Amokläufe & Schockwellen
Posted: June 28, 2021 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |Leave a commentDie Gebrauchtwoche
22. – 28. Juni
Versuchen wir uns, nur mal hypothetisch in eine Redaktionskonferenz der Bild in Berlin vom vergangenen Freitag hineinzuversetzen. Sichtlich erschüttert schaltet sich der Würzburger Lokalchef zu und berichtet vom Amoklauf in Würzburg, bei dem zu der Zeit mindestens zwei Menschen ums Leben gekommen sind. „Schrecklich“, sagt ein Kollege. „Tragisch“, ein anderer. „Kennt jemand die Hautfarbe“, fragt der dritte und wird von Jubelgeschrei unterbrochen, mit dem Julian Reichelt hereinstürmt: „Ein Asylant“, brüllt er freudestrahlend. „Aus Somalia“, mischt sich unters Geräusch der sprudelnden Champagnerflasche. Darauf die Redaktion im Chor: „Is-lam-ist, Is-la-mist, Is-la-mist!“
Also ab aufs Titelblatt mit ihm.
Unverpixelt natürlich. Vorverurteilt, abgestempelt, ausgeliefert, den Wutbürgern der Republik zum Fraß vorgeworfen. Zweimal findet sich der mutmaßliche Täter von Würzburg klar erkennbar auf dem Bild-Titel. Zweimal verstößt das gegen jeden moralischen und journalistischen Kodex. Zweimal ist das den biederen Brandstiftern der publizistischen Demokratie- und Menschenverachtung im Springer-Verlag herzlich egal, solange der braune Mob das Drecksblatt mit den dicken Buchstaben nur massenweise kauft.
Umso drolliger ist es, dass Johannes Boie, Chefdemagoge der geistesverwandten Welt am Sonntag kurz zuvor den haltungsgetriebenen, aber gewissenhaften Politik-Vlogger Rezo als „Journalistendarsteller“ bezeichnet hatte, der „durch das Video die Zerstörung der CDU“, bekanntgeworden sei, „das launig daherkam, aber – wie auch andere Videos von ihm – (noch) mehr Fehler enthielt als ein Lebenslauf von Annalena Baerbock.“ Wenn man denkt, der Hass auf Logik, Anstand, Takt und Ethos könnte nicht größer werden, kommt eben verlässlich ein moralischer Zwerg aus der Chefredaktion und arbeitet am künftigen Ermächtigungsgesetz der AfD.
Kein Wunder, dass sich Bild und Welt im wohlfeilen Empörungssturm ums Verbot der Münchener Regenbogenbeleuchtung durch die Autokratenkuschlerin UEFA zurückgehalten hat. Homosexuelle fände man bei Springer halt nur dann schützenswert, wenn sich damit die Auflage steigern ließe. Und damit zu den Schlagzeilen der Woche: ARD und ZDF vernetzen ihre Mediatheken, RTL lässt Pumuckl wiederauferstehen, ProSieben womöglich TV Total und Florian Silbereisen ersetzt Dieter Bohlen bei DSDS.
Die Frischwoche
29. Juni – 4. Juli
Viel mehr war nicht, viel mehr wird nicht. Inmitten der Sommerpause hat die Fußball-EM auch das Fernsehen vollständig im Griff. Erstausstrahlungen von Belang bleiben da naturgemäß selbst bei den Streamingdiensten, die ansonsten auf Sehgewohnheiten pfeifen, selten. Die RTL-Plattform Now überzeugt zwar ab Dienstag mit der filigranen Langzeitstudie Angela Merkel – Frau Bundeskanzlerin von Katrin Klocke und Stefan Aust. Die linearen Vollprogramme aber beschränken sich gegen die Achtel- bis Viertelfinalspiele auf Wiederholungen wie Lissabon- Krimi (ARD) oder Bier Royal (ZDF).
In der Spielpause am Mittwoch zeigt das Erste dann aber Volker Heises gewohnt akribisch recherchierte 90-Minuten-Doku Schockwellen – Nachrichten aus der Pandemie. Parallel zeigt Netflix seine Historiengroteske America – Der Film. Tags drauf muss man dann hoffen, dass sich der bayerische Komiker Helmut Schleich im SchleichFernsehen extra um 23.35 Uhr nicht wieder das Gesicht schwärzt, um N…, pardon: Afrikaner zu verunglimpfen.
Und zum Monatsbeginn gibt es sogar noch ein kleines Highlight. Die ZDF-Serie Loving her porträtiert sehr junge, sehr hübsche, aber sehr glaubhafte Berlinerinnen beim Balztanz um andere Berlinerinnen, und zwar, Achtung: ohne die Diskriminierungskarte zu spielen, aber nicht im Beliebigkeitsgewitter von Hochglanzserien wie The L-Word. Sechs raspelkurze Episoden lesbischer Alltagsliebe zum Zurücklehnen und Entspannen. Auch mal schön.