Podcast Hateland: Reichsbürger & Tag X
Posted: November 4, 2025 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |Leave a commentWahnvorstellungen im Bundestagskeller
Der neue ARD-Podcast Hateland berichtet in seiner ersten Staffel über die Reichsbürgerbewegung zwischen Verschwörungsidiotie und Umsturzfantasie. Eine dringende Hörempfehlung.
Von Jan Freitag
Verschwörungstheorien, die ja in der Regel eher Verschwörungsidiotien sind, haben oft etwas angenehm Schrulliges, tendenziell Harmloses an sich. Wer ernstlich glaubt, die Eliten der Politik, Wirtschaft, Kultur würden das Volk mit Chemtrails oder Microchips manipulieren und währenddessen hormonell optimiert vom Adrenochrome entführter Kinder den „großen Austausch“ durch außerirdische Echsen oder andere Ausländer vorbereiten – wer solchen Irrsinn für voll nimmt, verdient also mitleidiges Lächeln statt erhöhter Aufmerksamkeit.
Normalerweise. Denn wenn sich der neue ARD-Podcast Hateland bereits nach 45 Sekunden dem absoluten Ausnahmefall nähert, klingt er frühzeitig alles andere als lustig. Anmoderiert vom Talkshow-Promi Louis Klamroth, begibt sich der investigative WDR-Reporter Martin Kaul auf die Spuren einer besonders ideologischen Verschwörungstheorie. Vor rund 15 Jahren aus dem Kellerloch des kalten Krieges ans Licht der wiedervereinigten Aufmerksamkeitsökonomie gekrochen, lehnen Reichsbürger die Bundesrepublik Deutschland inklusive all ihrer Institutionen, Vertreter und Gesetze kategorisch ab.
Das klingt, wirkt, ist alles auf seltsam senile Art realsatirisch. Aber ist es auch eine Bedrohung für Demokratie und Gesellschaft? Offenbar schon – das zeigt eine Schießerei, die der Nachbar eines gewissen Markus Leykam bei dessen Festnahme Anfang 2023 mit seinem Handy aufgenommen hat und nun Martin Kaul vorspielt. Mit einem Schnellfeuergewehr verletzte der reichsbürgerliche Revolutionär mehrere Polizisten. Und wie die Schüsse zu Beginn von Hateland durchs Treppenhaus am Rande Reutlingens hallen, wird klar: Diese Verschwörungsideologie ist weder lustig noch harmlos, sondern lebensgefährlich. Wie sehr, zeigen die sechs Folgen à 33 bis 47 Minuten danach.
Unterm Staffel-Titel „Deep State: Vom Elite-Soldaten zum Reichsbürger“ porträtieren sie vordergründig den früheren KSK-Offizier Rüdiger von Pescatore. Dessen Patriotische Union um den Operetten-Diktator Heinrich XIII. Prinz Reuß wurde sie 2022 von 3000 Polizeibeamten an 130 Einsatzorten ausgehoben. Vorwurf: Vorbereitung eines bewaffneten Umsturzes. Es war die größte Razzia gegen politische Extremisten seit RAF-Zeiten – und doch nur ein kleiner Stein im Mosaik rechter Bewegungen, die der westlichen Demokratie seit 20 Jahren den Garaus machen. Dass ihm die ARD einen Podcast widmet, der die Rechercheure von Baden-Württemberg über Berlin bis nach Brasilien führt, ist trotzdem überaus berechtigt.
Die Reichsbürgerbewegung mag schließlich ein weit verstreuter Haufen wirrer Revisionisten sein, die von 336 Bataillonen schwer bewaffneter Revolutionäre am „Tag X“ faseln, aber nicht mal genügend Munition für ordentliche Schießübungen gesammelt haben. Doch je tiefer Martin Kaul mit seinem Hund Holly im VW-Bulli ihre Strukturen freilegt, je mehr Wegbegleiter, Zeitzeugen, Ermittelnde und Sympathisanten der Journalist trifft, je mehr Informationen über Genese, Zustand, Ziele der Reichsbürgerbewegung zutage treten – desto massiver zeigt sich das „Luftschloss“, wie die Bundesanwaltschaft Prinz Reuß‘ Terrorzelle inoffiziell nennt.
Damit reiht sich Hateland ebenso erhellend wie kurzweilig, vom Tonfall her mitunter sogar fast amüsant in eine Vielzahl baugleicher Formate ein, die sich dem hochbeschleunigten Rechtsruck westlicher Demokratien widmen. Wie Khesrau Behroz im vielfach preisgekrönten Podcast Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen, konzentriert sich Martin Kaul dabei zwar auf eine Figur. Der unehrenhaft entlassene KSK-Offizier Rüdiger von Pescatore ist aber nur das militärische Schlachtross einer Umsturzbewegung, deren politischer Arm AfD parallel Zivilgesellschaft und Parlamente perforiert.
Mit der geballten Kraft des öffentlich-rechtlichen Informationsapparates im Rücken, erzählt „Deep State: Vom Elite-Soldaten zum Reichsbürger“ demnach fast vier Stunden lang unterhaltsame Verschwörungsgeschichten voller Dummheitsstolz und Wahnvorstellung, Astrologie und Außerirdischen, Zustimmung der Bevölkerung und Fantasiepanzern vor Berlin, also „ein bisschen Scheinwelt und ein bisschen Schießtraining“, wie es der Ich-Erzähler Kaul mal ausdrückt. Zum Lachen ist sein herausragender Podcast trotz aller Leichtigkeit jedoch selten. Wenn er die Frage, „wo hört Spinnerei auf, wo fängt Terrorvorbereitung an?“ damit beantwortet, wie leicht militante Reichsbürger in Bundeswehrkasernen oder Bundestagskeller vordringen, um ihre Revolution vorzubereiten, ist nämlich allerhöchste Wachsamkeit geboten. Das nächste Hateland wird zeigen, ob daraus langsam mal Alarmbereitschaft werden sollte.
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