Nastassja Kinski: Männermacht & Befreiung

Vom Lustobjekt zum Filmsubjekt

Das Arte-Porträt Geschichte einer Befreiung zeigt, wie sich Nastassja Kinski (Foto: arte) aus dem Griff allmächtiger Männer befreien konnte. Aber auch, wie fest er vor 50 Jahren war – und wieder zu werden droht.

Von Jan Freitag

Wer einem Gefängnis entfliehen will, muss dafür oft keine Mauern aus Steinen, Stahl und Stacheldraht erklimmen. Mindestens ebenso scher überwindlich sind die Mauern aus Brauchtum, Klischees und Schränken voller Schubladen. Schubladen, in denen einst kaum jemand so tief steckte wie Nastassja Aglaia Nakszynski. Die Tochter des deutschen Weltstars Klaus Kinski war schließlich noch ein Kind, als sie ihr Filmdebüt feierte und dabei tat, was die Gesellschaft 1975 selbst dann von Frauen erwartete, wenn sie erwachsen waren: zu schweigen.

In Wim Wenders‘ Kino-Drama Falsche Bewegung tat es die 13-Jährige zwar vor allem, weil sie ein stummes Mädchen spielte. Aber auch danach wurde ihr der Mund verboten, sobald Nastassja Kinski als Objekt männlicher Machtgelüste besetzt wurde. Szene für Szene, Affäre für Affäre, Film für Film geriet der Teenager in die übergriffigen Hände doppelt so alter Herren von Richard Widmark über Christian Quadflieg bis Malcom McDowell. Und stets wurde die Schublade, in der sie saß, ein Stück tiefer. Aufschrift: Lolita. Opfer. Femme Fatale.

Es war ein Gefängnis der unüberwindlichen Art. So schien es jedenfalls zu Beginn ihrer beispiellosen Karriere – und sollte sich als ebenso großer Trugschluss wie die Aussage des Produzenten von Falsche Bewegung erweisen, „das Mädchen“ sei „nicht fürs Filmgeschäft gemacht“. Denn was Anfang der Achtziger folgte, steht im Untertitel einer ebenso beispiellosen Dokumentation: Die „Geschichte einer Befreiung“. Und die französische Regisseurin Marie-Gabrielle Fabre beginnt mit dem Befreiungsschlag schlechthin: Paris, Texas.

Gerade mal 21, verfügte sie 1984 zwar über die Erfahrung aus gut einem Dutzend internationaler Werke unterschiedlicher Regisseure. Doch erst ihre zweite (nicht letzte) Zusammenarbeit mit Wim Wenders sprengte die Ketten der ewigen Kindfrau. Es waren bleischwere, lukrative, scheinbar unvermeidbare Fesseln einer Impulsschauspielerin in Beugehaft patriarchaler Herrschaft. Als zweites Kind des Set-Berserkers Klaus Kinski war Nastassja schließlich von Hause aus Gewalt in ihrer niederträchtigsten Form gewöhnt.

Anders als ihre Geschwister wurde sie nach eigener Aussage zwar nie vom leiblichen Vater vergewaltigt. Missbräuchlich war sein Verhalten allerdings schon – durch Abwesenheit, Machtdemonstrationen, passive Aggressivität. „Wenn er uns mal in den Arm genommen hat, hat man keine Luft mehr bekommen“, sagt sie aus dem Off eines der seltenen Familienfotos in trauter Atmosphäre. „Wir hatten alle Angst vor ihm.“ Ein Gefühl, das sich wie Blutspuren durch säftelnde Fiktionen zieht, die selbst im Schatten von #MeToo unglaublich sind.

Ein Jahr, nachdem Wolfgang Petersen die 15-Jährige dazu nötigen durfte, sich für den öffentlich-rechtlichen Tatort: Reifeprüfung vor der Kamera auszuziehen, spielt sie im italienischen Inzest-Drama Bleib wie du bist die Geliebte des dreimal so alten Marcello Mastroianni. Doch was 1978 unterm Emanzipationsbegriff der sexuellen Revolution firmierte, war nichts anderes als struktureller Machtmissbrauch eines männerdominierten Metiers. Die Filmbeziehungen basierten folglich „nicht auf Liebe“, wie Sprecherin Marit Beyer kommentiert, „sondern erotisierenden Dominanzverhältnissen“.

Handgezählte 18 Missbrauchsszenen der Minderjährigen schneidet Fabres fabelhafte Cutterin Anna Brunstein dafür einmal am Stück ineinander. Es sind kaum erträgliche, überaus anschauliche Filmausschnitte, in denen Nastassja Kinski ihre Vergewaltigung mal ausdruckslos, mal angewidert über sich ergehen lässt – bis sie sich mit einem Stein befreit. Dass er ihr vom verurteilten Sexualstraftäter Roman Polanski gereicht wird, mit dem sie anschließend ein fruchtbares, aber toxisches Abhängigkeitsverhältnis eingeht, passt ins Bild einer Epoche kreativer Alphatiere, die Frauen als Mischung aus Muse, Spielzeug, Trophäe betrachtet haben.

In ihrer großartig geschnittenen Kompilation aus Filmsequenzen, Talkshowbesuchen und Archivmaterial, wo ihr der graumelierte Studio-Choleriker Rudi Carrell schon mal aufs Meerjungfrauenkostüm sabbert, werden die Zwangsmechanismen dahinter körperlich spürbar – und sagen meist zweierlei aus: Wie lange das Patriarchat seine Herrschaft noch über Schutzbefohlene ausüben konnte. Und wie stark eine davon war, um sich eigenhändig daraus zu befreien. Für aktuelle O-Töne war Nastassja Kinski zwar offenbar nicht zu haben. Auch ältere Interviews geben allerdings Auskunft darüber, mit welcher Energieleistung sie insgesamt vier, fünf Karrieren aufnahm und in jeder davon tiefe Spuren hinterließ.

Zuletzt 2022 an Martina Gedecks Seite der Roman-Verfilmung Die stillen Trabanten – ein intensives Porträt weiblicher Selbstermächtigung im reiferen Alter. Damals dachten vermutlich viele, der Male Gaze genannte Männerblick auf Frauen sei langsam Geschichte. Fast 50 Jahre nach ihrem Debüt als Lustobjekt aber wurden grad die misogynen Gewalttäter Sean Combs und Harvey Weinstein teils vom Vorwurf sexuellen Missbrauchs freigesprochen, während ein anderer im Oval Office sitzt. Nastassja Kinskis Geschichte einer Befreiung ist da nicht nur sehenswert, sondern hochaktuell. Die Gefängnismauer bröckelt, aber sie fällt nicht.

Nastassja Kinski – Geschichte einer Befreiung, 54 Minuten, ab 9. August in der Arte-Mediathek



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