Übersee-Clubs & Mystery-Seelen
Posted: November 7, 2022 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |Leave a commentDie Gebrauchtwoche
31. Oktober – 6. November
Na, da hat der hessische Verfassungsschutz ja mal richtig Tempo aufgenommen. Nur ein paar Tage, nachdem Jan Böhmermanns ZDF Magazin Royal den NSU-Untersuchungsbericht zum Totalversagen aka Täterschutzprogramm des hessischen Inlandsgeheimdienstes veröffentlicht hatte, gingen die Hüter des Grundgesetztes gegen unbekannt vor. Ohne Hitlergrüße und Migrantenmorde kann der deutsche Staat ganz schön aktiv werden.
Und na, da hat ja auch Tom Buhrow ja mal gehörig Fahrt aufgenommen. In den letzten gut zwei Jahren seiner Amtszeit ruft der WDR-Intendant zu nicht weniger als einer Revolution auf, will Runde Tische einberufen, Mediatheken bündeln, Gesellschaftsverträge auflegen und womöglich – da blieb er bei seiner Rede vorm Hamburger Übersee-Club vage – die öffentlich-rechtlichen Sender zusammenlegen. Abgesehen vom anwesenden Messingknopf-Publikum, gab es da nur aus vorhersehbarer Richtung Applaus: Christian Lindner.
„Herr Buhrow spricht das bisher Unsagbare und Undenkbare aus“ frohlockte ein FDP-Chef, der fürs Ende des gebührenfinanzierten Rundfunks sicher leichten Herzens das Tempolimit in Spielstraßen aufheben würde. Womit wir bei einer artverwandten Debatte wären, die gerade durch Echoräume analoger und digitaler Medien rauscht: Weil Rettungskräfte auf dem Weg zu einer Unfallstelle im Berliner Stau steckten, wirft die Klimawandelbeschleunigungskoalition von AfD bis CSU Klima-Aktivst:innen quasi vor, das Unfallopfer getötet zu haben.
Nach der Logik wären auch Hersteller des Sekundenklebers (vermutlich bio) schuldig, mit dem sich das demonstrierende Gesocks (vermutlich pädophile Kommunisten) gewissenloser Eltern (vermutlich nicht-arisch) auf den (vermutlich von Gastarbeitern gelegten) Asphalt befestigt haben. Aber bei der Kriminalisierung zivilen Ungehorsams geht es ja nicht um Logik, sondern Politik, so wie Elon Musks Entlassungsorgie nicht Twitter sanieren soll, sondern zum schutzlosen Schlachtfeld seiner rechtspopulistischen Freunde.
Die Frischwoche
7. – 13. November
In dieser Medienlandschaft sind selbst Zeiten wie jene nicht mehr ausgeschlossen, mit denen sich die Filmemacherin Sharon Ryba-Kahn befasst. Ihre ZDF-Doku Displaced – verschoben, verdrängt, vertrieben blickt heute um 0.05 Uhr autobiografisch auf ihre jüdischen Vorfahren und was Nachfahren wie sie bis heute stigmatisiert. Um eine Unterform dieser Ausgrenzung könnte es ab Freitag auch in der ARD-Mediathek gehen.
Wenn die deutsch-algerische Titelfigur Lamia allerdings sieben Teile lang ihren Platz in der Mehrheitsgesellschaft sucht, erzählt Süheyla Schwenk nach Büchern von Sarah Kilter – Inshallah! – keinen inter-, sondern innerkulturellen Culture-Clash. So unverkrampft wurde migrantisch geprägter Alltag selten fiktional erzählt. Die Überraschung der Woche heißt aber dennoch Souls. Anfangs scheint die Mystery-Serie zwar nur ein billiger Abklatsch von Dark zu sein.
Nach drei der acht Teile jedoch löst sich Alex Eslams dickflüssige Zeitschleifenbrühe zu einer originellen Suppe auf, die zwar weiterhin stark überwürzt wurde, aber ein paar neue Geschmacksnoten von Originalität bis Esprit enthält. Beide Zutaten finden sich – obwohl die Gerichte nun zum fünften Mal aufgewärmt werden – auch in der 5. Staffel von Handmaid’s Tale (Donnerstag, Magenta) und The Crown (Mittwoch, Netflix) oder der 2. von Christian Ulmens Supermarkt-Mockumentary Die Discounter, ab Freitag bei Prime Video.
Abgesehen vom nächsten ZDF-Detective Grace, die ab Sonntag mit – so heißt es im Genre – unkonventionellen Methoden ermittelt, ist der Rest eher Sachfernsehen. Das Bürgerparlament zum Beispiel, in dem Ingo Zamperoni dienstags um 22 Uhr im NDR ganz normale Menschen zur Townhall-Debatte bittet. Auftaktthema: Verzicht? Nicht mit mir! Mittwoch darf sich schöne David bei Disney+ in der Reality-Soap S.O.S. Beckham als Wohltäter inszenieren. Parallel blickt Fifa Uncovered (Netflix) auf die organisierte Kriminalität, während Katrin Bauerfeinds Show Tore, Tränen Tiki Taka ab Donnerstag bei Sky die heiteren Fußballseiten zeigt.