikers Klaus wurde Anfang der Siebzigerjahre zum Megastar des frauenverachtenden Kinos jener Tage.

In seiner Dokumentation zeigt uns Arte ab Montag Kinskis Geschichte einer Befreiung aus dem Würgegriff einer Männermachtgesellschaft, die selbst Minderjährige sexuell ausbeuten ließ. Weitaus gegenwärtiger ist Mittwoch an gleicher Stelle das Porträt der Trashpop-Band Gossip mit der mehrgewichtigen Stilikone Beth Ditto am Mikro. Und auch in der ZDF-Serie Lady Parts geht es tags zuvor um weibliche Hauptfiguren im Kernschatten des Male Gaze.

Wenn die gleichnamige Punkband unterschiedlich marginalisierter Musikerinnen sechs Teile lang britische Bühnen erobert, ist das allerdings viel lustiger als das reale Empowerment ihrer Geschlechtsgenossinnen aus Deutschland und Amerika. Und noch eine emanzipatorische Selbstbehauptungsstudie: Ab Mittwoch ist eine Handwerkerin in der ARD-Mediathek Auf der Walz, erobert sich also fiktional die Männerdomäne Gesellenwanderung. Längst online und kaum zu umgehen: die 2. Staffel der schwarzen Trauerkloßkomödie Wednesday bei Netflix, flankiert vom neuen Anlauf der ebenso großartigen, ungleich bunteren Apple-Serie Platonic.

Irgendwo zwischen Sequel und Prequel rangiert dagegen die FX-Serie Alien: Earth, in der das gefräßige Schleimwesen ab Mittwoch bei Disney+ erstmals am Bildschirm wütet. Wenn es darin gemeinsam mit anderen Außerirdischen die Erde erreicht, wird es allerdings von einer Kinderarmee bewusstseinstransferierter KI-Soldaten im Auftrag interstellarer Konzerne erwartet. Das ist zwar maximal effekthascherisch, aber ziemlich originell.