In Memoriam: Lemmy Kilmister 1945 – 2015
Posted: January 3, 2016 Filed under: 6 wochenendreportage Leave a comment
Jacky and Lemmy
Sind 70 Jahre jetzt viel oder wenig? Lemmy Kilmister (Foto: Mark Marek), trinkfeste Trutzburg des Rock’n’Roll alter Schule, ist trotz seines selbstzerstörerischen Lebensstils vergleichsweise alt gestorben – an Krebs! Ein wehmütiger Nachruf auf die Zeiten des Ausbrennens, denen sich der Wegbereiter des Heavy Metal aus allen möglichen Gründen unterzogen hat, aber gewiss nicht nicht fürs Marketing.
Von Jan Freitag
Das Leben spielt bisweilen ein seltsames Spiel mit dem Tod. Während es auserwählte Schauspieler mit kaum 25 schuldlos aus einer kalifornischen Highway-Kurve reißt, nachdem James Dean kurz zuvor noch glaubhaft für Verkehrssicherheit geworben hatte, kriegt das Propagandafilmfossil Jopi Heesters fast die fünffache Zeit auf Erden, ohne je irgendwas am ersten Drittel seiner rückgratlosen Karriere bereut zu haben. Und während kettenrauchende Altkanzler schon mal unbeirrbar auf die 100 zumarschieren, sorgt ein pfleglicherer Umgang mit dem Körper noch lange nicht für vergleichbar hohes Alter. Wobei: 50 Jahre Rock’n’Roll mit einer Flasche Whisky täglich – ist das nun eigentlich viel oder wenig? Dazu würde man gern einen befragen, der das alte Rock’n’Roll-Motto live fast die young länger als die meisten seiner Kollegen zelebriert hat. Lemmy Kilmister zum Beispiel.
Doch Lemmy Kilmister ist tot.
Gestern Nacht ist der scheinbar unverwüstliche Berserker am Bass daheim in Los Angeles gestorben. Im geradezu biblischen Bühnenalter von 70 Jahren. Weshalb Außenstehende, die den Sänger, genauer: Brüller der Hardrock-, genauer: Multiplerock-Band Motörhead nur noch aus ihrer Blütephase in Erinnerung haben, kurz stutzen dürften: Wie – der hat noch gelebt? Ja hat er und zwar länger als so mancher Geschlechtsgenosse mit artgerechterem Alltagsverhalten. Länger vor allem, als der Mythos dessen, was Ian Fraser Kilmister zu seiner Lebensmaxime gemacht hat, seit er sein Elternhaus im walisischen Seebad Benllech bereits als Teenager verlassen hat. Berufswunsch, so schien es früh, termingerechter Eintritt in den „Club 27“, zum himmlischen Exzess mit Joplin, Morrison, Winehouse, Georg Trakl, den genialen Todesverächtern des globalen Pop.
Für diese Mitgliedschaft hat Lemmy Kilmister fast alles getan. Er hat gesoffen und geraucht und gespielt und gehurt und immer noch mehr von allem, bis ihn ein Herzleiden vor zwei Jahren erstmals wirksam in seine Schranken wies. Bis dahin hatte er angetrieben von Jack Daniels und zwei Päckchen Kippen pro Tag getan, was hedonistische Agnostiker halt tun dürfen, um die Gesundheit im Diesseits so zu ruinieren, dass fürs Jenseits keine unerfüllten Wünsche offen bleiben. Nur: dieser zügellose Pastorensohn aus dem mittelenglischen Stoke-on-Trent, Heimathafen sturmumtoster Berühmtheiten vom Titanic-Kapitän Edward J. Smith über Robbie Williams bis zum Darts-Champ Phil Taylor – er hat es partout nicht vermocht, den frühzeitig eingeleiteten Selbstzerstörungsprozess auch zu vollenden, bevor ihn allen Ernstes ein bösartiger Krebs in wenigen Tagen dahingerafft hat.
Also doch nicht der Rock’n’Roll, dieses gefräßige Monster des Showbiz. Für derartige Nachsichtigkeit hinterlässt ihm Lemmy nun ein Werk, das seinesgleichen sucht im Genre grölender Gitarren und rasender Drums. Schon nach seinem Schulabbruch suchte er in diversen Bands seines Exils Manchester nach dem rauen Sound der Zukunft, die Anfang der Sechziger noch ziemlich brav klang. Das änderte sich Ende des Jahrzehnts, als er einem gewissen Jimy Hendrix kurz vor dessen Eintritt in den 27er Club als Roadie diente und 1972 mit der britischen Spacerocklegende Hawkwind jene Art struppiger Musikgeschichte schrieb, die drei Jahre später mit der Gründung von Motörhead endgültig zum Mythos reife.
Denn ein Stahlgewitter wie das des unpolitischen Nazidevotionaliensammlers Kilmister hatte es bis dahin selbst im aufblühenden Hardrock nie gegeben. Das dissonante Hochgeschwindigkeitsstakkato, Lemmys monoton gegrölter Gesang, all die krachende Antiharmonie zwischen ungeborenem Punk, frisch geschlüpftem Heavy Metal und geriatrischem Blues radikalisierte seinerzeit den Härtegrad von Black Sabbath oder AC/DC auf eine Weise, die noch eine Weile brauchte, um hörbar zu sein. Zwei Jahre, um genau zu sein – dann machte Motörheads selbstbetiteltes Debütalbum lautstark auf sich aufmerksam. Drei weitere, dann gebar der Bandkopf/geist/bauch Kilmister mit Ace of Spades einen Meilenstein des Genres – und sich selbst als Ikone fröhlicher Destruktivität am eigenen Leib, die im glattgebügelten Popgeschäft allenfalls in PR-bewussten Rotzlöffeln wie Pete Doherty noch kurz mal aufblitzt.
Kotelettenbärtig und warzenversehrt stilisierte sich der Bürgersohn von vergleichsweise kleinem Wuchs mit Cowboyhut und Eisernem Kreuz dagegen fernab aller Postertauglichkeit zur Ikone einer vergehenden Zeit, in der ein Leben noch on stage verglühen durfte, ja musste. Verglüht ist sie nun jedoch nicht an Sex’n’Drugs’n’Rock’n’Roll, sondern einer schnöden Massenkrankheit namens Krebs. Im Verhältnis zum Leben erstaunlich spät und doch, wie immer, wenn Geschichte vergeht, viel zu früh. Darauf einen Jack and Coke mit Kippe.
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