Populismus & Parlamente
Posted: October 24, 2022 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |Leave a commentDie Gebrauchtwoche
17. – 23. Oktober
Es klingt ein wenig kühn, keine zehn Jahre nach Beginn des Streamingzeitalters schon wieder dessen Ende auszurufen, aber die ersten Kommentare sagen es zaghaft voraus. Ein Grund: Mitte November erweitert Netflix sein Angebot um ein werbeunterbrochenes, was hierzulande ungefähr fünf Euro kosten soll. Dass Magenta TV beschlossen hat, keine deutschen Inhalte mehr zu produzieren, war bereits im Sommer ein Alarmsignal. Und wenn Paramount+ den rappelvollen Markt im Dezember weiter aufbläst, werden die Kuchenstücke für alle anderen erneut kleiner.
Wen das freuen könnte? Die Platzhirsche. Also ihre Ahnen der öffentlich-rechtlichen Sender. Deren Kernangebot aus Nachrichten, Sport, Seniorenunterhaltung ist in der alternden Gesellschaft schließlich vergleichsweise krisensicherer als beispielsweise Messengerdienste wie Twitter, das anders als noch vor kurzem kolportiert wohl keine Bewegtbilder produzieren wird, sondern unterm neuen Besitzer Elon Musik erstmal dreiviertel der knapp 8000 Angestellten entlässt.
Welche Strahlkraft ARZDF noch haben, zeigte sich zuletzt in Sandra Maischbergers Exklusiv-Interview mit Greta Thunberg, aus dem das Erste der nationalen Info-Industrie ein winzig kleines, angeblich atomkraftfreundliches Bröckchen vor die Füße warf – schon haben FDPCDUAfD daraus verkürzt, also falsch zitiert. Das nennt man Meinungsmacht, aber eben auch Populismus, mit dem selbst seriöse Parteien wie die von Friedrich Merz Politik machen, sobald es sich aufdrängt.
Einer, von dem man es irgendwie nicht erwartet und noch weniger erhofft hatte, übt sich jetzt auch hin populistischer Wutenbrennung: John Cleese. Einst das vielleicht witzigste Exemplar unserer Spezies, moderiert der frühere Monty Python jetzt eine Sendung beim britischem Fox-Pendant und hätte vermutlich auch für den Stürmer geschrieben, wenn der wie Cleese gegen Cancel Culture gewettert hätte. Aber gut – das passt zum britischen Kasperletheater, in dem Boris Johnson nur kurz mal durch Liz Truss ersetzt wurde.
Die Frischwoche
24. – 30. Oktober
Wie bestellt, sind die irrsten Charaktere der aktuell besten Politsatire Engländer*innen. Die 2. Staffel der sehr kleinen, sehr feinen Serie Parlament steht ab heute in der ARD-Mediathek und sorgt am Standort Straßburg erneut für hintergründiges Gelächter übers europäische Plenum. Ebenfalls international koproduziert, allerdings nicht halb so gelungen: Das Netz, ein – vorerst deutsch-österreichisches – Tandem, das den realen Fußballskandal mit gekaufter WM fiktionalisiert.
Zu schade, dass sich weder Rick Ostermann (Spiel am Abgrund) noch Andreas Prochaska (Prometheus) trauen, echte Täter beim Namen zu nennen und selbst die korrupte Fifa noch durch WFA ersetzen. Viel Action, wenig Mumm. Was ungefähr auch für Reset gilt, womit Bushidos Bild-Kumpel Peter Rossberg sein Prime-Porträt Unzensiert bei RTL+ fortsetzt und dem Rapper damit ein werbewirksames Denkmal baut. Ohne Scheiß? Da ist die dreiteilige Doku Mai time, mit der das Erste den Schlagerstar Vanessa Mai skizziert, distanzierter.
Anything else? Netflix hat vorige Woche mit Once upon a small town, Notre-Dame oder Die grünen Handschuhe gleich drei Serien gestartet und Barbaren fortgesetzt, während AppleTV+ für Raymond & Ray die Superstars Ethan Hawke und Ewan McGregor gewinnen konnte. Und diese Woche startet Netflix erst sein Cabinet of Curiosities (Dienstag) und geht Freitag Wenn ich das gewusst hätte und The Bastard Son & The Devil Himself ins Rennen, bevor das deutsche Remake von Im Westen nichts neues für ein Highlight sorgt, das Disney+ mit der zweiten Staffel seiner Mysterious Benedict Society liefert.
Das Glanzlicht der Woche schimmert aber woanders: in ihrer (ersten) TV-Serie Safe beobachtet Caroline Link zwei Berliner Psycholog*innen bei der fiktiven Arbeit. Wenn Carlo Ljubek und Judith Bohle acht Teile vier disruptive Kinder und Jugendliche behandeln, ist das ohne Übertreibung perfektes Fernsehen, also ein Glücksfall für ZDFneo und uns. Ebenso wie Anna Schudt als Die Bürgermeisterin (20.15 Uhr, ZDF). Eher Pech, dass die ARD zeitgleich die Mecklenburgerin Jessy Wellmer auf allzu kritiklose Identitätssuche Russland, Putin und wir Ostdeutsche schickt, was aber noch nicht verglichen mit dem Unglück der Woche ist: um 16 Uhr holt Sat1 Britt – Der Talk aus der Mottenkiste.