Joe Cocker: Coverkönig & Luftgitarre

Der letzte Schrei

Joe Cockers Karriere begann in Woodstock, sie führte ihn bis vors deutsche Fernsehpublikum. Er war der Bauch und die zitternde Hand des europäischen Rhythm and Blues.

Von Jan Freitag

Am Ende bleibt dieser Schrei. Auch ein halbes Jahrhundert später vereint er fast alles, was ein einzelner Ausruf aus voller Brust umfassen kann: Schmerz und Erlösung, Hingabe und Wut, Hilflosigkeit und Trotz. Es war die erste Urschreitherapie der Popmusik, Glaubensbekenntnis ihrer universellen Strahlkraft. Und bis heute erscheint selbst in den Köpfen Spätgeborener rasch ein Bild des Schreienden, dieses Waldschrats mit den Kotelettenbüschen überm verwaschenen Batikhemd. Er sollte zur Ikone werden, ein weißer Sänger, wie ihn der schwarze Blues bis dahin selten erlebt hatte: Joe Cocker. Auf dem heiligen Acker von Woodstock der Geheimtipp unter revoltierenden Stars, kaum 25 Jahre jung, doch mit einer altersweisen Seele, so schien es. Er sang ein Stück der Beatles nach, ach was, er riss dieses With A Little Help From My Friends förmlich aus seinem Herzen und schenkte es den aufgekratzten Blumenkindern wie einen Liebesbeweis.

“Do you need anybody?
I need somebody to love!

Und das seid Ihr! Und das bin ich!

Dies ist einer der entfesselten, leidenschaftlichsten, brillantesten Live-Auftritte im Poparchiv, und er brennt sich mitten ins kollektive Gedächtnis einer Dreiviertelgeneration. Als die dann älter wird und mit ihr der staksige Zausel mit der verschrobenen Optik, vererbt sie es an die Nachgeborenen. Auch als die längst Techno, Grunge, Rap und Britpop hört, weht der Schrei sonderbar beharrlich durch den Hallraum des kollektiven Gedächtnisses wie Wagners Walkürenritt oder Presleys Tremolo. Er lässt einfach nicht los, niemals, so tief wie er aus dem Magen kommt. 1969 auf einer weltgroßen Bühne in der nordostamerikanischen Provinz. Eine Ewigkeit her.

Dabei ist es nicht gerade schmeichelhaft für einen Künstler, immer und immer wieder auf ein singuläres Frühwerk festgenagelt zu werden, als sei danach nichts mehr gekommen. Schließlich ist danach einiges gekommen, vieles sogar. Eine Weltkarriere, beinahe Kultstatus, auch Lachnummern zuweilen, am Rande der Selbstentblößung, dazwischen aber stets er: der europäische Bauch des Rhythm and Blues, ein Sänger, wie es vor ihm keinen gab und nach ihm kaum je einen geben wird. Jetzt ist er tot, gestorben mit 70 an den Folgen seiner langjährigen Lungenkrebserkrankung, daheim in Colorado, offenbar ganz still und friedlich.

Also irgendwie ganz anders als sein Leben zuvor. John Robert Cocker, das ist zeitlebens die Flamme des musikalischen Feuers aller Generationen, die ihm an den Lippen hängt. Also eigentlich aller Generationen, vom Flower Power über den Eighties Pop bis ins Stammpublikum des ZDF. 1944 geboren in der britischen Stahlkocherstadt Sheffield, verdingt sich der gelernte Gasinstallateur nach Feierabend als Kneipensänger für ein paar Pfund Gage und reichlich Bier obendrauf. Er nennt sich Vance Arnold, spielt als Teenager mal vor den Rolling Stones, entert kurz vor Woodstock mit Marjorine erstmals die Singlecharts und besinnt sich sodann darauf, mit dem Liedgut anderer reichlich Erfolg zu haben. Bis zum Absturz.

Anfang der Siebziger exerziert Joe Cocker, was unter Superstars seinerzeit üblich ist: Er experimentiert nicht mit Drogen, die Drogen experimentieren mit ihm. Nichts, was er nicht in sich schütten, saugen, vermutlich injizieren würde. Nicht wenige seiner zwei Dutzend Platten erscheinen in jener Epoche, doch sie verblassen oft in Echtzeit. Kurz darauf sitzt er sogar im Gefängnis. Irgendwas mit Substanzen, irgendwas mit Gewalt. Ein Konzert platzt. Joe Cocker ist am Boden. Bis ihn ein Duett mit Jennifer Warnes 1981 am schütteren Haar aus dem Sumpf zieht, rauf nach Hollywood, wo Up Where We Belong als Titelsong von Richard Geres Ein Offizier und Gentleman 1983 den Oscar gewinnt und Cocker und Warnes mit einem Grammy geehrt werden.

Fortan zählt der angehende Schmusebarde zum festen Inventar des populärmusikalischen Biedermeier. Nicht nur, weil seine Coverversionen – vom Sixties-Hit Summer in the City über die virile Bluesschnulze You Can Leave Your Hat On bis zum Bierwerbejingle Sail Away – das Bedürfnis nach leidlich gediegenem Schlager befriedigten. Sondern weil Joe Cocker mehr ist als bloß Interpret chartstauglicher Stromliniensongs. Ein halbes Menschenleben lang mimt er den Schatten im Showbiz, die kleine Kante auf der polierten Oberfläche des Hochglanzgeschäfts, ein Fehlbarer mit Riesenerfolgen, und zwar keiner, so raunt man sich zu, der mal einen übern Durst trinkt – nein, ein unverbesserlicher Trinker, den die tödlichste Sucht der Menschheitsgeschichte mit beharrlichem Starrsinn zugrunde richtet. Für die Mehrheitsgesellschaft draußen an den Bildschirmen, vor allem das deutsche Publikum, ist er somit der lebende Beweis, dass ein wenig Schieflage im Leben schon okay ist, solange man seinen Job macht. Ein englischer Harald Juhnke gewissermaßen.

Dabei hat seine markanteste Eigenart, und das ist umso erstaunlicher, gar nichts mit Drogen zu tun hat. Die zitternde Hand ist kein Suchtergebnis, sondern expressive Musikalität. Schon in Woodstock gestikuliert er seinen Auftritt beidhändig mit und gilt nicht ohne Grund als Erfinder der Luftgitarre. Dass Joe Cocker nicht perfekt singen kann und schon gar nicht tanzen, dass er kein Instrument beherrscht, geschweige denn Noten, dass sein Spätwerk besser zu Florian Silbereisen passt als zu verschlammten Kiffern am Eve of Destruction, all dies schadet seiner faszinierenden Karriere nicht. Nach ihrem Ende ist da doch weit mehr als dieser eine Schrei. Der war nur besonders laut.

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