Reisereportage: Osttirol & Wasserkraft

Im Rausch der Isel

Die Isel ist das letzte freifließende Alpengewässer und nicht nur deshalb Objekt wirtschaftlicher Interessen. Doch gegen die gibt es seit jeher Widerstand. Eine Reise vom Gletscher zur Mündung eines ganz besonderen Flusses im Osttiroler Nationalpark Hohe Tauern.

Von Jan Freitag

Um uns Menschen zu zeigen, was Wasser vermag, wenn man es lässt, hat sich die Isel offenbar diesen Findling ins Bett gelegt. Ein mächtiger Stein, der Osttirols spannendstes Fließgewässer verstopft: tonnenschwer, nilpferdgroß, kaum zu bewegen – es sei denn von jener Lawine, die ihn 1985 mitgerissen und in der ausgespülten Klamm eines Flusses vergessen hat, den nichts und niemand aufhalten kann. So schien es seit Menschengedenken. Und jetzt? Dazu später mehr.

An dieser Stelle reicht es, einem Wildbach zu lauschen, der sich vom Kees, wie Gletscher hier heißen, 57 Kilometer ostwärts bewegt, bevor ihn die Drau gemächlich zur Donau befördert. Hier oben aber, an den Umbalfällen, ist nichts gemächlich, hier ist alles ein Tosen, Toben, Brüllen, ein Wirbeln, Strudeln, Zischen. „Hörst du?“, fragt Matthias Berger und erwartet schon deshalb keine Antwort, weil sie im Lärm von bis zu 20 Kubikmeter Wasser pro Sekunde unterginge. „Das ist der Charakter der Isel“.

Genau zehn Jahre ist der Eingeborene nun Ranger im Nationalpark Hohe Tauern, und diese Erkenntnis lehrt ihn Osttirols flüssige Drama Queen jeden Tag davon: „Er hat ein Herz, ein Gedächtnis, eine Seele.“ Wie er das zwischen den majestätischen Gipfeln von Großglockner und Großvenediger sagt, klingt es nüchtern betrachtet zwar arg esoterisch. Ganze gewiss aber klingt es so folkloristisch, wie Naturburschen mit Seppelhut und Wanderstock aus Städtersicht nun mal wirken, wenn sie von ihrer Heimat schwärmen als sei die lebendig.

Nur: Wer den Charakter der Isel vom Ursprung bis zur Mündung Meter für Meter abwandert, abradelt, abreitet, abfährt, wer sich also darauf einlässt, diesen Fluss wirklich zu spüren, erkennt in ihm tatsächlich etwas Herzliches, eben Beseeltes, also Lebendiges. Schon der Weg durch Österreichs größten Nationalpark zur Quelle, so mundgerecht er am gut gefüllten Parkplatz Prälaten auch zubereitet wurde, ist von einer wilden Schönheit, die man förmlich im Gesicht spürt. Fließt das Wasser talwärts nur noch zügig durch süße Alpendörfer, wird es in den Steilstufen nahe der Kernzone schließlich so rasant, dass die Gischt spritzt wie in der Autowaschanlage.

Matthias Berger wischt sich fröhlich die Isel von der Stirn und erklärt, wo es trockener sei. Er kennt hier jeden Fels, jede Biegung, jedes Gewächs. Vor allem aber liebt er all dies mit unverbrüchlicher Hingabe. Dennoch hält der 30-Jährige das Lauftempo ausgerechnet dort am höchsten, wo die Isel besonders atemberaubend ist. Immerhin geht es ihm bei dieser Tour um etwas anderes als bloß ein natürliches Schauspiel; es geht um die Natur an sich. Ums Ganze. Und das ist nirgends spürbarer in Gefahr als am Fuße der imposanten Dreiherrenspitze, die sich nach einer anspruchsvollen, aber kinderfreundlichen Wanderung mit Übernachtung in der historischen Clarahütte aus der Wolkendecke schält.

Bevor das berggesäumte Rinnsal dank Dutzender oft spektakulärer Wasserfälle zu jenem Strom anschwillt, den man als einzigen Gletscherfluss Tirols raften kann, speist sie der Umbalkees auf 2400 Metern Höhe zunächst mal mit Schmelzwasser. Zu viel Schmelzwasser. „Viel zu viel“, klagt Berger. Überm fahlen Mond macht ein mächtiger Bartgeier Jagd auf den ähnlich großen Steinadler, als er zur grauen Gletscherzunge zeigt. Allein im Jahrhundertsommer 2003 verlor sie 86 Meter. Kann passieren, sagt der sehnige Ranger vom sanften Gemüt und kaut seine Speckjause. Doch weil alle Sommer nun Jahrhundertsommer sind, müsse der Frühling „dringend mal draufschneien“. Nur: es schneit ja nicht mal mehr im Winter richtig. Der Kees schwindet, und ohne Kees, keine Isel. So einfach, so bitter ist die Gleichung. Den Naturburschen Berger bringt sie trotzdem nicht aus der Ruhe. Warum auch?

Die Reise vom Anfang zum Ende der Isel mag eine zum Wesen des Wassers sein, das unsere Spezies längst mehr beeinflusst als jede Jahreszeit. Doch sie führt auch ins Gemüt von Anwohner wie Matthias Berger, der da, wo das bemooste Felsgestein keine drei Generationen zuvor noch unter Eis begraben lag, meint: „Wir müssen akzeptieren, dass Natur Veränderung ist.“ Pause. „Ob mit oder ohne uns“. Doch grad weil der Wandel dazugehört, bekämpft er ihn so vehement. Schon aus Familientradition. Seit jeher ist die Isel Ziel lokaler Träume von Fortschritt und Technik. Erst 2012 sollte sie für mal wieder aufgestaut werden, wogegen schon Bergers Vater Adi vom 800 Jahre alten Hof aus angekämpft hatte und damit in die Fußstapfen von Opa Gottlieb trat, der das gleiche in den Achtzigern tat.

Es waren Leute wie sie, denen Tirol das letzte freifließende Alpengewässer verdankt. Eingeborene, zu denen sich ein Zugereister gesellte, als er 2014 ein dokumentarisches Fanal gegen die energiewirtschaftliche Nutzung drehte. Der „Iselfilm“, erzählt Thomas Zimmermann in seiner Wahlheimat, „soll den Befürwortern des Kraftwerks zeigen, was ihnen verloren ginge“. Da die dramatisch untermalten Bilder von Berg und Fluss, Mensch und Tier und Mensch indes eher Gefühle anspricht, fügt er sachlich hinzu: „Unser bestes Argument gegens Wasserkraftwerk ist allerdings das Wasser selbst.“

Genauer: der Gletscherschliff, den die Isel auf ihrer Tour aus dem Fels wasche, „würde auf Dauer alle Turbinen kaputt machen“. Von wegen Fortschritt. Weil sein Film den Riss durch die Region ein wenig schließen half, ist es am Ende also nicht nur dem ländlichen Matthias, sondern dem städtischen Thomas zu verdanken, dass die Isel kein begradigter Kulturfluss wie jeder andere ist, sondern – eben die Isel; ein Gewässer, dessen Seele man vom hübschen Matrei aus perfekt mit Kanu oder Schlauchboot erkunden kann.

Auf zehn Kilometern Strecke zeigt sie sich hier in ihrer ganzen Vitalität. Von eng bis breit, friedlich bis wild, mehlig bis klar, still bis tobend schlängeln sich die letzten Kilometer Richtung Lienz, wo sie im Herzen der Altstadt zur – was viele nur halb im Scherz für anmaßend halten – kleineren Drau wird. Wer kurz zuvor ins mehlige Nass greift, spürt den Unterschied. „Fühlt sich irgendwie unbehandelt an“, meint Thomas Zimmermann. „Wie das Leben selbst“, ergänz sein Geistesbruder Matthias Berger 1000 Höhenmeter nordwestlich. Dort, wo ein riesiger Stein im Umbalfall von der Kraft des Wassers zeugt.

Info
www.nationalpark.osttirol.com
https://www.osttirol.com/
http://www.virgental.at/clarahuette
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