freitagsmedien-Serie: 75 Jahre TV-Musik

Beatclub – das Wirtschaftswunder

Als MTV ab 1997 auf Deutsch zu sehen war, schien das Fernsehen bereits auf dem Weg zur Disco mit Bildschirm. Dabei stand es schon beim deutschen Neustart vor 65 Jahren im Zeichen der Musik und sollte fortan nie mehr ganz aufhören zu singen, swingen, rocken, jingeln. Zeit also für eine kleine Bestandsaufnahme des TV-Sounds im Laufe der ersten sechs Jahrzehnte, als die Bilder nicht nur zuhause laufen, sondern musizieren lernten. Heute: das Wirtschaftswunder.

Von Jan Freitag

Kochen und Krimikost, Reklameblöcke und Ratespaß, Heimatfilme und Fußballernst, Die Hesselbachs und Das Halstuch, dazu Rotlicht/Blaulicht/Blitzlicht, erste Talk- und viele Familienshows – wer heutzutage ans Fernsehen des Wirtschaftswunders denkt, findet darin bereits reichlich Fernsehen der Dauerkrise von heute. Selbst ein Hauch von Reue weht 1960 kurz durchs Wohnzimmer, als Fritz Umgelters Am grünen Strand der Spree den Holocaust mal nicht sorgsam verdrängt, sondern realistisch schildert. Abgesehen von nackter Haut und blankem Horror in Farbe ist das Angebot schon damals fast komplett. Eines aber fehlt völlig: Die Jugend als Motor der Popkultur.

Falls Teenager vor der Gründung des ZDF 1963 auftauchen, sind sie artig, adrett, aber genötigt, die Musik ihrer Eltern zu hören. Noch während der Rock’n’Roll langsam zum Beat wird, bleibt das Leitmedium zwischen Operette, Schlager, Volkslied stecken. Gut, es gibt die Jugendstunde; doch wie in DDR-Pendents mit fetzigen Titeln à la Junge Pioniere lieben ihre Heimat, entsprang dem Magazin 1954 statt frischer Musik nur ein paternalistischer Singsang, was man zu tun, vor allem aber zu lassen habe. Etwa den Genuss forscherer Töne als Foxtrott, der 1964 die Tanzparty mit dem Ehepaar Fern des WDR eröffnete.

Und sonst?

Regiert die Oligarchie um Peter Alexander oder Anneliese Rothenberger einfach durch und hält es dabei schon für hip, wenn Bill Ramsey beim Playback Hawaiihemd trägt. Insofern gleicht es im Jahr drauf einer kleinen Palastrevolution, als das gewohntermaßen aufsässige Radio Bremen sein Mutterschiff ARD mit dem Beat-Club aufmischt. Nicht genug, dass die monatliche Live-Sause von einer Frau moderiert wird; Uschi Nerke infiltriert das hiesige Paradies sinnfreier Heile-Welt-Gesänge auch noch mit dem Teufel in Gestalt kurzer Röcke, rotziger Sprüche und ausländischer Gäste. Kein Wunder, dass konservative Kräfte sogleich zur Konterrevolution, genauer: Absetzung riefen, um die zarten Seelen der (dummerweise restlos begeisterten) Jugend zu behüten.

Umso erstaunlicher ist es, dass die Blockwarte des Ordnungsfernsehens damit scheitern. Kein Jahr später nämlich kopiert das ZDF mit 4-3-2-1 – Hot and Sweet von der freizügigen Moderatorin bis zum britischen Importsound praktisch baugleich die ARD-Vorlage. Und da irgendwer den Verantwortlichen der Sendeanstalten zugeflüstert haben muss, dass deren Zielgruppe womöglich das Stammpublikum von morgen ist, geht es plötzlich auch bei den Arrivierten bunt zu, bisweilen psychedelisch. Rainer Holbes Starparade zum Beispiel ist atmosphärisch mit James Last am Taktstock voll und ganz auf die Generation Schwarzwaldmädel zugeschnitten. Stilistisch nähert sich das perfekt orchestrierte ZDF-Produkt bald nach der Premiere im schwarzweißen 1968 nun auch zur besten Sendezeit dem Zeitgeist und lässt das Fernsehballett schon mal bekiffte Tanzeinlagen zum Beatsound vollführen.

Von Ilja Richters fast schon aufdringlich halbstarker disco, mit der das ZDF ab 1971 wirklich mal ein popaffines Publikum anspricht, ist das dann nur noch eine Schlaghosenbreite entfernt. Dennoch blieb der Grundsound des Programms bis Ende der Siebziger eine Art Pfeifen im Walde der aufgewühlten Welt ringsum. Dem reifen Durchschnittsauditorium des musikalischen Regelangebots machte sie jedenfalls zu viel Angst, um etwas anderes als Liebeslieder und Humptattaa am Bildschirm zu verkraften. Während die Studenten vor der Studiotür im Stakkato schreiender Gitarren lautstark gegen Schweigekultur und Schweinesystem rebellieren, empfängt Dieter Thomas Heck 1969 also unverdrossen dieselben Schlagernasen zum Defilee und bekommt dafür 1971 allen Ernstes die Goldene Kamera als „Beste Sendung für junge Leute“ – obwohl von denen die meisten wohl nur zusehen, weil ihre Eltern aus drei Programmen halt dieses eingeschaltet haben.

Mitte der Siebzigerjahre ist der Weg zum Musikfernsehen, das den Namen auch verdient, halt noch annähernd so weit weg wie Ein Kessel Buntes von MTV Unplugged. Aber nicht mehr lange…

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