Chabos: Millennials & Nullerjahre

Als das Modem leise pfiff

In der großarigen ZDF-Serie Chabos geraten vier Jungs 2006 in eine Abwärtsspirale bis ins Jahr 2025. Das erzählt vier von acht Teilen auf leichte Art tiefgründig über die unterbelichtete Generation der Millennials – und ist trotz einiger Logiklücken und arg männlicher Perspektive auch danach noch sehenswert.

Von Jan Freitag

Die Zweitausendzehner – so nah und doch so fern. MP3-Player verdrängen den Discman und Digitalkameras die analoge Fotografie. Deutscher Rap wird aggro und deutscher Pop gecastet. Klingeltöne sind ein Milliardengeschäft und Computerbildschirme umzugskartongroß. Netzwerke heißen darauf StudiVZ statt Instagram und sind sogar noch sozial. Und als Deutschland 2006 vorm Beginn gestapelter Krisen ins Sommermärchen startet, pfeift nicht nur der Schiri, sondern auch das Modem.

Während Klinsi, Schweini, Poldi mit unbekümmertem Fußball durch die Heim-WM stürmen, steht also auch Peppi vorm Sommer seines Lebens. Zu dumm, dass er winterlich gerät. Nachdem sein Kumpel Alba am Türsteher einer Duisburger Disco abprallt, biegen die beiden Teenager und der gleichaltrige PD nämlich von ihrer geplanten Nacht aller Nächte zum Vierten im Bunde ab. Gollum ist zwar ein pickliger Nerd, könnte aber den Horrorfilm Saw 2 herunterladen. Dauert nur wenige Stunden. Die Nullerjahre halt. Und der Download lohnt sich. So scheint es.

Denn was nach dem Gruselschocker passiert, zieht die vier Chabos – seit Haftbefehl 2013 darüber rappte, ein umgangssprachliches Synonym für Straßenjungs – achtmal 30 Minuten in einen Abgrund, der sich nie mehr ganz schließen wird. Nur so viel: in der gleichnamigen ZDF-Serie hat er mit viel Geld zu tun, das die Teenager schnell auftreiben müssen. Wie Jungs in dem Alter nun mal sind, führt jede Beschaffungsidee jedoch flugs zur nächsten Katastrophe, chaostheoretisch Butterfly Effect genannt. Und dass die Eskalationsspirale kein Ende nimmt, erzählt uns Peppi 20 Jahre später zum Auftakt des ersten Teils.

„Mir geht’s super“, lügt der prekär beschäftigte Start-up-Irgendwas, als er frisch getrennt, beruflich stagnierend und überhaupt allein einen Schulfreund trifft. Weil der ihm dann auch noch vom Klassentreffen in zwei Wochen erzählt, zu dem Peppi nicht eingeladen wurde, fährt er nach Duisburg, um der Sache seiner gescheiterten Existenz auf den Grund zu gehen. Aus dieser Suche haben Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch, preisüberhäuft für den Kurzfilm Masel Tov Cocktail, nach eigenem Drehbuch die Geschichte einer spätpubertären Katharsis inszeniert. Und was für eine!

Dank gespenstisch passgenauer Protagonisten zweier Altersstufen sind die ersten vier Folgen mit das Beste, was tragikomödiantisch hierzulande seit langem gedreht wurde. Nico Marischkas halbwüchsiger Peppi zum Beispiel ist Johannes Kienasts ausgewachsener Version nicht nur wie aus dem Gesicht geschnitten; auch ihr unsicherer, liebenswert linkischer Habitus wirkt nahezu deckungsgleich. Gleiches gilt fürs halbstarke Großmaul PD (Jonathan Kriener), das sich in David Schütters Mittdreißiger zum noch großmäuligeren Sherriff vervollkommnet – von Max Mauffs Midlife-Variante des kauzigen Kinderzimmer-Eremiten Gollum (Loran Alhasan) ganz zu schweigen.

Die Chabos sind allerdings mehr als Hauptfiguren ihrer eigenen Coming-of-Age-Story. Gemeinsam mit fünf, sechs weiblichen Handlungsobjekten im Schatten (aber nicht unter der Fuchtel) männlicher Subjekte, lässt das ZDF Millennials buchstäblich selbst über sich sprechen. „16 Millionen Deutsche, die auf Dating-Apps hängen und sich nicht für irgendwas entscheiden können“, erklärt uns Peppi auf der Heimfahrt nach Duisburg durch die vierte Wand. „Work-Life-Balance, Flexibilität, Freiheit, Selbstverwirklichung, dies das.“

Besonders dies das aber macht den Achtteiler zumindest anfangs zu einer tiefgründig unterhaltsamen Milieustudie der Zeit zwischen 9/11 und Banken/Euro/Klimakrise. Noch utopisch genug für den Traum einer besseren Zukunft, schon ausreichend dystopisch, um ihre Verschlechterung zu ahnen. Für diesen Zwiespalt haben die Casterinnen Phillis Dayanir und Johanna Hellwig fantastisches Personal eingestellt. Arina Prass als Peppis erste Freundin, der Paula Kober als erwachsener Popstar glaubhaft eine Radikalkur in weiblicher Selbstermächtigung verpasst etwa. Seine Mutter Martina mit Anke Engelke in kleiner Nebenrolle, aber mit einer Präsenz, die ihr Film-Mann Peter Schneider als arbeitsloser Idealist sogar steigert. Und dann wäre da noch Vincent Krüger.

Seinem verschwörungsanfälligen Kleindealer der GenY kauft man nicht nur 20 Jahre Alterungsprozess ab. Auch die Läuterung zum Überzeugungstäter seiner eigenen Moral ist absolut authentisch. Schauspielleistungen wie diese machen am Ende sogar wett, dass „Chabos“ einen unerklärlichen Qualitätsabfall erleiden. Auf der Jagd nach Steigerungsmöglichkeiten ihrer Abstiegsdynamik verlieren sich Khaet und Paatzsch ab Folge 5 nämlich im Kleinklein billiger Effekte – gipfelnd in einer finalen Geldbeschaffungsmaßnahme des schüchternen Alba (Arsseni Bultmann), an der wirklich alles Behauptung bleibt.

Aber egal: Dank ihrer Vielzahl guter Einfälle voller Links zur Popkultur der Sommermärchentage (Achtung Spoiler: Britt Hagedorn, Mola Adebisi, Sabrina Setlur, Jeanette Biedermann oder der kürzlich verstorbene Rapper Xatar haben echt originelle Cameo-Auftritte), vor allem aber wegen der tiefen Zuneigung zu den Figuren, ist die Serie ein tiefgründig heiterer Selbsterfahrungstrip in die Zeit der CD-Brenner und iPods, als Millennials noch Kinder waren und ihre Eltern vom anderen Stern. „Die kriegt Rente“, sagt PD einmal über Gollums Mutter, „die schwimmen im Geld“. Zweitausendzehner – so nah und so fern.

Chabos, 8×30 Minuten, ZDF-Mediathek



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