Systemrelevanz & Todesmeister
Posted: March 30, 2020 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |Leave a comment
Die Gebrauchtwoche
30. März – 5. April
Nur zur Kenntnisnahme: Auch Menschen mit Publikationshintergrund sind empfindsame Wesen. Wenn Regierungen in Hamburg, Köln, gar Berlin die Presse systemrelevant nennt, bewegt das etwas im Herzen vieler Medienvertreter und Vertreterinnen. Sie fühlen sich bedeutsam, respektiert, sie fühlen sich ernstgenommen, ja liebenswert. Allerdings sind sie meistens nicht so bauchgesteuert, dass ihnen die Vergänglichkeit solcher Anerkennung unbewusst wäre. Noch bevor die Corona-Krise vorüber ist, dürften die Systemmedien- und Lügenpressekrakeeler von rechts nämlich an Lautstärke gewinnen.
Bis dahin aber genießen wir die neue, alte Anerkennung auch dank einiger Qualitätsschübe von ungeahnter Seite. Denn während im täglichen ARD Extra hysterisches Vokabular von „katastrophal“ bis „dramatisch“ häufiger zum Einsatz kommt als nüchternes wie „Aufgabe“ oder „Herausforderung“, avanciert der Dampfplauderer Markus Lanz so virtuos zum Gesprächsleiter einer emotional zerrütteten Fernsehnation, dass ihn die Zeit zum „Verhaltensforscher“ adelt. Und parallel dazu zeigen sich selbst Privatsender von einer fast seriösen Seite.
Damit sind zwar nicht jene gemeint, die im Lauf der Woche den gescheiterten RTL-Versuch kopierten, Promis (Gottschalk/Jauch/Pocher), Popkultur (Podcast) und Home-Videos (statt Studio) in der Quarantäne-WG zu kombinieren; dafür waren Live in der Forster Straße (Vox) oder Die Comedy Konferenz (Sat1) einfach zu arm an Bindestrichen, aber überreich an Selbstliebe. Obwohl also Das große Pro Sieben Wohnzimmer baugleich billig im Coronabecken fischte, zeigte Stefan Göddes Talkshow ebenso wie die Newstime fast sowas wie Verantwortungsgefühl.
Das ist umso bemerkenswerter, als es zugleich einen Putsch gab. Nach 18 Monaten als CEO von ProSiebenSat1 Media wurde Max Conze fristlos entlassen und damit ein Diversifikationskurs beendet, in dem das Fernsehen zum Randaspekt eines TV-Konzerns wurde, dessen Aktienkurs dennoch kontinuierlich Richtung Keller rauschte. Ersetzt wird der Staubsaugervertreter durch Finanzvorstand Rainer Beaujean, Entertainment-Chef Wolfgang Link und Personalerin Christine Scheffler – denen Conze gleichwohl nicht nur Ruinen hinterlässt.
Die Frischwoche
6. – 12. April
Am Mittwoch kann man schließlich erleben, wozu der Konzern in der Lage ist, wenn er sich seinem Kerngeschäft widmet: Mit Frau Jordan stellt gleich und Check Check gehen zwei Joyn-Formate ins Free-TV, die Katrin Bauerfeind als Gleichstellungsbeauftrage und Klaas Heufer-Umlauf als Kleinflughafenmitarbeiter sehenswert machen. Das gilt natürlich umso mehr für Daniel Harrichs journalistisch recherchiertes Drama, das 2015 sogar Justiz und Politik beschäftigte.
Mittwoch nun schickt Meister der Todes 2 erschreckend reale Waffenhändler fiktional (mit Doku im Anschluss) auf die Anklagebank, was für die Todesmeister von Heckler & Koch, nicht aber Rechtstaatlichkeit und Demokratie gut ausgeht. Und da das legale Kapital auch im Drogenhandel mitmischt, dem die Arte-Doku Der große Rausch am Dienstag, 20.15 Uhr, drei Teile am Stück widmet, wenden wir uns zur Erholung der gestreamten Fantasiewelt zu.
Heute startet die 3. Staffel der famosen Sky-Dystopie Westworld, Freitag wagt (kauft nicht bei) Amazon sein Experiment, das Rollenspiel Tales from the Loop auf Basis der retrofuturistischen Gemälde von Simon Stålenhag in ein bildgewaltiges SciFi-Märchen mit Jonathan Pryce zu verwandeln. Und in der amerikanischen Sitcom Unicorn stürzt sich ein Witwer mit zwei Töchtern tags zuvor (Sky) ins Online-Dating. Digitale Hilfestellung hatte James Bond 1963 nicht nötig. In Liebesgrüße aus Moskau musste 007 schließlich nur mit dem Brusthaar rascheln, schon hatte er das Bett voller Blondinen.
Dieses Frauenbild war also auch nicht moderner als 35 Jahre zuvor in der schwarzweißen Wiederholung der Woche, dem Stummfilm Das große Grabmal, (heute, 23.25 Uhr, Arte), als Deutschland noch das cineastische Herz der Filmwelt war, bevor es die geistigen Väter der AfD zerstörten. Anderthalb Stunden zuvor an gleicher Stelle, stilistisch zwar grau, atmosphärisch knallbunt: Jim Jarmuschs Down by Law (1986) mit Tom Waits, Roberto Benigni, John Lurie als Knastausbrecher. Bleibt noch der Tatort, diesmal: Stau (Mittwoch, 22 Uhr, SWR), ein brillantes Autobahn-Kammerspiel von 2017.