Fußballbundesliga: Tradition & Retorte

RB_Leipzig_Logo_2009.svgNeues Brauchtum braucht das Land

Zum Start der neuen Bundesliga-Saison hatten es die Alteingesessenen vorige Woche gleich mit vier Clubs zu tun, denen Puristen das Präfix “Retorten” verpassen. Doch was unterscheidet Leipzig, Hoffenheim, Wolfsburg, Ingolstadt eigentlich vom Rest der Liga? Über Tradition im Fußball.

Von Jan Freitag

Na, das war doch mal ein ehrwürdiges Treffen zum Bundesliga-Auftakt 2016/17: Bayern gegen Bremen, AG gegen KGaA, zu viel Geld gegen fehlendes. Vor allem aber war es ein Duell zweier Traditionsteams, das vor acht Tagen die die 54. Saison eröffnete – obgleich der Abo-Meister seit 1980 kaum Dellen im Brauchtum immerwährenden Erfolges hat, während der Fast-Absteiger zerbeult ist wie zuletzt als Zweitligist im gleichen Jahr und entsprechend mit 0:6 in München unterging.

Als RB Leipzig den Spieltag in Hoffenheim komplettierte, wirkte es daher wie eine Antithese der Startpartie: erst zwei Traditionalisten mit Vereinsstruktur und Geschichte, dann zwei Karrieristen mit Businessplan und Visionen. Da drängt sich der Eindruck auf, die DFL hätte Dietrich Matteschitz‘ Brause-Investment bewusst so früh zu Dietmar Hopps Software-Investment geschickt; Retortenclubs ernten voneinander schließlich nicht jene Verachtung wie von Frankfurt und Schalke, die tags zuvor aufeinander trafen.

Denen erwächst mit Red Bull nach Wolfsburg und Hoffenheim schließlich ein dritter Konkurrent, der nach eigenem Rechtsgefühl im nostalgischen VEB Profifußball nix zu suchen hat. Umgekehrt werfen die Neulinge den Alteingesessenen vor, ihre Historie wie Monstranzen der Fortschrittsverweigerung vor sich herzutragen. Es spielt sich ein Kulturkampf ab, fast ein Glaubenskrieg: Tradition vs. Innovation. Als reiße letztere erstere aus dem Wald wie ein Bagger die Eiche. Nur, was ist das eigentlich – Tradition?

Aus dem Lateinischen übersetzt, ist sie ein erstaulich mobiler Begriff. Tradere heißt hinübergehen, was eng an traditio für Übergabe gekoppelt ist. Wer ehrlich von Tradition redet, meint also besonders im Sport etwas sehr Bewegliches, das einst von Aktiven gegründet wurde, die ihren Leib im Kollektiv ertüchtigen wollten. Um dieses Gemeinschaftsgefühl mit deutscher Ordnung zu paaren, sammelte Turnvater Jahn seine Söhne schon vor 200 Jahren in Vereinen. Es folgten die Ruderer, bevor 1874 der erste Fußballclub entstand. Der Gründungsimpuls abertausender Spielgemeinschaften von heute war also selten materieller Natur. Alle 56 Teams der ersten drei Bundesligen etwa wurden zu einer Zeit gegründet, als sich mit Fußball vielleicht Ruhm, aber kein Geld ernten ließ. Fast alle.

Es war im Jahr 2009, als sich die Red Bull GmbH mit der Lizenz des SSV Markranstädt einen Platz in Liga 5 erkaufte. Dank unbegrenzter Mittel aus Österreich ging es für RasenBallsport Leipzig, wofür RB offiziell steht, zügig in die Beletage, wo noch zügiger Europa für das angepeilt wird, was jede Konzernsubvention erbringen soll: PR plus Rendite. Beides per se abzulehnen, findet sich zwar selbst beim kapitalkritischen FC St. Pauli allenfalls in der  Meckerecke des (brandneuen) Stadions; zum Daseinszweck erhoben sorgt die neue Business Class fast überall dort für Skepsis, wo „Traditionsverein“ draufsteht.

Kein Wunder, ist das Wort doch ein Kollateralschaden der Kopfgeburt vom reichsten Bewohner einer Kleinstadt im Kraichgau. Bevor SAP-Gründer Dietmar Hopp der TSG Hoffenheim (noch ohne 1899 im Label) mit Abermillionen inklusive Stadionneubau den Durchmarsch von der Dritt- in die Erstklassigkeit spendierte, taugte nur Bayer Leverkusen trotz hundertjähriger Werksclubhistorie als kommerzieller Gegenpol zur provinziellen Vereinsmeierei. Und als Milliardär Hopp seinem Spielzeug nach mäßiger Hinrunde so viel Geld ins Team steckte, wie die Zweitligakonkurrenz zusammen, war klar: Es ist eine Zeitenwende. Zumal VW zeitgleich 100 Prozent des VfL Wolfsburg übernehmen durfte, was der grauen Maus drei Jahre später auf den Ruinen der 50+1-Regel zum Titel verhalf. Der VfL bekam seine (wie einst die Bayern geschenkte) Arena zwar auch im Meisterjahr kaum voll, spielte aber immerhin finanziell auf FCB-Niveau – und existiert immerhin zehnmal länger als RB Leipzig.

Als Dosenkrösus Matteschitz vor sieben Jahren einen Club in Sachsens Fußballdiaspora rammte, gab es statt Team und Fans nur eine WM-Arena und die Sehnsucht, sie zu füllen. Wenn das Team Marktwert abgehängter Traditionsclubs nun Fernsehgelder nach Popularität fordert, hat das also durchaus geschichtsferne Gründe: während Stuttgart, Hertha, Frankfurt, Köln, Bremen und der HSV überregionale, teils international attraktiv sind, gönnt man Leipzig, Hoffenheim, Wolfsburg fern der Stadtmauern selten was Besseres als den Untergang. Die Gescholtenen entgegnen da gern, diese Arroganz erst hindere Traditionsclubs daran, modern zu managen, ergo: zu spielen. Und hätten sie selbst einen Matteschitz, Hopp oder Winterkorn vor Ort – die Platzhirsche nähmen deren Geld mit Kusshand, um damit jene Spielkultur zu entfalten, mit der sich das Premiumprodukt Bundesliga die Emporkömmlinge mittlerweile mangels Alternative schönredet.

Man dürfte es dort nicht gern hören, aber als Underdogs mit konsumkritischer Fanbase sind sozialromantische Relikte wie St. Pauli, Freiburg, Union Berlin somit die letzten Traditionsvereine, deren Selbstverständnis nicht Nostalgie, sondern Demokratie entspringt. Ihre mal mehr, mal weniger konsequente Weigerung, Sponsoren zu hofieren, sorgt dabei aber eher für einen Platz im Liga-Fahrstuhl, während Schalke seine Seele an Putins Staatsgaskonzern und einen Industrieschlachter verkauft hat, aber stets international spielt. Dort also, wo sich 1860 München sah, als ein orientalischer Geschäftsmann groß einstieg. Seither ist die TSG weiter vom Stadtrivalen entfernt ist als der HSV vom siebten Meistertitel.

Der spielte zum Saisonauftakt übrigens gegen Ingolstadt: 2004 auf Initiative eines lokalen Unternehmers gegründet, ist dieser brandneue Club auch dank eines schicken Stadions aus der Kasse der benachbarten Audi AG flugs aus der Bayern- in die Bundesliga geführt. Tradition gegen Retorte also? Seit Jahren entgeht der HSV dem Abgrund nur durch Spenden eines launischen Logistikmilliardärs. Als die Profikicker auf sein Drängen 2014 in eine AG ohne Mitbestimmung der Basis ausgegliedert wurde, haben sich die treuesten Fans Ersatz geschaffen, dem sie nun in der Kreisklasse anfeuern: HFC Falke, ein Kofferwortclub aus Hamburger FC und FC Falke, die 1919 das Grundgerüst ihres HSV bildeten, um einfach Fußball zu spielen. Traditionsvereine wie St. Pauli waren damals gewiss schwer indigniert…

Der Text ist mitsamt Kommentaren vorab auf ZEIT-Online erschienen

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