Stabil: Psychiatrie & Happyend

Feelgood-Depressionen

Die ARD-Serie Stabil um ein halbes Dutzend Insassen einer Jugendpsychiatrie dockt an Formate wie Euphorie oder Hungry an. Junges Seelenleid wird von erwachsenen Filmemachern darin endlich mal ernst genommen. Das tut der deutsche Sechsteiler im Grunde auch – und landet dennoch im Bällebad fiktionaler Klischees. 

Von Jan Freitag

Im Zeitalter des neuen Kinos Serie hat es eine Regel zur Gesetzeskraft gebracht: Nie spoilern! Sie gilt also auch für Stabil. Wenn die ARD den Sechsteiler heute online stellt, verböte es sich deshalb normalerweise von selbst, das finale Kapitel der Geschichte einer Jugendpsychiatrie und ihrer Insassen zu verraten. Einerseits. Andererseits gibt es eine Art feuilletonistischer Fürsorgepflicht, das Publikum vor verschwendeter Lebenszeit zu warnen. Nach fünfeinhalb Folgen existenzbedrohender Probleme nämlich gleiten nahezu alle Hauptfiguren nicht nur lachend ins Happyend; zwei davon genießen gar die Aussicht auf ein sorgenfreies Leben in trauter Zweisamkeit.

Man kann, nein: muss von dieser Verharmlosung der dystopischen Krankheit Depression in all ihren Facetten also nur abraten. Dabei ist die Thematik durchaus verheißungsvoll. Nach einem Suizidversuch landet Greta (Luna Mwesi) in der psychiatrischen Klinik von Dr. Kim (Abak Safaei-Rad). Sechs halbe Stunden kämpft die 16-Jährige fortan mit einer Gruppe Gleichaltriger buchstäblich ums eigene Seelenheil. Zugleich aber versucht sie im geschlossenen System medizinisch-sozialer Kontrolle, das weder Außenkontakt noch Intimitäten gestattet, erwachsen zu werden. Ein pubertärer Spagat, den zurzeit reihenweise fiktionaler Formate wagen.

Aktuell etwa brillieren Derya Akyol und Sira-Anna Faal im fabelhaften RTL+-Reboot zur US-Serie Euphoria als mental kollabierende Prototypen der Generation Z. Ein Jahr zuvor ließ ZDFneo die essgestörte Ronnie (Zoe Magdalena) in Hungry an sich und ihrer Welt verzweifeln, nachdem Caroline Links Meisterwerk Safe an gleicher Stelle für zwei Psychologen und ihre Patienten Preise abgeräumt hatte. Gerade erst wurde Staffel 2 des Genre-Pioniers Club der roten Bänder abgedreht. Und jede dieser Serien wirft ein ebenso glaubhaftes wie anregendes Bild auf Jugendliche im Dauerstress ihrer krisengebeutelten Epoche.

Wenn sich Regisseurin Teresa Fritzi Hoerl drei der sechs Folgen Stabil selber aufgeschrieben hat, könnte es auf dem gebührenfinanzierten Online-Portal daher gehaltvoll werden. Schließlich trägt die Serie durch ihre Existenz allein schon dazu bei, das Chaos im Kopf Heranwachsender für voll zu nehmen. Schade nur, dass Hoerls Vorqualifikation in einer cremigen Melange aus Werbefilmen, Feelgood-Movies und dem gesendeten Pony-Fanzine Reiterhof Wildenstein besteht. Was die Hauptautorin mithilfe dreier Kolleginnen verzapft, hat deshalb den Tiefgang einer mittelmäßigen Vorabendserie. Schlimmer noch: inhaltlich grenzt sie oft an Körper-, Geist- und Seelenverletzung. Es nimmt bereits in Minute zwei seinen Anfang.

Vom vermeintlich mitverschuldeten Tod ihrer Schwester Nele lebensmüde, rast Greta mit dem Motorroller frontal gegen die Wand. Dass sie dabei nur zwei, drei dekorative Cuts im makellos geschminkten Gesicht davonträgt, ist nur das erste einiger Dutzend schlecht gescripteter Melodramen. Rückstandslos genesen nämlich zieht die 16-Jährige in eine Kinder und Jugendpsychiatrie, wo ihr eine Betreuerin „Uwe, dein Bezugspfleger, hier in der Kinder- und Jugendpsychiatrie“ vorstellt.

Das bevormundende Erklärbär-Fernsehen deutscher Art schießt sofort aus allen Didaktik-Rohren und sichert es mit einem Kugelhagel stereotyper Charaktere ab. Der spielsüchtige Killer (Uhud Karakoç) heißt wie sein Egoshooter und ist natürlich übergewichtig. Die autoaggressive Michelle (Katharina Hirschberg) wäscht sich nie und nascht dazu Chilischoten. Ein exoaggressiver Hooligan namens Fresse (Beren Zint) schlägt um sich und trägt Goldkettchen. Keine drei Sekunden nach ihrer Einführung packt jede Figur all ihre Macken auf den Stationstisch, damit auch ja niemand Zweifel daran hat, wie krass so eine Einrichtung ist.

Für alle inszenatorischen Mängel und Widersprüche fehlen hier Zeit und Raum. Nur so viel: dass der Gewalttäter im Zimmer des Gewaltopfers Alireza (Caspar Kamyar) einquartiert (und hinter ihm abgeschlossen) wird, ist sogar noch absurder als Alizeras Turtelei mit der verlusttraumatisierten Greta zwei Szenen später. Nach drei Folgen, bei denen fast permanent das Drehbuchpapier raschelt („eine psychische Erkrankung ist immer ein Zusammenspiel aus genetischen Faktoren, neurobiologischen Prozessen und ja, auch dem Umfeld“), setzt man daher Hoffnungen in die zweite Regisseurin Sinje Köhler. Schließlich verdanken wir ihr gelungene Serien wie Doppelhaushälfte – und werden sofort bitter enttäuscht.

Wie der gemobbte Alireza beim Ausflug ins Shoppingcenter Sekundenbruchteile vorm ersten Kuss mit Greta die Täter aus Schulzeiten trifft, ist ebenso billig konstruiert wie Fresses weicher Kern, den uns sein behutsamer Umgang mit Faltern (im Abendlicht) und Pferden (in Zeitlupe) einzuprügeln versucht. Und kleiner Tipp für Nachwuchsfilmemacher: Gelegentliche Flashbacks sind ein legitimes Hilfsmittel zeitüberlappender Erzählungen. Permanent verwendet, stehen sie einfach nur für Denkfaulheit.

Das ist schon deshalb schade, weil sich Luna Mwezi – die 2020 mit 13 Jahren als drogensüchtiges „Platzspitzbaby“ im Kino auffiel – spürbar für ihre Figur aufreibt. Auch Ronald Zehrfelds Pfleger Uwe ist in jeder Sekunde authentisch. Und dass wir viele Patienten viertelstundenweise beim Therapie-Dialog beobachten, ringt dem Boom-Genre Jugend-Medical eindrückliche Facetten ab. Wäre das anschließende Happyend kein so lächerlicher Schlag ins Gesicht aller Psychiatriepatienten, die statt fünf klischeehafter Episoden oft lebenslang mit ihrer Krankheit kämpfen. Vielleicht machen Köhler und Hoerl doch lieber was mit Ponys.



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