Julia Jäkel: G+J & ÖRR

Schwarzweißdenken funktioniert nicht

Jaekel-Artikel

Julia Jäkel (Foto: Tereza Mundilová) ist nicht nur, weil sie bis 2023 elf Jahre lang G+J geleitet hat, die vielleicht einflussreichste Medienmanagerin Deutschlands. Ein Gespräch über Frauen an der Spitze eines Männergeschäfts, RTL als Verleger, Meinungsvielfalt in Talkshows und ihre Arbeit im Rat für die zukünftige Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, den sie bis Januar geleitet hat.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Jäkel, gehen Sie manchmal noch am Hamburger Hafen spazieren, so Höhe Baumwall?

Julia Jäkel: (lacht) Weniger als früher. Meine Kinder feiern ihre Geburtstage gern im Escape Room im Rumpf der Cap San Diego, die am Hafen liegt, aber wenn Sie aufs Verlagsgebäude von Gruner + Jahr schräg gegenüber anspielen – da bin ich nur noch sehr selten.

Heute steht dort nicht mehr Gruner + Jahr, sondern RTL dran. Was empfinden Sie da?

Ich habe mich bislang nicht dazu geäußert und werde daran nichts ändern. Nur so viel: Ich hatte eine fantastische Zeit bei Gruner + Jahr. Das war etwas ganz Besonderes und in jeder Beziehung Wertvolles. Die Ereignisse zwei Jahre nach meinem Weggang haben mich natürlich sehr berührt weit über eine Logo-Frage hinaus.

Als Journalistin, als Mensch oder als frühere CEO?

Ja, alles, als Gestalterin, als frühere Chefin, auch als Bürgerin. Lassen wir es dabei bewenden.

Gleich, versprochen. Gruner + Jahr stand knapp sechs Jahrzehnte für angebotsorientierten Journalismus aus einem publizistischen Selbstverständnis heraus, während der neue Besitzer RTL seit bald 40 Jahren für nachfrageorientierten Journalismus aus einem wirtschaftlichen Interesse heraus steht…

Interessant, die Unterscheidung kenne ich so nicht. Sie führt unabhängig von RTL und Gruner + Jahr allerdings in die Irre. Denn Verlage wie dieser haben immer Journalismus aus großer Überzeugung gemacht, aber von ihrer Gründung an immer auch die Nachfrage im Blick, also ihre Leserinnen und Leser. Und verdienen damit Geld. Dieses Schwarzweißdenken funktioniert nicht.

Allerdings ohne ihr nach dem Mund zu schreiben, funken, senden.

Ja. Aber ein Journalismus, den niemand liest, empfängt oder sieht, erfüllt seinen Auftrag ebenso wenig. Wer Journalismus nur für sich und seine Posse macht, erreicht keinen und wichtiger, nichts. Es gibt doch viel treffendere Kriterien für die Bewertung journalistischer Arbeit.  Erinnern Sie sich noch an Walter Lippmann?

Dunkel. Zwanzigerjahre, oder?

Ja, die New York Times hatte in ihrer Berichterstattung über die russische Revolution so eklatant falsch gelegen, dass dieser Publizist 3000 Artikel kritisch analysieren ließ. Ergebnis: Die Einschätzungen waren so daneben, weil die Reporter und Redakteure nur das sahen, was sie sehen wollten und auf was sie hofften – dass Lenin und der Bolschewismus verlieren würden. Und so blieben wichtige Dinge auf der Strecke. Lippmann formulierte daraus Standards für journalistisches Arbeiten, die Generationen prägte: „You ought not to be serving a cause, no matter how good.“ Hajo Friedrichs paraphrasierte das später. Die Lippman’schen Regeln gehen aber weiter.

Wohin gehend?

Unvoreingenommenheit, eine Pflicht, die Gegenseite ausführlich zu Wort kommen zu lassen, das Trennen von Bericht und Kommentar. Und sich regelmäßig selbst zu prüfen: Kann ich meine Thesen falsifizieren? Augstein hat seine Journalisten mal hübsch beschrieben: „Sie sind frei von jeder ihnen aufgezwungenen Richtung und nur ihren Vorurteilen und Irrtümern unterworfen.“ Sich dieser Tugenden – egal, ob Sie den Journalismus dann angebots- oder nachfrageorientiert nennen – regelmäßig zu versichern, tut gut.

Lässt sich die Klasse aktuell am ehesten beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Masse verwandeln?

Das war zumindest sein Gründungsethos, mit dem Briten und Amerikaner der jungen deutschen Demokratie auf die Beine helfen wollten. Ein Journalismus, der einer Demokratie würdig sein sollte! Durch die Befreiung vom Marktdruck und den verfassungsrechtlichen Schutz haben die Öffentlich-Rechtlichen hier herausragende Bedingungen – umso ernster müssen sie die anhaltende Kritik an ihrer Arbeit nehmen. Aber private Medien können das natürlich auch.

Kritik, die zur Einberufung eines achtköpfigen Rates für die künftige Entwicklung des ÖRR geführt hat, den Sie leiten.

Wir haben im Januar unseren Abschlussbericht vorgelegt und bewusst hierzu präzise formuliert. Denn das Gefährliche ist gerade: Kritik, die der ÖRR ernst nehmen sollte, mischt sich mit bewussten Versuchen, seine Arbeit und darüber hinaus die aller freien Medien, zu diskreditieren. Demokratiefeinde innerhalb unseres Landes und außerhalb zielen auch auf private Medien. Das vergessen sie manchmal. Und die Angriffe setzen sich fest. Umso wichtiger ist das Ernstnehmen der Kritik, wenn sie von grundsätzlich Wohlmeinenden geäußert wird. Zu den Öffentlich-Rechtlichen formulieren wir pur: „Sie müssen sich um eine pluralistische Berichterstattung bemühen, die jedem Eindruck der Einseitigkeit entgegenwirkt. Hierzu bedarf es besonderer Sensibilität und einer klaren Orientierung an journalistischen Standards.“

Vertrauen Sie als Journalistin und Verlegerin denn ihrem Instinkt, welche Kritik sachlich und konstruktiv, welche unsachlich und womöglich gar feindselig ist, oder gibt es da ebenfalls Handwerkszeug, das bei der Unterscheidung hilft?

Sie können die Absicht meistens recht gut erkennen. Aber wir hatten das Glück, im Zukunftsrat neben Praktikern auch Wissenschaftlerinnen zu haben, die in der Qualitätsbewertung und – Messung zuhause sind. Die Qualitätsdiskussion sollte jedenfalls nicht auf Stammtisch-Niveau geführt werden.

Wie kann man sich die Zusammenkünfte ihres Gremiums dabei vorstellen – haben sich die acht Mitglieder alle paar Wochen zur gemeinsamen Videokonferenz getroffen und Tagesordnungspunkte abgearbeitet?

Per Videokonferenz?! Tagesordnungspunkte abarbeiten?! Neeein! Wir haben mehrere hundert Stunden, meist jeweils anderthalb Tage, gemeinsam in richtigen Konferenzräumen verbracht. Die Komplexität der Themen brauchte Zeit, Diskussionstiefe und natürlich zahlreiche Gespräche mit Akteuren inner- wie außerhalb des ÖRR, mit Mitarbeitenden und Publikum. Wir haben wirklich sehr viel Zeit miteinander verbracht und Energie aufgewendet; weit mehr, als ich zuvor auch nur ansatzweise geahnt hätte. Und dann haben wir am Ende zu acht getextet. Zu acht! Normalerweise wird sowas schon zu zweit oder dritt schwierig… So steht aber jeder von uns hinter jedem Wort, das ist das wirklich Bemerkenswerte. Es war eine meiner befriedigendsten Tätigkeiten.

Weil es so konstruktiv und einvernehmlich war?

Es war zunächst gar nicht einvernehmlich – wir kommen aus höchst unterschiedlichen Erfahrungswelten. Das gerade war so intellektuell herausfordernd und nützlich. Wichtig war, dass wir alle etwas Gutes für die nächsten Dekaden erarbeiten wollten. Ich möchte niemanden herausheben, aber einen langjährigen Bundesverfassungsrichter dabei zu haben, dazu beeindruckende Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft, dem Management, aus Praxis und Theorie – das bringt einen speziellen Geist in so ein Gremium. Gerade wegen dieser wilden Mischung habe ich den Vorsitz gern angenommen.

Und mussten danach viel moderieren oder funktionierte die Arbeit reibungslos?

Wir haben zum Teil kontrovers diskutiert, aber das Gute war: Wir haben uns zugehört, sind auf die Argumente des Gegenübers eingegangen, und so entstand grundlegend Neues. Diese Unterschiedlichkeit auszuhalten und in etwas Neues, Gemeinsames zu führen, das hat Freude gemacht. In jedem Fall wurde uns allen schnell klar: Mit Pflasterkleben auf aktuelle Wunden kommen wir nicht weiter. Wir müssen langfristig denken und Lösungen finden für ein Gut, dessen Bedeutung künftig eher zu- als abnehmen dürfte.

Lautete der Auftrag der Rundfunkkommission der Länder also nicht sparen, sparen, sparen und im Übrigen sparen?

Überhaupt nicht! Neinneinneinneinnein. Er lautete sinngemäß: Finden Sie Lösungen für die Öffentlich-Rechtlichen der Zukunft. Wie können sie auch in Zukunft ihr Publikum erreichen? Wie im Hinblick darauf, dass sie nicht nur akzeptiert, genutzt, sondern auch – in meiner Sprache – gemocht werden. Nur so können sie ihrem Auftrag auch künftig gerecht werden. Dazu müssen sie deutlich digitaler werden, effizienter und strukturell so aufgestellt sein, dass sie ihren Auftrag noch besser erfüllen können, nämlich – das ist der eigentliche Kern – der Demokratie zu dienen.

Worin besteht denn dieser Auftrag fast 40 Jahre und mehrere Medienrevolutionen nach dem Rundfunkstaatsvertrag von 1987 heute?

Der Kern muss wieder herausgeschält werden: Er muss der mündigen Bürgerinnen und Bürger dienen, auf dass sie in der Lage sind, in freien und unabhängigen Wahlen informierte Entscheidungen zu treffen.

Und sie nebenbei auch noch möglichst breit, gut, vielfältig unterhalten.

Exakt. Eine Auflösung des Angebots in Info und Entertainment ist doch Quatsch. Und gar aus ARD, ZDF und Deutschlandradio ein elitäres Angebot à la Washington Post zu machen, hilft keinem. Nein, es braucht Breite. Sport, Entertainment, Fiction… Aber all dies muss im Leben der Menschen stattfinden, also Publikum erreichen. Und das geschieht immer weniger, insbesondere bei den jungen Leuten.

Nicht erst seit den Geschehnissen um die RBB-Intendantin Patricia Schlesinger wurden dafür unzählige Reformprozesse angestoßen. Wie weit sind die denn?

Unser Befund ist folgender: Es gibt innerhalb der Öffentlich-Rechtlichen sehr viele Menschen einschließlich der Führungskräfte mit großem Reformgeist. Und sie wissen, dass diese Öffentlich-Rechtlichen mit homöopathischen Anpassungen langfristig in eine Abwärtsspirale geraten. Ohne die Hilfe der Politik wird es nicht gehen. Dafür ein Konzept zu entwickeln, dafür hat uns die Rundfunkkommission der Länder beauftragt.

Welche wären da die zentralen Vorschläge?

Die Öffentlich-Rechtlichen sollten der Demokratie und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt künftig noch wirksamer dienen, dieser Dienst wird wichtiger denn je. Dazu muss der Auftrag geschärft werden. Die Öffentlich-Rechtlichen haben das große Glück, sich nicht nach Umsatz strecken zu müssen, nach Werbeerlösen oder zahlenden Abonnenten im Streaming. Mit dieser bewusst gewährten Freiheit geht allerdings eine Verpflichtung einher.

Welche?

Unterscheidbar zu sein, ganz besonders von den Privaten. Die Öffentlich-Rechtlichen können mutiger, kreativer, wilder sein, bei allen Ausrichtungen auf eine breite Zuschauerschaft. Einfach gesagt: Die öffentlich-rechtlichen sollen zum einen wieder öffentlich-rechtlicher werden. Das betrifft alle Sender, auch und besonders das ZDF, das recht selbstbewusst auf seine Quotenerfolge verweist. Aber es geht darum, das Publikum zu versöhnen!

Und zum anderen?

Müssen sie in Aufsicht und Organisation so aufgestellt sein, ihre großen Aufgaben überhaupt lösen zu können. Wir schlagen mehr Eigenverantwortung vor, so dass sie freier und unternehmerischer agieren können und es mit den großen digitalen Playern aufnehmen können. Dazu braucht es wirkungsvollere Aufsicht und Gremien mit präziser Aufgabenteilung. Wir schlagen eine gemeinsame Tech-Plattform von ARD, ZDF und Deutschlandradio vor und eine grundlegende Änderung für die ARD: „Arbeitsgemeinschaft“ genügt nicht mehr. Wir empfehlen eine Gesamtleitung, die überhaupt erst strategisch agieren kann und die Arbeitsteilung innerhalb der ARD steuert statt Mehrfachstrukturen in Technik und Verwaltung zu zementiert. Es geht dabei nicht um eine große „Zentrale“. Eher darum, mittels einer kompetenten und inspirierten Geschäftsleitung das Koordinationsprinzip durch Leitung zu ersetzen.

Was bedeutet das finanziell?

Blicken wir mal von Ferne drauf: Der ÖRR verfügt über zehn Milliarden Euro jährlich. Dennoch klagen Intendantinnen und Intendanten, sie seien am Limit. Mitarbeitende fühlen sich in einer Sparspirale. Kreative, Partner, Freie, alle sind massiv unter Druck. Nüchtern betrachtet muss da doch strukturell etwa falsch sein. Und hier liefern wir ein Konzept. Die Landesrundfunkanstalten werden von Verwaltungsaufgaben entlastet, können ihr Wirken in ihrem Einzugsgebiet weiter ausbauen, im Dialog vor Ort den ÖRR erlebbar machen und ihre jeweiligen besonderen Kompetenzen in die ARD einbringen, aber gesteuert. Wir nennen das „organisierte Regionalität.“

Welche Kompetenzen wären das?

Eine Anstalt hast ihre Stärken im Fiktionalen, die nächste in der überregionalen Information, wieder andere sind im Sport besonders gut – dann sollen doch da die Fäden zusammenlaufen, aber unter Leitung einer Dachorgansiation. Noch wichtiger sind Abbau der Mehrfachstrukturen in den programmfernen Bereichen.

Das dürfte nicht alle im bestehenden System erfreuen.

Die Betonmischer laufen mancherorts auf Hochtouren. Unser Konzept erfordert Fantasie und Gestaltungslust. Wer das hat, wird erkennen, dass für gute Leute mehr Raum entsteht und das Föderale erfrischt und gestärkt wird.

Wird das auch in der Öffentlichkeit so wahrgenommen?

Ja. Und dass der Bericht zum Referenzpunkt der Reformdiskussion geworden zu sein scheint, freut uns sehr. Denn man muss endlich von der „Weniger“-Debatte – weniger Geld, weniger Sender, weniger Unterhaltung, weniger Anstalten – zu einer „Anders“-Debatte wechseln: andere Strukturen, andere Governance.

Was Publikum und Kollegium noch mehr interessieren dürfte als Struktur- und Führungsbelange: bleiben die Funkhäuser inhaltlich weiter eigenständig?

Dem Publikum ist es, glaube ich, völlig egal, ob es Funkhaus xy gibt. Sie wollen, dass ihnen die Öffentlich-Rechtlichen inhaltlich relevante Angebote machen und erlebbar bleiben. Aber richtig: nach unserem Vorschlag wird es weiter neun Landesrundfunkanstalten geben. Denn wir wollen, dass regionalen Perspektive vor Ort und auf die Welt mehr Raum erhalten. Dass das Öffentlich-Rechtliche vor Ort erlebbar gemacht wird, damit mehr Akzeptanz geschaffen wird.

Ein Plädoyer für den Föderalismus!

Der erführe eine Kraft-Kur. Aber genau das blockieren bisherige Strukturen, in denen Stunde um Stunde um Stunde Zeit in Koordinierungsgremien verschwendet wird. So gewinnen wir im digitalen Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Bedeutung jedenfalls keinen Blumentopf. Die Anstalten hätten ein Global-Budget, sie könnten viel beweglicher umschichten, umbauen, umsteuern. Aber dies im Rahmen einer klaren ARD-Strategie, die derzeit fehlt. Konkret mit einer ARD-Programmdirektion, die entscheiden darf, statt nur zu koordinieren, mit gemeinsamer Technik sowie Verwaltung: bei klarer Aufgabenverteilung, um Mehrfachstrukturen abzubauen.

Es soll also keine überregionale Gemeinschaftsredaktion geben, die für regionale Redaktionen nur das Lokale übriglässt?

Um Gottes Willen, nein! Ich weiß, dass einige das so lesen wollen. Gerade deshalb gehen wir aus der Kommission ja auch alle bereitwillig ins Gespräch.

Interessant, dass Sie gerade regelmäßig vom „Wir“ sprechen, obwohl Sie eine Quereinsteigerin aus dem Verlagswesen sind, die noch nie Fernsehen gemacht hat.

Na Entschuldigung: Durch meinen Ehemann…

Ulrich Wickert.

… könnte der Bezug zu den Öffentlich-Rechtlichen kaum größer sein. Aber ich bin in der Tat als jemand in diesen Kreis geholt worden, der von außen kommt und denkt. Dennoch sind mir die Themen als langjährige Medienmanagerin im engen Führungskreis des Bertelsmann-Konzerns mehr als vertraut. Aber es stimmt, ich konnte zu keinem Abendessen mehr gehen, ohne in Debatten übers öffentlich-rechtliche Gefüge zu geraten. Dabei wurde mir umso bewusster, wie verbreitet die Skepsis ihm gegenüber inzwischen ist – lassen wir die Ursachen dafür mal beiseite. Und desto entschiedener wurde ich zu seiner Verteidigerin. Und zwar gerne. Denn er sollte uns sehr wichtig sein. Wer die Öffentlich-Rechtlichen bewahren will, muss sie jedoch grundlegend verändern.

Auch im Hinblick auf die Frage, ob er alle Zielgruppen erreicht?

Genau. Die Gesellschaft wird fragmentierter und vielfältiger. Erheblich sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen den Regionen, Alt und Jung und den Bildungsniveaus. So darf sich das mediale Angebot nicht einseitig – etwa an urbanen Zentren – orientieren. Kleinstädte, ländliche Regionen – all das gehört zu Deutschland. Die Öffentlich-Rechtlichen sollen ein Angebot schaffen, das möglichst niemand außenvorlässt. Ihr Hauptadressat bleibt aber die gesellschaftliche Mitte. Hier den richtigen Weg zu finden, das ist eine enorm schwierige Aufgabe und wir spüren, wie die heutigen Gestalter darum ringen.

WDR-Chefredakteur Stefan Brandenburg hat dazu in der Zeit gesagt, man müsse mehr Multiperspektivität auch dort wagen, wo es wehtut.

Meinungspluralität, ganz genau.

Ist es damit getan, mehr konservative Stimmen in Meinungsformate und Talkshows einzuladen?

Das ist zu simpel und wird doch intensiv betrieben. Auch die Frage, „was ist konservativ?“ ist nur noch schwer zu beantworten. Aus meiner jahrelangen Tätigkeit im Beirat der HenriNannen-Schule weiß ich, wie schwer es ist, solche konservativen Haltungen überhaupt erstmal für den Journalistenberuf zu gewinnen. Abnehmende Karrierechancen, sinkende Gehälter, auch die abnehmende Reputation – all das sind Kriterien, die konservative Profile, insbesondere männliche, weniger anziehen. Da ist ein Beruf in der Wirtschaft attraktiver; klingt hart, aber das ist die Realität.

Öffentlich-rechtliche Personalabteilungen haben also kein konservatives Nachfrageproblem, sondern ein Angebotsproblem?

Sie haben beides, aber kritische Haltungen gegenüber herrschenden Machtstrukturen entspringen einfach traditionell häufiger linksliberalen Einstellungen. Unabhängig von politischen Einstellungen war es zu meiner Zeit schwer, naturwissenschaftliche oder wirtschaftliche Profile in den Journalismus zu bringen. Und beides ist so wichtig. Mir als Zuschauerin im Fernsehen fällt das immer wieder auf, wenn übers Ökonomische berichtet wird: Der Fokus liegt auf Verbraucherschutz, und in den Nachrichten landet das Thema nur bei großem Arbeitsplatzabbau, lassen wir die Börsenberichterstattung beiseite. Das Lustmachen auf Wirtschaft fällt uns offenbar schwer. Ähnlich bei der Berichterstattung über KI. Die New York Times ist voll von praktischen Tipps „how to use it” – unser Schwerpunkt ist der Gefahrenblick.

Sind wir da beim hyperinflationär gebrauchten Allheilmittel der Digitalisierung, die im Bericht geschätzt fünfzigmal fällt?

Naja, die heutigen Strukturen des ÖRR stammen aus vordigitaler Zeit. Daher müssen wir das Wort auch ein paar Mal mehr nutzen. Digitalisierung des journalistischen Angebots dient ja nur dazu, da zu sein, wo die Zielgruppe ist. Aber dazu braucht es schlagkräftige Tech-Teams. Die Schlacht entscheidet sich bei der User Experience: Wie stoße ich auf herausragende Inhalte in der Flut des Angebots? Wie findet mich der gute Inhalt? Deshalb schlagen wir die Schaffung einer eigenständigen Gesellschaft vor, um die Streaming-Technologie gemeinsam zu betreiben. Mehr Geschwindigkeit durch klare Entscheidungsstrukturen, mehr Effizienz, attraktiver Arbeitgeber…

Ist Digitalisierung hier nur Verbreitungsform oder unternehmenskulturelles Mindset?

Ach, es geht doch nicht darum, linear vs. digital gegeneinander auszuspielen, das kenne ich von Print vs. digital, und es führt immer zu den gleichen langweiligen Reflexen. Es geht hier darum, superattraktive Mediatheken zu schaffen, die technologisch mit US-Plattformen und Spotify mithalten und magnetische Anziehung ausstrahlen. Aber vor allem hat es eine inhaltliche Konsequenz, die den gesamten ÖRR betrifft: Perspektivisch braucht man weniger Inhalte, dafür wirklich Herausragendes von Fiction über Doku bis Info, was sich abhebt. Das 100. Gesundheitsmagazin einer Landesrundfunkanstalt verschwindet im Bauch der Mediathek. Um hier eine intelligente, feine und feinfühlige Steuerung vorzunehmen, braucht es entsprechende Strukturen.

Gekoppelt an eine vertikale Vernetzung unterschiedlicher Medien?

Klar! Wir schreiben: „Die Krise des Geschäftsmodells privater Medien wir das Mediensystem in Deutschland in den kommenden Jahren verändern. Auch wenn die Öffentlich-Rechtlichen dafür nicht verantwortlich sind, können sie ein Stück weit Teil der Lösung sein.“

Und wie geht’s auf dem Weg dorthin weiter?

Wir haben von der Politik einen Auftrag erhalten, woraus ein völlig unabhängiger Vorschlag entstanden ist. Nun sollten wir es der Politik überlassen, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wie es am Ende ausgehen wird, das wird auch davon abhängen, ob sich einzelne Akteure von ihren, in Teilen nachvollziehbaren, unmittelbaren Landesinteressen auf eine Ebene höher bewegen können und die Kraft haben, das Große und Ganze als Anker zu nehmen.

Und diese Akteure gibt es?

Ja, und ich bin davon sehr beeindruckt. Viele Medienmanager würden in dieser anspruchsvollen politischen Arbeit übrigens untergehen. Die Frage ist, ob sich genügend Reformer mobilisieren werden. Das wird sich zeigen.

Wobei sich die Reformer auch noch mit verlegerischer Kritik von außen herumschlagen müssen – presseähnliche Angebote etwa oder gebührenfinanzierte Werbeplätze, also ungleichen Wettbewerb.

Mir scheint, dass man in der Schlacht zwischen Verlegern und Anstalten so nicht weiterkommen wird. Vielleicht braucht es da, analog zu unserem Zukunftsrat, mal einen frischen Blick von Menschen, die hier nicht schon jedes Argument vermeintlich x-mal ausgetauscht haben. Wobei der Zukunftsrat mit dem grundlegenden Reformbedarf voll ausgelastet war (lacht).

Was ist Ihrer langjährigen Erfahrung nach dann die Grundvoraussetzung für all jene, die mit Journalismus noch Geld verdienen wollen?

Entscheidend ist die Gesellschafterstruktur, die Lust des Eigners, sich auf ein Geschäft einzulassen, das Mühe macht, das kleinteilig sein kann, das Marken-Inszenierung erfordert, das mit nicht immer ganz einfachen Menschen zu tun hat. Dieses Geschäft kann aber auf der anderen Seite unendlich befriedigend sein: einen aktiven Beitrag zum demokratischen Diskurs zu leisten. Ob mit politischer Berichterstattung oder handwerklich gutem Magazin-Journalismus, der hier mehr bewirken kann, als der eine oder andere meint.

Führen, steuern, arbeiten familiengeführte Medien auf diesem Weg anders als managementgeführte?

Das glaube ich nicht. Und ich erkenne in Ihrer Einteilung auch keine Dichotomie. Es gibt angestellte Manager mit großem Gespür für ihre gesellschaftliche Aufgabe, ohne die unternehmerische zu vernachlässigen. Und es gibt Familienmitglieder, bei denen das Gegenteil der Fall ist. Wenn es sich um Traditionsverlage handelt, haben Angehörige womöglich ein größeres Bewusstsein für die Firmenhistorie, aber sie können genauso mutig sein.

Firmieren Sie als verlegerische Publizistin da als Schnittstelle zwischen Ökonomie und Journalismus, also Zahlen und Inhalt?

Schnittstelle klingt mir jetzt ein bisschen technisch.

Mediatorin?

Auch nicht. Idealerweise hat man im Mediengeschäft beides in sich. In meinem neuen Leben allerdings versuche ich gern, die wirtschaftliche Perspektive mit der politischen oder gesellschaftlichen zusammen und in Schwingung zu bringen. Das macht mir Freude.

Macht es Ihnen auch Freude, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen zuletzt für Frauen geöffnet hat? Im Schnitt sind seit ein paar Jahren die Hälfte der Intendanzen weiblich.

Finde ich toll.

Ist das der Effekt einer systemimmanenten Förderung oder einfach Teil der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung?

Wenn du im öffentlichen Auftrag arbeitest und ihn ernst nimmst, ist es noch selbstverständlicher, nicht eine Hälfte der Gesellschaft von Führung auszuschließen.

Soweit die Theorie.

Die sich in der Praxis wiederfindet.

Wie kann man es sich vorstellen, als sie 2012 mit Anfang 40 und 20 Jahre jüngerem Erscheinungsbild in den Vorstand von Gruner + Jahr aufgerückt sind: Saßen Sie da allein vor Männern mit verschränkten Armen?

(lacht) Und das auch noch mit Zwillingen, die drei Monate vorher zur Welt gekommen waren? Nein! Ich hatte Glück, dass mir Bertelsmann ermöglichte, mein eigenes Vorstandsteam zusammenzustellen. Wir waren im besten Sinne unterschiedlich und haben uns gegenseitig ergänzt. Aber richtig ist: Eine Belegschaft muss sich erst daran gewöhnen, von einer Frau geführt zu werden. Ich hatte nun mal eine andere Sprache, ein anderes Auftreten. Insofern hat es einen Moment gedauert, bis wir uns aneinander gewöhnt hatten, aber dann wurde es ziemlich gut.

Hatten Sie seinerzeit ein Gefühl von Macht?

Wieso ein Gefühl – ich hatte Macht und vor allem: auch große Lust darauf. Im Englischen ist Power ein positiv besetzter Begriff, da könnten wir uns trotz der deutschen Geschichte allmählich etwas daran gewöhnen. Ich finde Macht und Power etwas Schönes, wenn du damit Dinge gestalten kannst, so wie Du es für gut hältst.

Haben Sie Ihre Macht seinerzeit dazu genutzt, Frauen gezielt zu fördern?

Ich versuche immer, Leistung zu fördern. Wer das tut, fördert automatisch auch Frauen. Und gute Frauen ziehen gute Männer an, die nicht in einer Monokultur arbeiten wollen. So war es zumindest zu meiner Zeit bei Gruner+Jahr. Am Ende standen 46 Prozent Frauen in der Top-Managementebene. Mein heutiges Wirken bietet mir eine Menge an Einblick in die deutsche Wirtschaft. Da fällt mir auf, wie schwer es nach wie vor ist, sich andere Sichtweisen – unabhängig vom Geschlecht – an den Entscheidungstisch zu holen.

Mühsam.

Ja, die Kunst ist es, andere Perspektiven zueinander zu bringen. Und das ohne Destruktion und Illoyalität´, Das fordert mental enorm und kann richtig stressen. Heutige Entscheider sind oft sehr unter Druck. Dann können sie versucht sein, an ihrer Seite Menschen zu haben, die sagen: alles klaro, dir nach! Aber einzuladen, deine Sicht zu hinterfragen und Kritik auszuhalten – das macht Entscheidungen besser. Und es ist etwas sehr Befriedigendes.

Schlägt der Zukunftsrat Frauen- und Minderheitenförderung als Reformansatz vor?

Nein. Wir werben für eine moderne Führungskultur, das setzt offene Membranen für Minderheiten voraus. Wie genau die Instrumente auszusehen haben, das sollen die Führungskräfte in den Anstalten selbst regeln. Wir wollen ihnen mehr Raum geben statt weniger. Aber dafür muss sichergestellt sein, dass die Auswahl der Führungsleute erstklassig ist und die Auswählenden dafür befähigt sind.

Falls es noch Bedarf an Führungspersonal gäbe: Könnten Sie sich vorstellen, noch mal in den operativen Vorstand eines großen Unternehmens zu gehen?

Gegenwärtig macht mir das Arbeiten in einer Reihe von Aufsichtsräten und Advisory Boards große Freude. Ich lerne so viel Neues. Und ich will in keine Schublade. Ich bleibe breit: Medien, Tech, Wirtschaft und Gesellschaft.

Klingt nicht so, als würden Sie in naher Zukunft eine Landesrundfunkanstalt leiten.

Da gebe ich Ihnen Recht.

Wie geht’s eigentlich Uli Wickert.

Bestens! Bald erscheint sein neues Buch für junge Leute: Wir haben die Macht. Handbuch fürs Einmischen in Politik und Gesellschaft.

Und was sagt er über den Stand der Öffentlich-Rechtlichen.

Ich frag ihn mal und sage Ihnen Bescheid.

 

Das Interview ist vorab im Medienmagazin journalist/in erschienen



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