Best & worst-of: Fernsehjahr 2022

Hochstapler, Western, Frauen für alles

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Von Jan Freitag

Das Feuilleton ist ständig auf der Suche nach Trends, auch und gerade im Fernsehen. Aber ob Telenovela, Dreiecksbeziehung, Dokudrama, Scripted Reality, Real Crime: die reine Häufung macht kein Genre modisch. Wer dieses Jahr vorm inneren Flatscreen sieht, erkennt allerdings so viele Serien ähnlicher Stoffe, dass auch 2022 Tendenzen hat – wie Platz 1-3 einer Liste zeigen, die kein Ranking darstellt, aber belegen will, was im Guten wie Schlechten wichtig war. Nämlich folgendes:

Platz 11

1899, Netflix

Am Ende die Nr. 1 – zumindest in Sachen Budget. Mit dem Achtteiler um einen Passagierdampfer, der im Bermuda-Dreieck zur Bühne eines düsteren Kostümfestes wird, hat das Dark-Duo Jantje Friese und Baran bo Odar zwar die teuerste deutsche Serie gemacht, wie üblich im Boom-Metier Mystery aber so viele Nebelkerzen gezündet, dass übersinnliche Effekthascherei unablässig aus jedem Bullauge quillt.

Platz 10

Normaloland, ZDF-Mediathek

Mockumentary um ein fiktives Neustadt, durch das Regisseur und Autor Matthias Thönnissen sich und sechs weitere Hauptdarsteller schickt, um Deutschlands Spießbürgerlichkeit zu verdichten. Fünf Viertelstunden hält uns die Realsatire aber nicht nur wahrhaftige Spiegel vor; sie verkörpert den Trend 2022, unsere Wirklichkeit kostengünstig zu übertreiben, um sie gleichsam abstrakt und ergreifend zu machen.

Platz 9

Rottet die Bestien aus, Arte

Dokus haben’s schwer im Sog fiktionaler Serien, weshalb sie sich besser bemerkbar machen. Der Fifa-Studie Uncovered gelang das mit Recherche, dem Terror-Rückblick „Die Schüsse von München“ mit Aura. Und als Raoul Peck Rassismus oder Nationalismus autobiografisch unterfüttert mit der Geschichte des Kolonialismus verband, setzte er am Weg des Erfolgsmetiers Historytainment Meilensteine.

Platz 8

The Old Man, Disney+

Wie sehr sich die alternde Gesellschaft am Bildschirm zeigt, belegen ZDF-Vorabende voller Harndrangpillenreklame. Ein Mittel, das auch Jeff Bridges den Ruhestand erleichtert, bevor er als Ex-Agent dem CIA-Nachwuchs in der siebenteiligen Gewaltorgie zeigt, was Senioren draufhaben. Klingt bieder, ist aber auf so sinfonische Art modern, dass Robert Levine und Jonathan E. Steinberg Action neu definieren.

Platz 7

Der Kaiser, Sky

Wer Heilige verehrt, droht ihnen zu huldigen. Wie Tim Trageser, der dem windigen Beckenbauer Franz ein so devotes Biopic geschenkt hat, dass nur die karnevaleske Ausstattung peinlicher ist – und somit Historytainment von Dahmer (Netflix) über Winning Time (HBO) bis Pam & Tommy oder Gaslit (Starzplay) noch sehenswerter macht, weil sie anders als Der Kaiser real statt museal wirken.

Platz 6

Landkrimi: Vier (ZDF)

Es gibt Labels, die sind fast böswillig irreführend. Dass Marie Kreutzers Milieustudie Vier unter Landkrimi lief, hat das ORF-Drama um Ursache & Wirkung eines grausigen Leichenfundes nicht verdient. Die Darstellung dörflicher Verhaltensmuster ist so intensiv, dass sie sogar Matti Geschonnecks Rekapitulation faschistischer Verhaltensmuster der Wannseekonferenz an gleicher Stelle übertraf.

Platz 5

Summer of Schlesinger, RBB

Als Arte Mitte 2016 seinen Summer of Scandals feierte, war Patricia Schlesinger zwei Wochen RBB-Intendantin. 2022 feierte der Kulturkanal den Summer of Passion, und zwei Wochen später kollabierte ihr Feudalsystem so hingebungsvoll, dass es die Klima-, Kriegs- und Energiekrise tagelang auf hintere Schlagzeilenplätze verdrängte. Natürlich auch bei Bild TV – der schönsten Pleite des Jahres!

Platz 4

Safe, Neo

In der Ruhe liegt die Kraft – nach dem Grundsatz hat Kino-Regisseurin Caroline Link ihr kinderpsychiatrisches Kammerspiel Safe nach eigenem Buch in aller Stille zum lautstarken Fanal für wahrhaftiges Fernsehen gemacht. Selten zuvor war Kommunikation ohne inszenatorischen Ballast auf schlichtere Art unterhaltsamer, was vier Heranwachsende im Cast acht Teile lang zur Höchstleistung animiert.

Platz 3

The English, Magenta TV

Seit mehr als 100 Jahren gibt es schon Western und so ganz weg war das, was einst „Cowboy & Indianer“ hieß, ja nie. Aber 1883 (Paramount+) und besonders The English haben ihn nun neu definiert. Wie Hugo Blick Emily Blunts blutigen Weg als adlige Rächerin westwärts schildert, ist von der Bildsprache über die Darstellung Eingeborener bis hin zur Tiefenpsychologie fast schon revolutionär.

Platz 2

Der Scheich, Paramount+

Alle Welt will betrogen werden. Daher heißt der Fernsehtrend 2022: „Hochstapler“, die in Serien von WeCrashed über The Dropout oder Inventing Anna bis King of Stonks das Kunststück schaffen, abstoßend und anziehend zu sein. Wobei Dani Levys Version nur letzteres war – schon, weil er den leibhaftigen Loser, der als falscher Scheich die Schweizer Oberschicht blendet, so spürbar liebt.

Platz 1

Oh Hell, Magenta TV

Der schönste Trend zum Schluss: Frauen dürfen auch seriell alles! Im Neo-Drama Becoming Charlie grandios (Lea Drinda) ihr Geschlecht variieren, im Netflix-Feuerwerk Kleo (grandioser: Jella Haase) alte Stasi-Genossen exekutieren, in der Magenta-Groteske Oh Hell (am grandiosesten: Mala Emde) sich und andere heiter bis wolkig betrügen. Auch Hochstapler gibt es nun mit -innen. Toll!

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