Cassels, Beliefs, Jordan Rakei

Cassels

Es gibt Musik, die kann wohl nur in England entstehen, und meistens ist es eine, die sich ihrer Unvollkommenheit vollkommen bewusst ist, ohne es gleich so furchtbar raushängen zu lassen. Kein Wunder also, dass Punkrock von der Insel kommt und das, was man etwas amorph als DIY bezeichnet, ein Sound, der halbfertig klingt und zugleich kleinteilig, versiert, intensiv. Ein Sound wie der von den Cassels. Gitarre, Drums, ein Mikro – das reicht Loz und Jim Beck aus den Niederungen der britischen Provinz dicke aus, um damit eine Wucht zu erzeugen, die sprachlich, musikalisch, atmosphärisch einer Mischung aus Sleaford Mods, Billy Bragg und The Clash erinnert.

Mit grandioser Hingabe zerschreddern die neun Stücke des brüderlichen Debütalbums Epithet jede Art von Liedstruktur in vielfach fast mathematischem Spielwitz, enden dabei allerdings selten im Chaos und falls doch, ist es genauso gemeint, besonders in den finalen Phasen der Songs. Ein fantastischer, ebenso schwelgerischer wie sozialkritischer Track wie You Turn On Utopia zum Beispiel wechselt scheinbar wahllos und doch so klug zwischen Popfolkappeal und Punkbrett, Poesie und Hardcore, dass die Gesichtszüge beim Zuhören im schnellen Wechsel sämtliche Emotionen abklappern. Ein Album für Wut, Intellekt und Spaß in einem – das ist die kleine Sensation des Augenblicks.

Cassels – Epithet (Big Scary Monsters)

Beliefs

Shoegazing war schon immer ein Missverständnis. Wer dieser schwelgerischen Variante des Postrock seit den frühen Neunzigern zugerechnet wird, sieht ja nicht bloß wie vielfach kolportiert aus Schüchternheit auf die Füße statt ins Publikum, sondern weil die ausufernden Gitarrenteppiche größter Konzentration bedürfen. Beim kanadischen Shoegaze-Duo Beliefs ist die Scheu vor den Blicken der Zuhörer verglichen mit dem Konzentrationsbedürfnis sogar noch etwas nachrangiger. Auf dem neuen Album nämlich mischt sich weit mehr technoides Raunen ins analoge Klanggewebe als bei den zwei Vorgängern. Das macht Habitat experimenteller, expressionistischer, radikaler, trotz der verstörenden Noise-Elemente aber auch interessanter und dabei überaus hörbar.

Dennoch legen es Jesse Crow und Josh Korody im Grunde nicht mehr auf Hörbarkeit an. Der Popappeal früherer Tage wird so lang ins Stahlbad des Industrial getaucht, bis es nach einem Mix aus Sonic Youth und Aphex Twin klingt, den Jesse Crowes angenehmer Sopran regelmäßig zurück auf den Boden der Eingängigkeit holt. Sollte das der Plan gewesen sein, ist er gelungen. Dennoch: Habitat ist definitiv eher was Alternativefans als Shoegazer, besonders die scheuen.

Beliefs – Habitat (Dead Oceans)

Jordan Rakei

Nina Tune, eines der angesehensten Independent-Labels überhaupt, ist nicht grad bekannt für sein Soul-Portfolio. Von London aus geht ja gemeinhin eher elektronische Avantgarde um die Welt als sentimentale Geschmeidigkeit.  Es gibt also nur zwei Gründe, warum Jordan Rakei den Nachfolger des selbstveröffentlichten Debütalbums Cloak dort rausbringt: sein Soul ist weder sentimental noch geschmeidig oder digitaler als im vorwiegend analogen Genre üblich. Die Auflösung wirkt überraschend und einleuchtend zugleich: die Aura, vor allem aber der Gesang von Wallflower ist vielfach bis zur Rührseligkeit gefühlig.

Der Multiinstrumentalist aus Neuseeland unterfüttert allerdings fast jede seiner elf eigenhändig eingespielten Kompositionen mit einer so eleganten Portion elektronischer Spielereien, dass daraus – ergänzt durch Virtuosen von Rock bis Jazz – ein vielschichtiges Stück Synthsoul entsteht. Schon der Opener Eye to Eye wandelt sich nach etwas warmem Gitarrengeklimper über ein paar atonale Bridges hinweg zu einer Art Free-R’n’B mit unterschwelligem Bassraunen, der sein Heil spürbar nicht in Harmonie sondern Verstörung sucht. Rakeis Seelensound gleicht somit einer Psychoanalyse im Partykeller: Tiefgründig, aber elegant und tanzbar.

Jordan Rakei – Wallflower (Ninja Tune)

 

 

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