Ach Kraftklub, du alte Powerpop-Muckibude – deiner linksbombastischen Energie verzeiht man doch echt jeden Einrichtungspatzer. Das erste Stück deiner neuen Platte zum Beispiel, die fünfte, obwohl man das Gefühl hat, es müssten schon mindestens doppelt so viele sein: Mit Domiziana will Felix Brummer aka Kummer darin “Unsterblich sein” und klingt ein bisschen wie Nina Chuba auf Pep. Was uns das sagt? Sterben in Karl-Marx-Stadt nimmt sich alle Freiheiten einer unantastbaren Band.
Denn das, was darauf folgt, ist eine Art hauseigenes Glossar von allem, was sie zur vielleicht wichtigsten deutscher Partypolitik macht. Besonders, wenn sie von Deichkind beschleunigt “Auf einer Handvoll Pilzen im Dschungel” unterwegs ist und auch sonst Kummers eigensinniges HipHop-Geshoute mit technoidem Stadionrock mischt. Ach ja – und Nina Chuba wurde in Fallen in Liebe dann auch noch wirklich ganz ohne Aufputschdrogen dazu geladen. Auch geil. Alles geil.
Kraftklub – Sterben in Karl-Marx-Stadt (Eklat Tonträger)
Siriusmo
Auch geil, alles geil, weil noch vielschichtiger, ach was: vollschichtiger, ist das, was der Berliner Produzent Moritz Friedrich als Siriusmo auf Tonträger stapelt. Buletten und Blumen heißt sein viertes Album. Und es ist so derartig gestopft mit discotauglichem Soundgewusel in drei Dutzend Stilrichtungen einer so babelhaften Sprachvielfalt, dass man aus dem Staunen kaum rauskommt. Schon auch alles bisschen Deichkind-weird.
Aber mit deutlich weniger Four-to-the-Floor-Überwältigungsgestus. Dafür verliert sich die Platte viel zu oft im ataridigitalen Klein-Klein dadaistischer Samples und Synths. Nur, dass sie halt jederzeit vom funky Grundbeat wiedervereinigt werden, mehr noch: blühende Landschaften audiophiler Experimentierfreude hinterlassen, die unsere Zivilisation grad dringend benötigt, um darin ab und an etwas Energie zu tanken. Bisschen wie Deichkind auf Keta. Ohne Nina Chuba. Auch okay.
Sirusmo – Buletten und Blumen (Monkeytown Records)
Felix Raphael
Und noch so ein ein alter junger Hase der elektronischen Berliner Fundgrube voll von allem, was man künstlich erzeugen, aber analog verbreiten kann: Felix Raphael. Seit Jahren schon mischt er House mit instrumenteller Haptik, die bis Flügelhorn reichen kann. Und dabei gelingt ihm erneut das Kunststück, melodramatisch, fast pathetisch zu klingen und dennoch irgendwie weltlich verspielt. Alles also, wofür sein Label PIAS steht.
Dass DO YOU eine Art psychotherapeutische Selbstbespiegelung als popkultureller Sozialarbeiter, also sehr persönlich ist, hört man den meisten der 16 Stücke dabei zwar durchaus an. Unter seiner fragilen Glasstimme drängt es sich aber nie komplett in den Vordergrund. Dafür sorgt schon ein stabiles Durchschnittstempo handgestoppter 100bpm, die jede Trägheit vertreiben. Mit stabiler Anlage bewegt DOU YOU daher nicht nur Herzen, sondern Dancefloors.
Zwölf Jahre nach der Gründung des Messenger-Dienstes Telegram ist immer noch unklar, was dessen Gründer Pawel Durow wirklich will. Eine Arte-Doku nährt sich Antworten über den absolutistischen Herrscher eines liberalen Messengers aus der angehenden Diktatur Russland zumindest mal an.
Von Jan Freitag
Tech-Milliardäre gönnen sich gerne exklusives Spielzeug. Marsmissionen zum Beispiel, US-Präsidenten, Kryptowährungen und seit neuestem, für Normalsterbliche so unerreichbar wie unerschwinglich: Longevity. So heißt das Selbstoptimierungskonzept superreicher, meist männlicher Menschen, mithilfe biomedizinischer Prozesse länger zu leben. Peter Thiel oder Jeff Bezos investieren dafür Unsummen in gentherapeutische Start-ups. Pawel Durow bevorzugt klassische Methoden.
Disziplin, Ernährung, Askese, Sport: dieses pausenlose Trainingsprogramm hat seine inneren 41 Jahre äußerlich auf gut die Hälfte reduziert. Damit wäre das russische Mathe- und Marketinggenie nur unwesentlich älter als sein wichtigstes Selbstoptimierungskonzept: Telegram. Ein weltumspannender Messenger-Dienst, der fast so gut in Form ist wie dessen Erfinder. Vor allem aber: ähnlich dubios. Und beides fasziniert seinen Landsmann Aleksandr Urzhanov seit der Geburt des jüngeren Pawel Durow.
Zwei Jahrzehnte beobachtet der Investigativ-Journalist den steilen Aufstieg eines St. Petersburger Elitestudenten in die Broconomy genannte Aristokratie mächtiger Digital-Unternehmer. Gemeinsam mit Regisseur Igor Sadreev hat der Exil-Berliner seine Recherchen jetzt zur RBB-Serie verdichtet. Und schon der Titel deutet an, dass es keine Lobeshymne geworden ist: „Das dunkle Imperium von Pawel Durow.“ Wie dunkel, wie imperial – das fragt die Dokumentation dreimal 40 Minuten. Und vorweg: einfach Antworten gibt es nicht.
Zur Erkennungsmelodie der brachialen Kapitalismus-Schelte Succession beginnt die Reise mit ihrem (vorläufigen) Ende: Am 24. August 2024 steigt Durow in Paris aus seinem Privatjet und wird festgenommen. Der Vorwurf lautet Drogenhandel, Hassverbrechen, Kindesmissbrauch. Wenngleich nicht eigenhändig, sondern durch Unterlassen entsprechender Schutzvorrichtungen für weltweit angeblich eine Milliarde Telegram-Nutzer.
Seit seiner (vorläufigen) Freilassung residiert der russische Staatsbürger mit französischem Pass in einem Pariser Luxushotel für angeblich 25.000 Euro pro Nacht. Und von dort aus arbeitet er nicht nur an seiner physischen Unvergänglichkeit. Es geht ihm auch um sein Kernanliegen: die „Beseitigung der Informationsasymmetrie“, wie es ein Biograf in der Serie beschreibt. Genauer: das Ende klassischer Medien als Gatekeeper der gesellschaftlichen Kommunikation zum Wohle informationeller Eigenverantwortung.
Und hier wird es kompliziert. Denn Durow mag seine Unternehmen, die teilweise mit dem Geld organisierter Banden aufgebaut wurden, nach Gutsherrenart führen – ohne Regeln, Betriebsräte, Transparenz und Belegschaft. Er weigert sich nachweislich, seinen Messenger auch nur ansatzweise gegen Radikale, Pädophile, Gesetzlose abzusichern und vergleicht das 30-köpfige Ingenieur-Team beim Interview mit dem rechtsradikalen Trump-Fan Tucker Carlson als „Navy Seals“. Mehr noch!
Geld verdient Durow fast nur mit nebulösen Krypto- oder Blockchain-Deals. Und das, nach Stress mit der amerikanischen Börsenaufsicht, mittlerweile vom autokratischen Zockerparadies Dubai aus, wo ihn das Bundesjustizministerium wegen zahlloser Verstöße gegen das Netzwerkdurchsuchungsgesetz seit Jahren vergeblich haftbar machen möchte. Nahezu alles am Gebaren des Vaters von angeblich 100 Kindern ähnelt daher dem ruchlosen Turbokapitalismus von Elon Musk bis Mark Zuckerberg.
Mit einer Ausnahme: der einzige Europäer im Kreis US-amerikanischer Tech-Narzissten hält sich bis heute relativ glaubhaft fern vom Sumpf geschmeidiger Autokraten-Kuschler à la Bezos und Thiel. Seine Weigerung sich irgendeiner anderen Macht als der eigenen unterzuordnen, wirkt demnach einigermaßen authentisch. Dass Verschwörungsideologen und Antifaschisten, der IS und die Linke, Reichsbürger und Demokraten, Putins Propagandisten und Selenskyjs Freiheitskämpfer gleichberechtigt auf Telegram kommunizieren, scheint das eher zu be- als widerlegen.
Immerhin, so lehrt uns die ARD-Doku, hat Pawel Durow sein russisches Facebook VK nach der Krim-Invasion verkauft und mit kolportierten 300 Millionen Dollar Erlös das staatsferne Telegram aufgebaut. Die geflohene Online-Reporterin Galina Timchenko vergleicht den Messenger deshalb mit einem Küchenmesser. Man könne damit „Brot schneiden oder jemanden erstechen“. Pawel Durow macht beides, ohne selbst Hand anzulegen. Noch.
Denn wenn uns Donald Trumps neoliberale Monarchie etwas lehrt, dann dass sie mehr als alle anderen die Mächtigen korrumpiert. Zwölf Jahre nach der Gründung von Telegram jedenfalls zeigt sich: auf dem Weg zur globalen Autokratie nutzen es vor allem die Feinde von Demokratie und Pluralismus.
Nein, Wolfram Weimer wird in diesem Staatssekretärsleben sicher kein Freund linksliberaler, interessanterweise aber auch nicht rechtsradikaler Medien mehr werden. Nachdem das AfD-Fanzine Apollo News skandalisiert hatte, der wirtschaftspolitische Gipfel seiner eigenen Media Group verspreche Teilnehmenden „Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger“, ging das Thema durch abseits aller Schützengräben durch die Presse – und hat dazu geführt, dass Weimer die 50 Prozent an seiner eigenen NGO verkauft hat.
Fast drängt sich der Verdacht auf, konstruktive Kritik könne konservatives Verhalten nachhaltig beeinflussen. Kaum jedenfalls, dass Andres Veiels Kino-Porträt Riefenstahl in der Fernsehzeitschrift unter ARD aufgetaucht ist, erkennt der filmwirtschaftliche Dachverband SPIO Goebbels-Günstlingen wie Leni Riefenstahl oder Heinz Rühmann die Ehrenmitgliedschaft ab. Und kaum, dass ein Rechercheteam aus SZ, WDR, NDR den Liedermacher Konstantin Wecker als (mutmaßlich) Pädokriminellen entlarvt, entbrennt eine Debatte über toxische Männlichkeit in der Musikbranche.
Im Mackerbusiness Profisport hat Paramount+ dank der unerschöpflichen Mittel des Oracle-Gründers Larry Ellison den Testosteron-Kanal DAZN ausgestochen und überträgt die Champions League ab Sommer 2027 gemeinsam mit Prime Video, während Sky und RTL überhaupt keine europäischen Spiele mehr zeigen – also ausgerechnet jene zwei Sender, die sich gerade vereinigen. Bisschen zynischer Übergang vielleicht, aber Alice und Ellen Kessler – der halben Welt als Kessler-Zwillinge bekannt, sind nach 81 Jahren gemeinsam aus dem Leben geschieden.
Ihr geplanter Suizid hat eine hochinteressante Diskussion übers Recht auf den eigenen Todeszeitpunkt ausgelöst, die dadurch neue Dynamik entwickeln könnte. Bei der Gelegenheit, etwas untypisch, noch ein weiterer Nachruf: freitagsmedien trauert um Udo Kier – einen der bemerkenswertesten Schauspieler überhaupt. Gestern ist er mit 81 gestorben, nachdem seine blauen Augen mehr als 200 Filme selbst in kleinster Nebenrolle geprägt haben.
Die Frischwoche
24. – 30. November
Und damit zurück zu Leni Riefenstahl, die 2003 im biblischen Alter von 100 Jahren gestorben war. Warum man Hitlers Lieblingsregisseurin damals wie heute echt keine Träne nachweinen sollte, zeigt Andres Veiel in der ARD-Mediathek. Riefenstahl, produziert von Sandra Maischberger, ist die brillant montierte, kunstvoll entlarvende Dekonstruktion der Legende einer NS-Karriere ohne Schwefelgeruch. Und sie sagt dabei auch noch einiges über die Schuldverdrängung des deutschen Tätervolks.
Tags drauf stellt sich Riefenstahls Gesinnungsgenosse Jan Fleischhauer ins Rampenlicht der ZDF-Mediathek. Keine Talkshow heißt eine Talkshow, in der er sich das neurechte Sturmgeschütz mit Andersdenkenden einsperren lässt. Zum Auftakt: Reyhan Şahin aka Lady Bitch Ray. Und das ist mutig. Vom ZDF. Von Fleischhauer. Von Şahin. Ob der Start in dieser Konstellation mit dem Orange Day gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu tun hat, den das Zweite parallel mit einer breiten Programmpalette begleitet, bleibt aber Spekulation.
Zwei Tage später jedenfalls geht das nächste Empowerment-Format in der ZDF-Mediathek online: House of Bellevue. Die Serie taucht sechs Teile lang fiktional in Berlins queere Partyszene ein und verschafft ihr damit nicht nur dringend nötige Sichtbarkeit. Ähnlich wie in seiner grandiosen Milieustudie Schwarze Früchte schafft es Co-Autor Leroy Lamin Gibba erneut, Abweichungen vom heteronormativem Mainstream in ihrer vollumfänglichen Alltäglichkeit zu zeigen.
Alltag anders ist auch das Thema des fabelhaften Episodenfilms I Am The Greatest, in dem Nicolai Zeitler und Marlene Bischof zeitgleich bei Arte sieben sehr gewöhnliche Menschen im Fleischwolf der Gegenwart skizzieren. Zur Vervollständigung noch zwei sehenswerte Dokumentationen: am Donnerstag porträtiert die ARD-Mediathek in ihrer Being-Reihe fünf Teile lang Katharina Witt und tags zuvor über 90 Minuten hinweg den Telegram-Gründer Pawel Durow.
Zwei polarisierende Figuren der Zeitgeschichte, die demselben System entstammen, aber sehr unterschiedlich daraus hervorgegangen sind. War noch was? Ach ja – Stranger Things geht Donnerstag ins Serienfinale – wenngleich, wie bei Großprojekten mittlerweile üblich, über drei Staffel gestreckt.
Die ARD-Serie Stabil um ein halbes Dutzend Insassen einer Jugendpsychiatrie dockt an Formate wie Euphorie oder Hungry an. Junges Seelenleid wird von erwachsenen Filmemachern darin endlich mal ernst genommen. Das tut der deutsche Sechsteiler im Grunde auch – und landet dennoch im Bällebad fiktionaler Klischees.
Von Jan Freitag
Im Zeitalter des neuen Kinos Serie hat es eine Regel zur Gesetzeskraft gebracht: Nie spoilern! Sie gilt also auch für Stabil. Wenn die ARD den Sechsteiler heute online stellt, verböte es sich deshalb normalerweise von selbst, das finale Kapitel der Geschichte einer Jugendpsychiatrie und ihrer Insassen zu verraten. Einerseits. Andererseits gibt es eine Art feuilletonistischer Fürsorgepflicht, das Publikum vor verschwendeter Lebenszeit zu warnen. Nach fünfeinhalb Folgen existenzbedrohender Probleme nämlich gleiten nahezu alle Hauptfiguren nicht nur lachend ins Happyend; zwei davon genießen gar die Aussicht auf ein sorgenfreies Leben in trauter Zweisamkeit.
Man kann, nein: muss von dieser Verharmlosung der dystopischen Krankheit Depression in all ihren Facetten also nur abraten. Dabei ist die Thematik durchaus verheißungsvoll. Nach einem Suizidversuch landet Greta (Luna Mwesi) in der psychiatrischen Klinik von Dr. Kim (Abak Safaei-Rad). Sechs halbe Stunden kämpft die 16-Jährige fortan mit einer Gruppe Gleichaltriger buchstäblich ums eigene Seelenheil. Zugleich aber versucht sie im geschlossenen System medizinisch-sozialer Kontrolle, das weder Außenkontakt noch Intimitäten gestattet, erwachsen zu werden. Ein pubertärer Spagat, den zurzeit reihenweise fiktionaler Formate wagen.
Aktuell etwa brillieren Derya Akyol und Sira-Anna Faal im fabelhaften RTL+-Reboot zur US-Serie Euphoria als mental kollabierende Prototypen der Generation Z. Ein Jahr zuvor ließ ZDFneo die essgestörte Ronnie (Zoe Magdalena) in Hungry an sich und ihrer Welt verzweifeln, nachdem Caroline Links Meisterwerk Safe an gleicher Stelle für zwei Psychologen und ihre Patienten Preise abgeräumt hatte. Gerade erst wurde Staffel 2 des Genre-Pioniers Club der roten Bänder abgedreht. Und jede dieser Serien wirft ein ebenso glaubhaftes wie anregendes Bild auf Jugendliche im Dauerstress ihrer krisengebeutelten Epoche.
Wenn sich Regisseurin Teresa Fritzi Hoerl drei der sechs Folgen Stabil selber aufgeschrieben hat, könnte es auf dem gebührenfinanzierten Online-Portal daher gehaltvoll werden. Schließlich trägt die Serie durch ihre Existenz allein schon dazu bei, das Chaos im Kopf Heranwachsender für voll zu nehmen. Schade nur, dass Hoerls Vorqualifikation in einer cremigen Melange aus Werbefilmen, Feelgood-Movies und dem gesendeten Pony-Fanzine Reiterhof Wildenstein besteht. Was die Hauptautorin mithilfe dreier Kolleginnen verzapft, hat deshalb den Tiefgang einer mittelmäßigen Vorabendserie. Schlimmer noch: inhaltlich grenzt sie oft an Körper-, Geist- und Seelenverletzung. Es nimmt bereits in Minute zwei seinen Anfang.
Vom vermeintlich mitverschuldeten Tod ihrer Schwester Nele lebensmüde, rast Greta mit dem Motorroller frontal gegen die Wand. Dass sie dabei nur zwei, drei dekorative Cuts im makellos geschminkten Gesicht davonträgt, ist nur das erste einiger Dutzend schlecht gescripteter Melodramen. Rückstandslos genesen nämlich zieht die 16-Jährige in eine Kinder und Jugendpsychiatrie, wo ihr eine Betreuerin „Uwe, dein Bezugspfleger, hier in der Kinder- und Jugendpsychiatrie“ vorstellt.
Das bevormundende Erklärbär-Fernsehen deutscher Art schießt sofort aus allen Didaktik-Rohren und sichert es mit einem Kugelhagel stereotyper Charaktere ab. Der spielsüchtige Killer (Uhud Karakoç) heißt wie sein Egoshooter und ist natürlich übergewichtig. Die autoaggressive Michelle (Katharina Hirschberg) wäscht sich nie und nascht dazu Chilischoten. Ein exoaggressiver Hooligan namens Fresse (Beren Zint) schlägt um sich und trägt Goldkettchen. Keine drei Sekunden nach ihrer Einführung packt jede Figur all ihre Macken auf den Stationstisch, damit auch ja niemand Zweifel daran hat, wie krass so eine Einrichtung ist.
Für alle inszenatorischen Mängel und Widersprüche fehlen hier Zeit und Raum. Nur so viel: dass der Gewalttäter im Zimmer des Gewaltopfers Alireza (Caspar Kamyar) einquartiert (und hinter ihm abgeschlossen) wird, ist sogar noch absurder als Alizeras Turtelei mit der verlusttraumatisierten Greta zwei Szenen später. Nach drei Folgen, bei denen fast permanent das Drehbuchpapier raschelt („eine psychische Erkrankung ist immer ein Zusammenspiel aus genetischen Faktoren, neurobiologischen Prozessen und ja, auch dem Umfeld“), setzt man daher Hoffnungen in die zweite Regisseurin Sinje Köhler. Schließlich verdanken wir ihr gelungene Serien wie Doppelhaushälfte – und werden sofort bitter enttäuscht.
Wie der gemobbte Alireza beim Ausflug ins Shoppingcenter Sekundenbruchteile vorm ersten Kuss mit Greta die Täter aus Schulzeiten trifft, ist ebenso billig konstruiert wie Fresses weicher Kern, den uns sein behutsamer Umgang mit Faltern (im Abendlicht) und Pferden (in Zeitlupe) einzuprügeln versucht. Und kleiner Tipp für Nachwuchsfilmemacher: Gelegentliche Flashbacks sind ein legitimes Hilfsmittel zeitüberlappender Erzählungen. Permanent verwendet, stehen sie einfach nur für Denkfaulheit.
Das ist schon deshalb schade, weil sich Luna Mwezi – die 2020 mit 13 Jahren als drogensüchtiges „Platzspitzbaby“ im Kino auffiel – spürbar für ihre Figur aufreibt. Auch Ronald Zehrfelds Pfleger Uwe ist in jeder Sekunde authentisch. Und dass wir viele Patienten viertelstundenweise beim Therapie-Dialog beobachten, ringt dem Boom-Genre Jugend-Medical eindrückliche Facetten ab. Wäre das anschließende Happyend kein so lächerlicher Schlag ins Gesicht aller Psychiatriepatienten, die statt fünf klischeehafter Episoden oft lebenslang mit ihrer Krankheit kämpfen. Vielleicht machen Köhler und Hoerl doch lieber was mit Ponys.
Der Begriff „Medium“, Altgriechisch für „das Mittlere“ wird seit langem schon für kommunikative Öffentlichkeit verwendet. Zu ihr gehören also – auch wenn es manch einem Presseverlag und Fernsehsender missfällt – Plattformen wie TikTok oder Spotify ebenso wie seit neuestem ChatGPT. Drei digitale Medien einer hochtourigen Öffentlichkeitskommunikation, die gerade mehr Aufmerksamkeit generieren, als ihren Logarithmen lieb ist.
TikTok zum Beispiel bietet auf seinem Marktplatz reichlich rechtsradikales Merchandising an, wie ein Rechercheteam der Süddeutschen Zeitung in einem Selbstversuch belegen konnte. Das Portal reagiert nicht auf Nachfragen. Spotify Niederlande wird mit rechtsextremer Musik geflutet, wie der Deutschlandfunkberichtet. Der Audio-Streamingdienst reagiert nicht auf Nachfragen. ChatGPT verletzt massenhaft Urheberrechte, wie das Münchner Landgericht urteilte. Der Chatbot geht dagegen, klar, in Berufung.
Ob die Ankündigung von Google, Milliarden in Deutschland – vor allem Berlin und München – zu investieren, eine bessere Nachricht ist, bleibt angesichts der demokratiezersetzenden Stoßrichtung von Mark Zuckerbergs Megakonzern Meta im Rücken noch zu klären. Definitiv besser ist dagegen die aus Entenhausen. Unterm Titel E-313 leitet Nr. 604 des Lustigen Taschenbuchs demnächst die Mobilitätswende ein und beginnt mit dem umgerüsteten Oldtimer von Donald Duck.
Parallel geht die Debatte um Deutungshoheit und Interpretationsspielräume der Netflix-Doku über Haftbefehl weiter. Einige fordern, sie als Schulstoff einzuführen. Andere plädieren angesichts der Selbstentblößung eines glorifizierten Drogenwracks für Warnhinweise aller Art. Und dann wäre da noch die neue Sky-Kooperation mit Sony. Sie ersetzt künftig die regelhafte Ausstrahlung aller HBO-Formate bei Wow. Wo die demnächst laufen, muss also noch geklärt werden.
Die Frischwoche
17. – 23. November
Bei startet morgen derweil die norwegische Dramaserie Toxic Tom. Wie der Titel andeutet, handelt sie von einem Incel, der in seiner Man-Cave jede freie Minute damit verbringt, Hass auf Frauen zu verbreiten. Darunter die populäre Fernsehmoderatorin. Und da, wie sagt man so schön: legt er sich mit der Falschen an. Klingt erstmal nicht ungewöhnlich. Aber was ab der zweiten von vier Episoden folgt, ist mit das Originellste, was eine Fiktion zu diesem Thema vielleicht jemals ersonnen hat.
Ebenfalls ungewöhnlich ist der israelische Achtteiler Fireflies. Ab Freitag explodieren darin bei Paramount+ rings um ein Wüstenstädtchen plötzlich Menschen. Verantwortlich dafür scheinen zwar die weiten Minenfelder des konfliktverseuchten Landes zu sein, an denen zwei Schulfreundinnen im Polizei- und Räumdienst arbeiten. Je länger die Serie dauert, desto mysteriöser werden allerdings mögliche Ursachen. Von denen endlich mal die wenigsten politischer Herkunft sind.
Ebenfalls unergründlich ist es, warum dem Abteilungsleiter eines Immobilienkonzerns bei der Präsentation einer Shoppingmall der Stuhl unterm Hintern zusammenbricht. In seiner eigenen Sky-Serie The Chair Company gerät Hauptdarsteller Tim Robinson daraufhin ins Hamsterrad irrer Verschwörungstheorien. Und wie der Comedian das ab Donnerstag spielt, ist mitunter zwar leicht overacted, aber auf sehr unterhaltsame Art entlarvend.
Das wird hoffentlich zeitgleich auch die dreiteilige ARD-Mediatheken-Doku Being Jérôme Boateng, in der das Erste versucht, dem frauenverachtenden Fußballprofi näherzukommen. Und noch ein ARD-Format, diesmal live: Tödliches Spiel, ein Krimi-Dinner mit Jan Josef Liefers und Axel Prahl als Gastgeber eines maximal prominent besetzten Esstischs, am dem es sicher drollig zugeht.
Tim Mälzer war nie weg und ist doch zurück: Als Coach und Kumpel im Sternekoch-Casting Mälzers Meisterklasse, wo er bei Vox diesmal mit Halbprofis in der luxuriösen Inselküche steht. Ein schnodderig-selbstbewusstes Gespräch über Tränen am Herd, Scheitern als Chance und warum er ein Steckrübeneintopf ist, vorab ersscheinen beim Medienmagazin DWDL.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Tim Mälzer, haben Sie die Disney-Serie The Bear um ein hektisches Restaurant in Chicago gesehen?
Tim Mälzer: Ja. Klar.
Und?
Dieses getriebene, lebensschwere Chaos ist mir persönlich viel zu intensiv. Ein Küchenchef, der sein Team heute noch so behandelt, ist nicht nur ein schlechter Küchenchef, sondern bald auch allein und Pleite. Rumgrölen ist Führungsschwäche, nicht Führungsstärke. Wenn du bei Jan Hartwig in der Küche stehst…
Ihr Ko-Juror bei Mälzers Meisterklasse, selber mit drei Sternen dekoriert.
… dann hörst du kaum ein lautes Wort, da läuft alles wie von selbst. Dieses ständige philosophische Überhöhen großer Köche geht mir ohnehin auf die Nerven. Du darfst gerne fürs Kochen brennen, aber am Ende geht es dabei um Essen und Trinken, fertig. Ich vergleiche das gern mit Fußball: Da sind auch elf Leute auf dem Platz, von denen alle spezielle Fertigkeiten haben, aber gewinnen können sie nur gemeinsam.
Die 50.000 Euro für Mälzers Meisterklasse mit dem Bonus eines Duells mit Ihnen bei Kitchen Impossible gewinnt allerdings nur einer oder eine.
Aber auch da ist mir ein gewisses Miteinander wichtig. Schon, um mit Frustrationsmomenten besser umzugehen, die es natürlich gibt. Mein Job dabei ist es ja, die Leute aus ihrer Komfortzone rauszuholen. In der kannst du solide Arbeit abliefern, aber nicht über dich hinauswachsen. Je häufiger du dir die Hände verbrennst, desto klarer wird, wer du bist.
Und Ihre Hände haben öfter gebrannt?
Ja. Und je heißer, desto extremer waren meine Entscheidungen. Mit dem Kochen aufzuhören, zum Beispiel, und lieber Restaurants zu führen als Küchen. Ich wollte schon immer ebenso an mich glauben wie an mir zweifeln und dabei ständig meine eigenen Konzepte verändern. Deshalb wollte ich nach all dem Herumreisen für Kitchen Impossible jetzt auch unbedingt wieder mal ins Studio. Routine ist Langeweile und beides habe ich schon immer als Gift auf dem Weg zur eigenen Persönlichkeit angesehen.
Ein Ziel, dass sie den 15 Kandidatinnen und Kandidaten der Meisterklasse in fast jeder Aufgabe mit an den Herd geben.
Und sie damit bewusst ein bisschen überfordere. Nur so gibt es Lerneffekte, und die sind das Wichtigste an jeder Arbeit.
Das Wichtigste an dieser Art Reality ist wie so oft Emotionalisierung. Ständig sind Tränen, Wut, Verzweiflung in Zeitlupe zu sehen. Gehört das einfach dazu oder stört es Sie?
Es ist Fernsehen und Fernsehen braucht Gefühle! Und ob die wahrhaftig sind, kann ich als Vater und Unternehmer mittlerweile ganz gut einordnen. Tränen, die Druck abbauen, sind meistens echt, die kann man zeigen. Tränen, die aus Missverständnissen entstehen, sind meistens falsch, die sollte man weglassen.
Nicht jede Träne ist ein Trauerfall?
Genau, aber das hier ist eine Teller-Therapie in sechs Sitzungen à 90 Minuten. Da sind Selbstzweifel vorprogrammiert. Ich selber zweifle ja ständig an mir, das grenzt ans Hochstaplersyndrom. Deshalb kann ich auch überhaupt nicht gut mit Komplimenten umgehen. Schlimmer ist eigentlich nur der Vorwurf, ich sei arrogant. Das kriegen Prominente zwar gern zu hören, falls sie nach einem harten Arbeitstag nicht mehr die Kraft haben, auch noch das 40. Selfie zu machen. Aber manchmal ist man halt einfach zu müde.
Und zwar auch langfristig, deshalb haben Sie sich öfter aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Was bringt einen Kochunternehmer am Ende weiter: Erfolg oder Scheitern?
(überlegt lang) Erfolg und Anerkennung sind schon wichtig, aber mehr und nachhaltiger lerne ich aus Fehlern. Deshalb ist mir Scheitern so wichtig. Zumal Deutschland eine so blöde Fehlerkultur hat, und das ist durch Giftspritzen auf Social Media nochmals schlimmer geworden. Viele dort können nicht gut mit Niederlagen umgehen, weiden sich aber an denen anderer. Fürchterlich! In der Meisterklasse geht es mir hingegen darum, die Kandidatinnen und Kandidaten voranzubringen. Ich beziehungsweise Jan muss zwar Leute rauswerfen, aber nicht, weil sie schlecht sind, sondern weil andere besser sind. Auch ich bin zwar manchmal destruktiv, möchte aber grundsätzlich konstruktiv sein.
Aber was entscheidet denn nun wirklich abschließend darüber, wer ein wirklich guter Koch ist – Handwerk, Persönlichkeit, Sendungsbewusstsein, Scheitern, Erfolge, Mut?
Ein guter Koch beherrscht sein Handwerk, ein herausragender Koch hat auch noch Persönlichkeit.
Kann man das in Ausbildung, Praxis oder einer Sendung wie dieser rauskitzeln, oder hat man das oder eben nicht?
So ganz genau weiß ich das gar nicht, Die Identität lässt sich allerdings nur erkennen, wenn sie ins Risiko gehen. Und das geht eigentlich nur in der Selbstständigkeit. Als Angestellter einer großen Küche Persönlichkeit herauszubilden, ist schwierig. Ich hab‘ meine deshalb erst herausgearbeitet, als ich dann mein eigener Chef war
In der ersten Folge von Mälzers Meisterklasse sollen die Kandidaten „kochen, was sie sind“. Welches Gericht sind Sie?
Hühnerfrikassee. Und Steckrübeneintopf. Das bin ich, das ist meine DNA. Wenn ich den koche, schweigen meine Gäste oft andächtig. Ich koche ihn mit der Leidenschaft und den Zutaten wie meine Oma, das lässt sich nicht verbessern.
Gleichzeitig fordern Sie in der Meisterklasse doch ständig, sich was zu trauen, ins Risiko zu gehen, vom Erwartbaren abzuweichen. Ist Omas Steckrübeneintopf nach zu kochen nicht das Gegenteil davon?
Nee, das ist mutig, weil weglassen mutig ist. Das hilft, eine Persönlichkeit herauszubilden und ihr auch treu zu bleiben, wenn man im Sturm steht. Über mich ist schon jeder Dreckkübel ausgekippt worden. Das mithilfe meiner Persönlichkeit wieder abzukriegen, ist vielleicht die größte Fertigkeit, die ich in 20 Jahren Fernsehkochen entwickelt habe.
Welche noch?
Immer absolut ehrlich zu sein. Wenn du mich auf dem Bildschirm siehst, dann bin das immer ich – auch wenn ich dort lauter bin als zuhause, wo ich beim Kochen ganz ruhig bin, eher als würde ich im Atelier stehen und ein Bild malen.
Was genau sind Sie denn nun: Entertainer, Koch, Unternehmer, Food Content Creator?
Also das letzte schon mal nicht. Im Wesentlichen bin ich Gastwirt. Und mit meiner großen Klappe? Geschichtenerzähler.
Eine Billion. Man muss die Zahl ausziffern, um sie greifbar zu machen: 1.000.000.000.000 – zwölf Nullen also. Tesla will Elon Musk also das aktuelle Bruttoinlandsprodukt Saudi-Arabiens in Aktien auszahlen, falls der Konzern die entsprechenden Gewinne erwirtschaftet. Bis 2035 könnte sich die Summe sogar auf 2,5 Billionen Dollar steigern, was wiederum Indiens BIP entspricht.
Währenddessen dürfte Musks Online-Enzyklopädie Grokipedia, die nicht von einer Schwarm-, sondern künstlichen Intelligenz mit Informationen gefüttert wird, mit den Milliarden ihres Erfinders bald den globalen Wissenstransfer beeinflussen. Schon jetzt sortiert der KI-Chatbot Grok seine Informationen ideologisch so vor, dass rechte Inhalte überwiegen – zumindest, sofern sie wie so oft nicht stumpf vom Vorbild Wikipedia abgepaust wurden.
Dieser algorithmische Copy-and-Paste-Kapitalismus verachtet jede Form des Urheberrechts mit einer Kaltschnäuzigkeit, die Milliardäre zu Billionären macht und Politiker zu Königen. Wer daran zweifelt, muss sich nur mal Karoline Leavitts digital bestens dokumentierte Schimpftiraden ansehen, in denen die Sprecherin des US-Präsidenten Lüge an Lüge an Lüge reiht und Journalist*innen, die das in Frage stellen, zu Feinden des Volkes erklärt. Wohlgemerkt: Auf Pressekonferenzen.
Und jetzt bekam sie auch noch neue Nahrung von belogener Seite. Weil die BBC einen Beitrag über den Kapitol-Sturm am 6. Januar 2021 mindestens missverständlich geschnitten hatte, sind Generaldirektor Tim Davie und Nachrichtenchefin Deborah Turness zurückgetreten. Der Manipulationsgrad lag zwar im Promille-Bereich gewöhnlicher Trump-Lügen. Er war aber gravierend genug, um Feuer ins Öl rechtspopulistischer Angriffe auf den Pluralismus zu gießen. Und was macht das lineare Fernsehen sonst so?
Es kriegt künftig Konkurrenz von Netflix, das durch die Übernahme von Warner Bros Discovery ins klassische Filmgeschäft einsteigen will. Ähnlich wie stationäre Amazon-Shops ist das ein rückwärtsgewandter Bruch eigener Geschäftsmodelle, die es traditionellen Playern am Markt noch schwerer als ohnehin machen. Nicht zu verwechseln übrigens mit der ersten Papier-Ausgabe des Satire-Portals Postillion, das einfach nur ein drolliger Gimmick ist.
Die Frischwoche
10. – 16. November
Gewohnt saftig ist die 2. Staffel von Maxton Hall bei Prime Video, worüber wir hier ansonsten lieber schweigen. Schon, um mehr Gewicht auf Die Nibelungen bei RTL+ zu legen. Der Sechsteiler mit Jannis Niewöhner als moralisch verkommener Siegfried überrascht nicht nur durch sein exzellentes Setdesign, sondern eine angenehm unpopulistische Entschlackung germanischer Mythen.
Ebenfalls überraschend: The other gAIrl, ein sechsteiliges Komödienstadl um Tom Beck als KI-Programmierer, der sich in einen Chatbot verliebt. Weil seine Frau von Becks echter Gattin Chryssanthi Kavazi verkörpert wird, spielen sie ihre Eheprobleme in der ZDF-Mediathek verblüffend authentisch. Geradezu brillant ist derweil die Apple-Serie Pluribus von Vince Gilligan, der Reah Seehorn darin neuen Folgen lang gegen ein Glücksvirus ankämpfen lässt, das die restliche Weltbevölkerung zu einer woken Achtsamkeitsmasse macht.
Auf andere Art absolut überzeugend ist die Arte-Serie Ana & Oscar über ein spanisches Paar, dessen Hop-on-hop-off-Beziehung zehn Jahre jeweils an Silvester betrachtet wird. Weil obendrein die ARD-Historisierungen Sturm kommt auf (ARD) und Nürnberg 45 fabelhaft vom Anfang und Ende des Nationalsozialismus erzählen, hat es die aktuelle Woche schwer mit Empfehlungen.
Ein Selbstläufer ist ab Mittwoch bei Paramount+ das Finale von Yellowstone. Immerhin bemerkenswert gerät die Psychothriller-Serie The Beast in Me mit Homeland-Star Claire Danes ab Donnerstag bei Netflix. Ob das dortige Biopic Mrs Playmen über ein reales Erotik-Magazin der Siebzigerjahre ab Mittwoch was taugt, durfte man vorab nicht selber prüfen. Der ARD-Sechsteiler Stabil dockt Freitag ein bisschen zu aufdringlich am Boom verhaltensauffälliger Jugend-Medicals à la Euphoria an. Dafür erklärt uns das Erste die Ereignisse vom 13. November 2015 gerade in der klugen Doku Terror.Fußball.Paris.
Kurz, nachdem er im ARD-Biopic Die Nichte des Polizisten einen Neonazi verkörpert hatte, spielt Jonathan Berlin im großartigen Dokudrama Nürnberg ‘45 an gleicher Stelle den Auschwitz-Überlebenden und Prozess-Beobachter Ernst Michel. Ein Gespräch über reale existierende Figuren, seine Angst davor, ihnen nicht gerecht zu werden, und was eine KZ-Uniform mit Darstellern macht.
Von Jan Freitag
Jonathan Berlin, Sie sind unmittelbar hintereinander als Neonazi und Holocaust-Überlebender in ARD-Filmen zu sehen. Sind das einfach nur zwei unterschiedliche Figuren, die man mit seinem Rüstzeug als Schauspieler füllt?
Jonathan Berlin: Die Reihenfolge der Ausstrahlung war zufällig und beim Dreh nicht in der Form absehbar. Beide Projekte, so unterschiedlich sie sind, haben schon einen speziellen Zugang erfordert, den ich so noch nicht kannte. Auch inhaltlich haben sie mich länger als andere Figuren beschäftigt. Bei der Nichte des Polizisten lag das auch daran, dass sich die Realisierung seit 2018 immer wieder verzögert hatte.
Warum?
Unter anderem wegen des damals noch laufenden Zschäpe-Prozesses im NSU-Kontext. Selbst beim Drehen wurde lange gewartet mit einer Startmeldung, weil die Reaktionen – gerade aus rechten Kreisen – schwer einschätzbar waren. Was das schauspielerische Rüstzeug angeht, ist das einfach ein Balanceakt bei einer solchen Figur. Man läuft schnell Gefahr, etwas auszustellen und in schauspielerische Fallen zu treten. Zum Glück war da das sehr präzise geschriebene Drehbuch und eine sehr feine Regie.
Ist der Grat bei einem jüdischen NS-Opfer wie Ernst Michel, der beim Nürnberger Prozess 1945 als Reporter über die Täter berichtet, ähnlich schmal?
Mindestens. Deshalb war essenziell, dass seine Tochter Lauren und Seweryna Szmaglewskas Sohn Jacek am Projekt beteiligt waren. Für mich hat das dem Projekt eine andere Form der Legitimation gegeben, die ich in diesem Kontext als zwingend empfand. Dementsprechend akribisch bereitet man sich natürlich auf so eine Figur vor.
Ernst Michl ist ein jüdisches Opfer aus Zeiten Jahrzehnte vor Ihrer Geburt, der Neonazi Duric ist dagegen zwar ebenfalls Millennial, steht aber politisch auf der völlig entgegengesetzten Seite als Sie. In wen war es leichter, sich hineinzufühlen?
Mir fällt es schwer, das gegenüberstellend zu beantworten. Duric ist in jeglicher Form das Gegenteil meiner Werteansichten. Er steht für all das, was die AfD in den letzten Jahren an Populismus und Rassismus geschürt hat. Insofern musste ich die Figur sehr handwerklich nehmen und setze woanders an. Im Kontrast dazu ist Ernst Michel jemand, vor dem ich kaum größeren Respekt haben könnte. Sein Schaffen beeindruckt mich zutiefst. Und im Angesicht dessen, was ihm angetan wurde, kann ich lediglich all meine Empathie und Hochachtung aufwenden, um mich seiner Biographie anzunähern. Es wäre vermessen zu sagen, ich könnte mich in ihn hineinfühlen; ich kann ihn lediglich verkörpern. Und auch davor hatte ich eine gewisse Scheu. Und Angst.
Angst?
Ernst Michel nicht gerecht zu werden. Auch weil seine Schilderungen für die Schicksale so vieler anderer stehen. Wie gesagt: es ist nicht nachzuempfinden, man kann sich nur annähern.
Hilft es dabei, eine KZ-Uniform anzuziehen?
Das würde ich so in keinem Fall sagen, denn auch das ist ein äußerst ambivalenter Punkt, über den ich mit Regie und Produktion am meisten gesprochen habe, denn der Grat solcher Szenen ist schmal und heikel. Es ist ja kein Kostüm, sondern ein in Stoff erkennbares Schicksal vieler Millionen Menschen. Das muss in jedem einzelnen Moment klar sein.
Kann man mit so vielen Bürden auf der Schulter und Menschen, die Sie darüber hinweg beobachten, überhaupt einfach das tun, was Ihren Beruf ausmacht, nämlich spielen?
Ich würde es nicht als Bürde bezeichnen, schlichtweg als eine Verantwortung der Figur und in diesem Fall einer realen Persönlichkeit gegenüber. Wie es mir damit ging, muss egal sein. Ich kann nur ins aufrichtige Zwiegespräch mit der Figur gehen und mich fragen, wie Menschen zu solchen Verbrechen fähig sein können und wie jemand wie Ernst Michel danach trotzdem ein lebensbejahendes Leben führen konnte.
Ist die Verantwortung für und der Respekt vor realen Figuren grundsätzlich größer als bei fiktiven?
Ich denke schon. Aber auch die Frage, wie oft Biographien schon erzählt wurden, spielt eine Rolle. Wenn sie noch nicht sonderlich bekannt ist, ist die Tragweite einer Erzählung noch größer. Bei fiktiven Charakteren erlaube ich mir, mehr von mir auszugehen und freier zu gestalten. Es sind schon zwei andere Dinge, auch wenn man das im Moment des Spielens natürlich ausblenden muss.
Dabei fällt auf, dass Sie zwar sehr viele sehr unterschiedliche Rollen gespielt haben, inklusive dieser hier aber mittlerweile sechs, die ums Jahr 1945 herum handeln. Angefangen mit dem ZDF-Nachkriegsdrama Tannbach vor zehn Jahren. Gibt es so etwas wie ein historisches Gesicht, das bestimmte Epochen gut widerspiegelt?
Das habe ich mich auch schon öfter gefragt, aber diese Kategorisierung überlasse ich anderen. Vielleicht zieht man auch eine bestimmte Art von Konflikten an. Sicherlich interessiert mich an diesen Stoffen, dass dort ein Wertesystem gänzlich neu verhandelt wird. Außerdem ist es ja nicht so, dass diese Themen der Vergangenheit angehören. Erst kürzlich haben einige Unions-Politiker dafür plädiert, die Brandmauer zur AfD abzubauen. Da frage ich mich, ob die sich ernsthaft mit der Geschichte und den Abgründen des eigenen Landes auseinandergesetzt haben. Genau aus diesem Grund haben meine Kollegin Luisa-Céline Gaffron und ich Anfang des Jahres einen offenen Brief gegen das Einreißen der Brandmauer zur AfD initiiert.
Den Hunderte Kulturschaffender unterzeichnet haben.
Genau. Wir erleben gerade aufs Neue, wie Minderheiten angegriffen werden, Antisemitismus zunimmt, Rassismus wächst, Gedenkstätten attackiert werden und gleichzeitig gut 25 Prozent eine gesichert rechtsextremistische Partei wählen würden. Wir sind alle in der Verantwortung, genau hinzusehen. Mich selbst beschäftigt seit einiger Zeit ein massiver Missstand in Günzburg, der Stadt, in der ich als Jugendlicher aufgewachsen bin. Wissen Sie, wer noch von dort kommt?
Nein.
Josef Mengele.
Oh, dem Ihre Figur in Nürnberg 45 leibhaftig in Auschwitz begegnet.
Obwohl sich die Stadt mit diesem Erbe beschäftigt und eindrückliche Mahnmäler zu Mengeles Verbrechen errichtet hat, sind noch zwei Günzburger Straßen nach Verwandten Mengeles benannt. Sein Vater Karl ist 1933 in die NSDAP eingetreten. Sein Bruder Alois soll Mengele nach dessen Flucht finanziell unterstützt haben. Wie kann es sein, dass sie als Namensgeber geduldet werden? Ich fordere den Stadtrat daher auf, diese Straßen endlich umzubenennen.
Mit Erfolg?
Das steht noch aus, aber ich befinde mich dazu gerade im Austausch und versuche, das Thema erneut auf den Tisch zu bringen. Schließlich sehen viele in der Stadt die Straßennamen ebenso kritisch und sprechen sich gegen den Missstand aus.
Betreibt dieses Engagement gegen rechts nur der Mensch oder auch der Schauspieler Jonathan Berlin?
Beides bedingt einander. Ich finde, dass man für die Figuren, die man spielt, auch im Hier und Jetzt eine Verantwortung hat, wenn sie realpolitische Kontexte treffen. Wenn ich ein Projekt wie Nürnberg ‘45 zusage, aber nichts gegen die beiden Mengele-Straßen täte, dann würde ich doch letztlich die Figur, nein, Ernst Michel als Person, verraten. Diese Verantwortung besteht zwar auch ohne diese Projekte, aber sie vergrößern sie erheblich, finde ich.
Wussten die Verantwortlichen von ARD und Zeitsprung vorm Casting als Ernst Michel, dass Sie im selben Ort wie Josef Mengele großgeworden sind?
Meines Wissens nicht, aber ich habe es sehr früh in der Vorbereitung angesprochen.
Und was hat es mit Ihnen gemacht, von dieser Konstellation im Drehbuch zu lesen?
Ich würde sagen, es hat mich gleichzeitig zurückschrecken und auf den Stoff zubewegen lassen. Denn ganz klar war: diese Figur zu spielen verpflichtet dazu, diesen Missstand vehementer anzugehen. Dem Bürgermeister der Stadt habe ich auch deshalb bereits die Umbenennung in die Ernst-Michel-Straße vorgeschlagen. Denn wir haben es Personen wie ihm zu verdanken, dass Worte für das gefunden wurden, wofür es kaum Worte gibt.
Der neue ARD-Podcast Hateland berichtet in seiner ersten Staffel über die Reichsbürgerbewegung zwischen Verschwörungsidiotie und Umsturzfantasie. Eine dringende Hörempfehlung.
Von Jan Freitag
Verschwörungstheorien, die ja in der Regel eher Verschwörungsidiotien sind, haben oft etwas angenehm Schrulliges, tendenziell Harmloses an sich. Wer ernstlich glaubt, die Eliten der Politik, Wirtschaft, Kultur würden das Volk mit Chemtrails oder Microchips manipulieren und währenddessen hormonell optimiert vom Adrenochrome entführter Kinder den „großen Austausch“ durch außerirdische Echsen oder andere Ausländer vorbereiten – wer solchen Irrsinn für voll nimmt, verdient also mitleidiges Lächeln statt erhöhter Aufmerksamkeit.
Normalerweise. Denn wenn sich der neue ARD-Podcast Hateland bereits nach 45 Sekunden dem absoluten Ausnahmefall nähert, klingt er frühzeitig alles andere als lustig. Anmoderiert vom Talkshow-Promi Louis Klamroth, begibt sich der investigative WDR-Reporter Martin Kaul auf die Spuren einer besonders ideologischen Verschwörungstheorie. Vor rund 15 Jahren aus dem Kellerloch des kalten Krieges ans Licht der wiedervereinigten Aufmerksamkeitsökonomie gekrochen, lehnen Reichsbürger die Bundesrepublik Deutschland inklusive all ihrer Institutionen, Vertreter und Gesetze kategorisch ab.
Das klingt, wirkt, ist alles auf seltsam senile Art realsatirisch. Aber ist es auch eine Bedrohung für Demokratie und Gesellschaft? Offenbar schon – das zeigt eine Schießerei, die der Nachbar eines gewissen Markus Leykam bei dessen Festnahme Anfang 2023 mit seinem Handy aufgenommen hat und nun Martin Kaul vorspielt. Mit einem Schnellfeuergewehr verletzte der reichsbürgerliche Revolutionär mehrere Polizisten. Und wie die Schüsse zu Beginn von Hateland durchs Treppenhaus am Rande Reutlingens hallen, wird klar: Diese Verschwörungsideologie ist weder lustig noch harmlos, sondern lebensgefährlich. Wie sehr, zeigen die sechs Folgen à 33 bis 47 Minuten danach.
Unterm Staffel-Titel „Deep State: Vom Elite-Soldaten zum Reichsbürger“ porträtieren sie vordergründig den früheren KSK-Offizier Rüdiger von Pescatore. Dessen Patriotische Union um den Operetten-Diktator Heinrich XIII. Prinz Reuß wurde sie 2022 von 3000 Polizeibeamten an 130 Einsatzorten ausgehoben. Vorwurf: Vorbereitung eines bewaffneten Umsturzes. Es war die größte Razzia gegen politische Extremisten seit RAF-Zeiten – und doch nur ein kleiner Stein im Mosaik rechter Bewegungen, die der westlichen Demokratie seit 20 Jahren den Garaus machen. Dass ihm die ARD einen Podcast widmet, der die Rechercheure von Baden-Württemberg über Berlin bis nach Brasilien führt, ist trotzdem überaus berechtigt.
Die Reichsbürgerbewegung mag schließlich ein weit verstreuter Haufen wirrer Revisionisten sein, die von 336 Bataillonen schwer bewaffneter Revolutionäre am „Tag X“ faseln, aber nicht mal genügend Munition für ordentliche Schießübungen gesammelt haben. Doch je tiefer Martin Kaul mit seinem Hund Holly im VW-Bulli ihre Strukturen freilegt, je mehr Wegbegleiter, Zeitzeugen, Ermittelnde und Sympathisanten der Journalist trifft, je mehr Informationen über Genese, Zustand, Ziele der Reichsbürgerbewegung zutage treten – desto massiver zeigt sich das „Luftschloss“, wie die Bundesanwaltschaft Prinz Reuß‘ Terrorzelle inoffiziell nennt.
Damit reiht sich Hateland ebenso erhellend wie kurzweilig, vom Tonfall her mitunter sogar fast amüsant in eine Vielzahl baugleicher Formate ein, die sich dem hochbeschleunigten Rechtsruck westlicher Demokratien widmen. Wie Khesrau Behroz im vielfach preisgekrönten Podcast Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen, konzentriert sich Martin Kaul dabei zwar auf eine Figur. Der unehrenhaft entlassene KSK-Offizier Rüdiger von Pescatore ist aber nur das militärische Schlachtross einer Umsturzbewegung, deren politischer Arm AfD parallel Zivilgesellschaft und Parlamente perforiert.
Mit der geballten Kraft des öffentlich-rechtlichen Informationsapparates im Rücken, erzählt „Deep State: Vom Elite-Soldaten zum Reichsbürger“ demnach fast vier Stunden lang unterhaltsame Verschwörungsgeschichten voller Dummheitsstolz und Wahnvorstellung, Astrologie und Außerirdischen, Zustimmung der Bevölkerung und Fantasiepanzern vor Berlin, also „ein bisschen Scheinwelt und ein bisschen Schießtraining“, wie es der Ich-Erzähler Kaul mal ausdrückt. Zum Lachen ist sein herausragender Podcast trotz aller Leichtigkeit jedoch selten. Wenn er die Frage, „wo hört Spinnerei auf, wo fängt Terrorvorbereitung an?“ damit beantwortet, wie leicht militante Reichsbürger in Bundeswehrkasernen oder Bundestagskeller vordringen, um ihre Revolution vorzubereiten, ist nämlich allerhöchste Wachsamkeit geboten. Das nächste Hateland wird zeigen, ob daraus langsam mal Alarmbereitschaft werden sollte.