Being Jérôme Boateng

Bolzplatz, Bayern, Boulevard

Jérôme Boateng war (Foto: ARD) schon vieles: Aufsteiger, Fußballstar, Stilikone, Rassismusopfer, Integrationsfigur, Frauenschläger, Straftäter. Eine ARD-Doku versucht gerade all seinen Persönlichkeiten gerecht zu werden. Besonders seine Gewalt gegen Frauen bleibt seltsam unterbelichtet. Auch deshalb distanzieren sich mittlerweile mehrere Gesprächspartner:innen von der Doku.

Von Jan Freitag

Wandlungsfähigkeit ist in der digitalen Unterhaltungsökonomie von unschätzbarem Wert. Seriencharaktere zum Beispiel, die sich von der ersten bis zur letzten Episode nicht verändern? Langweilig! Und warum bitte ist ein vielfach gefallener, aber ebenso oft aufgestandener Tennisstar aus Leimen fast drei Jahrzehnte nach seiner siegreichen Ära noch immer ständig in aller Munde? Weil er für großes Entertainment steht! Da lohnt sich ein Blick auf Boris Beckers lange Zeit schillerndsten Rampenlichtkollegen doch umso mehr.

Von Wilmersdorf zum Wedding, vom Bolzplatz zum Bayernstar, vom Weltmeister zum Trendsetter, vom Rassismusopfer zum Gewalttäter, vom Parvenü zum Paria – alles in einem Bruchteil jener Zeit, die unser Bobele bereits in der Achterbahn des hiesigen Boulevards sitzt: Jérôme Boateng. Landauf, stadtab sorgt allein sein Name fast sieben Jahre seit seinem letzten Länderspiel noch verlässlich für Schnappatmung. Man könnte also fragen, ob es nach all dem Klatsch & Tratsch, nach Biografien, Podcasts plus Abertausend Schlagzeilen eines weiteren Porträts bedarf. Anna Grün und Ulrike Schwerdtner meinen: Ja.

Denn weil sich im Porträtierten „gesellschaftliche Erwartungen und mediale Dynamiken“ spiegeln, wollte das Produzentinnen-Duo „diese komplexe Biografie erzählen“. Und dafür hat es nicht nur die versierte Co-Regisseurin Annette Baumeister gewonnen, sondern fast wichtiger noch: den Porträtierten selbst, der buchstäblich aus erster Hand erzählt, wie es ist, er selbst zu sein. Oder wie man neudeutsch titelt: Being Jérôme Boateng.“ Unter diesem Label hat die ARD schon ähnlich polarisierende Topsportler porträtiert. Jan Ulrich, zuletzt Franziska van Almsick, demnächst Katharina Witt.

Mit der genretypischen Chronologie von Aufstieg über Ankunft bis Abstieg, zeigt auch Annette Baumeisters Starschnitt, wie die aufmerksamkeitsindustrielle Revolution ihre Kinder erst zeugt, dann frisst und gegebenenfalls wiederkäut. In dieser Metrik begleiten wir Jérôme Boatengs steilen Weg über drei vierzigminütige Folgen vom fußballbegabten Scheidungskind im Berliner Problemkiez auf den Olymp seiner Sportart und, nun ja, zumindest ein Stück weit wieder herab, seit er gleich mehrfach für Gewaltdelikte gegen die Frauen an seiner Seite angeklagt worden war.

Zu Wort kommt dabei das branchenübliche Ensemble aus professioneller Beteiligung, Bewertung, Beobachtung. Freunde und Kollegen, Streetworker und Journalisten, Anwälte und Influencerinnen. Dazu Papa Prince, der unerlässliche Bild-Reporter und Prominente Marke Lukas Podolski, Horst Hrubesch, Marcel Reif. Im Wechsel mit der Titelfigur persönlich vertonen sie eine Mischung aus Milieu-, Gesellschafts- und Charakterstudie, die den Werdegang des kleinen Jérôme zum großen Boateng wirklich erlebbar machen.

Alles exzellent recherchiert, alles originell konstruiert, alles auch von der Titelfigur in respektabler Selbstreflexion kommentiert. Alles gut also? Beinahe. Was der Serie zur journalistischen Vollkommenheit fehlt, ist nämlich die dringend nötige Einbettung in den gesellschaftlichen Kontext unserer postpostheroischen Epoche. Jérôme Boateng steht ja nicht nur für den nimmermüden Krach digitaler Erregungs- und Echoräume. Zugleich verkörpert er den reaktionären Backlash dessen, was man mal etwas altbacken das Patriarchat nannte.

Es ist zwar richtig, die öffentliche Figur nicht auf seine justiziablen Straftatbestände zu reduzieren. Jérôme Boateng war schließlich einer der besten Fußballer, die jemals für Bayern oder Deutschland, gespielt haben und auch als Integrationsfigur ungeheuer wichtig. Die richtungsweisende Sequenz der Serie folgt allerdings erst im dritten Teil und wird auf ganzen 40 Sekunden abgehandelt: Ein Post, in dem der verurteilte Gewalttäter Jérôme Boateng mit Till Lindemann die #MeToo-Bewegung feixend als Geschäftsmodell zu Lasten Unschuldiger wie, genau: Jérôme Boateng und Till Lindemann verunglimpft.

Schien es vor der Pandemie kurz so, als hätten die Emanzipationsbewegungen männliches Machtgebaren endgültig als Hauptursache weiblichen Leids in seine Schranken verwiesen, schlägt das misogyne Imperium längst zurück. Zuletzt mit Thomas Gottschalk als frauenverachtender Bambi-Laudator. Da hätte es der ARD weit besser zu Gesicht gestanden, Jérôme Boateng ein wenig härter anzupacken. Stattdessen aber machen seine Weggefährten regelmäßig die prekären Verhältnisse, in denen er aufgewachsen ist, für spätere Handlungen haftbar. Besonders Cathy Hummels nimmt den Teamkameraden ihres Ex-Mannes Mats irritierend oft dafür in Schutz, wie Geld und Ruhm im Milliardengeschäft Fußball „optikorientierten“ Jungs halt zu Kopf steigen, wenn sie plötzlich von bildschönen Girls umschwärmt werden.

Damit ist sie nur einen Schritt von der reaktionären Schutzbehauptung entfernt, weibliches Verhalten sei für männliche Gewalt irgendwie mitverantwortlich. Hätt’se mal keinen Minirock getragen… Wenn die ARD für Jérôme Boatengs Gewaltbiografie ganze zehn Minuten aufwendet und der Beklagte nach dem Suizid seiner öffentlich diskreditierten Exfreundin Kasia Lenhardt auch noch seinerseits beklagen darf, man habe ihm „das Recht zu trauern“ abgesprochen, öffnet die Doku jedenfalls erstaunlich viel Interpretationsspielraum zu Lasten der Objekte seines problematischen Verhaltens. Nicht umsonst haben sich mittlerweile gleich mehrere Talking Heads von der Serie distanziert. Alexander Stevens, das juristische Feigenblatt dieser Doku, wirft den Macherinnen vor, sie hätte “geschätzt 95 Prozent meines Interviews schlicht rausgeschnitten” und “drei kurze Statements, die völlig aus dem Kontext gerissen und zum Teil in neue Zusammenhänge hineinkopiert wurden” übrig gelassen. Alles im Dienste von Boatengs Exkulpation.

Dabei ist häusliche Gewalt weder „Rangelei“ noch Bestandteil einer „toxischen Beziehungen“ oder „Schlammschlacht“, wie es im Lauf mehrerer Prozesse mitunter hieß. Sie steht für eine Form nahezu ausnahmslos männlicher Aggressivität, die in letzter Konsequenz durchschnittlich einen Femizid pro Tag zur Folge hat. Was bei Boatengs daheim tatsächlich geschehen ist, da haben selbst verständnisvolle Zeitzeugen Recht, lässt sich seit dem Tod der Beteiligten nie mehr nachvollziehen.

Aber dass jemandem mit einer Prozessakte, die sogar noch größer ist als seine Vorbildfunktion als Fußballer und Stilikone, womöglich mehr alte Chancen verwirkt hat als neue verdient – dazu dürfte die Doku bei aller Objektivität gern klarer Stellung beziehen. Durch Interviews mit Frauenhaus-Betreuerinnen zum Beispiel oder Gewaltopfern, die weniger Durchsetzungskraft haben als alle Influencerinnen in Boatengs Schlafzimmern. Zumal auch dieser verhaltensauffällige A-Promi ebenso butterweich hochfallen dürfte wie Thomas Gottschalk, Didi Hallervorden oder Till Lindemann. In einer Doku über die Terroranschläge vom 13. Dezember 2015 saß er unlängst schon wieder als normaler Zeitzeuge vor der Sky-Kamera. Als wäre Jérôme Boateng einfach nur ein Fußballer von früher.


Gottschalks Abschied & Schneegespür

Die Gebrauchtwoche

1. – 7. Dezember

Die gute Nachricht einer Woche voller nicht ganz so guter Nachrichten: Thomas Gottschalk ist weg. Mit der letzten RTL-Ausgabe von Denn sie wissen nicht, was passiert hat der peinliche Onkel das Familienfest Samstagabendshow – parallel zur nächsten, als Herz für Kinder, getarnten, ZDF-Dauerwerbesendung für die rechtspopulistische Bild – verlassen. Bleibt nur zu hoffen, dass ihr Posterboy auch abseits der Bühne die Klappe hält und sich dabei von seiner Krebserkrankung erholt. Vielleicht erinnert man sich seiner dann ja doch noch als Entertainer, der das Medium vorm geriatrischen Rechtsruck wirklich bereichert hatte.

Aus Zeiten übrigens, in denen fast niemand den Rundfunkbeitrag kritisierte. Das hat sich allerdings so massiv geändert, dass die KEF dessen Erhöhung wider jede Vernunft niedriger ansetzt als dringend nötig, um den ÖRR als pluralistisches Gegengewicht gegen demokratiefeindliche Medien zu erhalten. Wozu das führen kann, erlebt man – wo sonst – gerade in den USA. Dort hat Donald Trump einen Pranger eingeführt, an den er vermeintlich unseriöse Medien und ihre Journalist:innen stellt – allesamt wenig überraschend solche, die ihn kritisieren.

Die öffentliche Anklagebank steht aber auch hierzulande längst sehr solide, wie ein absurder Vorwurf gegen Sophie von der Tann plus anschließendem Shitstorm zeigt. Weil sich die deutsche ARD-Korrespondentin erdreistet, Netanjahus Krieg im Gazastreifen differenzierter zu sehen, wurde sie vor der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrich-Preises als Antisemitin beschimpft. Es ist soo ermüdend, in der aktuellen Medienhysterie objektiv zu bleiben…

Da lobt man sich doch die Nüchternheit, mit der Tanns Kollegen vom heute-journal bis Sport1 Gianni Infantinos 87-minütige Propaganda-Parade zu Trumps Ehren begleitet, bevor dann doch noch WM-Gruppen ausgelost wurden. Ebenso lobenswert geriet die TeleVisionale nach ihrem Umzug aus Baden-Baden nach Weimar. Als beste Serie wurde Lamin Leroy Gibbas queer-migrantisches (Selbst)Porträt Schwarze Früchte ausgezeichnet und die Filmtrophäe gewann das Pädophilie-Drama No Dogs Allowed.

Weil der 3sat-Publikumspreis obendrein ans hinreißende Abschiedslied Sterben für Beginner ging, der MDM-Debütpreis an Chabos und der Studierendenpreis an Uncivilized, haben die Jurys vor allem das öffentlich-rechtliche Spektrum deutscher Fiktionen prämiert. Ob sie damit gegen internationale Streamer wie Netflix bestehen, der sich mal eben für 72 Millionen Dollar mal eben Warner einverleibt hat, bleibt dennoch mehr als fraglich.

Die Frischwoche

8. – 14. Dezember

Welche Investitionen der Marktführer mittlerweile tätigen kann, zeigt ja nicht zuletzt Noah Baumbachs Meisterstück mit George Clooney als eigenes Alter Ego Jay Kelly auf Erkenntnistrip nach Italien. Ohne Übertreibung dürfte der Vorspann dieses großartigen Melodrams mit dem überraschend fantastischen Adam Sandler mehr kosten als die gesamte Fortsetzung der ARD-Serie Asbest, während fünf Minuten des siebenteiligen Netflix-Westerns The Abandons teurer sind als komplette Komödien wie Bjarne Mädels Prange im Ersten.

Und das will schon deshalb was heißen, weil die starbesetzte Story um ein paar widerständige Frauen in den USA der 1850er Jahre von Kritik und Publikum förmlich zerfetzt werden. Das immerhin droht der zweiten Kino-Kurzauswertung bei Netflix ab heute nicht. Wake Up Dead Man, Daniel Craigs dritter Einsatz als moderner Hercule-Poirot-Verschnitt Benoit Blanc Detektiv, ist ein grandioses Krimi-Kammerspiel, dem man die Multi-Millionen-Investition schon in der Ausstattung ansieht. Deutlich günstiger dürfte die deutsch-dänische Drama-Serie Smillas Gespür für Schnee sein, der Magenta das altbackene Fräulein abgenommen und durch eine Überdosis mystischer Melodramatik ersetzt hat.

Deutlich weltlicher gerät hingegen das sechsteilige Frauenfreundschaftsporträt Little Disasters mit Diana Krueger, ab Donnerstag bei Paramount+. Ebenfalls mit vier Frauen in zentraler Rolle brilliert das ZDF-Spektakel Danke für nichts, ab Freitag in der ZDF-Mediathek, wo parallel auch die finnische Gangsterinnen-Serie Queen of Fucking Everything startet. Und zeitgleich ebenso weiblich dominiert: Die ARD-Serie Mozart/Mozart mit Havanna Joy als Wolferls Schwester ohne Anspruch auf historische Authentizität, aber wirklich äußerst unterhaltsam.


ZDFneo: House of Bellevue

Kurzweilige Selbstermächtigung

Die sechsteilige ZDF-Serie House of Bellevue (Foto: Daniel Lwowski/ZDF) macht nicht nur Berlins queer-migrantische Ballroom-Tanzszene sichtbar. Sie gibt den Figuren darin auch vielschichtige Gesichter jenseits ihrer intersektionalen Diversität. Das ist zwar manchmal stereotyp, aber ungeheuer empowernd. Und hat gestern völlig zu Recht den Serienpreis der TeleVisionale in Weimar gewonnen.

Von Jan Freitag

Voguing, progressive Wirtschaftswunderkinder West erinnern sich womöglich dunkel, war ein expressiver Tanz der Siebzigerjahre. Damals trat New Yorks queere Community aus ihrer gesellschaftlichen Nische ins Rampenlicht tagheller Diskotheken und verschwand ebenso wenig von dort wie Drogenkonsum, Diversität oder elektronische Beats. Drei, vier Befreiungsbewegungen später könnte man also meinen, weil die Emanzipation seither auch hierzulande schier unaufhörlich vorangeschritten ist, wäre Voguing kaum noch der Rede, geschweige denn Fernsehserien wert. Ein schöner Traum. Und ein trügerischer.

Das Rampenlicht der Siebzigerjahre leuchtet nämlich noch immer eher jenseits des heteronormativen Mainstreams. 2025 gönnt sich zwar jeder Vorabendkrimi ein paar schwule Randfiguren und mitunter gar Hauptkommissare. Halbwegs authentische Subkulturen aber schaffen es normalerweise nur als Dekorationen oder Opfer und Täter ins Drehbuch. „Ballrooms“ genannte Sammlungen verschiedenster Performances, bei denen sich marginalisierte, meist migrationshintergründige Gruppen wie vor 50 Jahren im Big Apple bei Battles von Fashion über Beauty bis Tanz miteinander messen, gibt es daher höchstens mal im Spartenprogramm von Arte.

Mit der ZDF-Serie House of Bellevue arbeiten sie sich jetzt allerdings ins Unterhaltungsprogramm des ZDF vor. Zunächst zwar nur in der Mediathek zuzüglich nächtlicher Neo-Ausstrahlung drei Tage drauf. Aber immerhin – es ist Teil des öffentlich-rechtlichen Angebots an alle. Rein inhaltlich zieht der Schwarze Emm (Ricco-Jarret Boateng) darin vom ereignisarmen Lausitzer Provinznest Spremberg ins pulsierende Berlin, um Vogue-Performer zu werden. Sein erster Versuch auf dem Laufsteg endet ähnlich enttäuschend wie der Einzug in ein überteuertes, abweisendes, dunkles Plattenbau-Zimmer. Doch weil er bald darauf Gleichgesinnte trifft, geht es für ihn danach erstmal bergauf.

Die einflussreiche Ballroom-Organisatorin Lia (Nora Henes) fördert den bisexuellen Frischling in ihrer eigenen Tanzschule. Auch Mother Calista (Florence Kasumba), als offiziell amtierende Königin aller deutschen Vogue-Events geradezu anbetungswürdig, erkennt Emms Potenzial. Und der angehende Modedesigner Djamal (Abed Haddad) gewährt ihm Asyl in seiner bezahlbaren, einladenden, lichtdurchfluteten WG plus tiefe Freundschaft auf Augenhöhe. So tanzt sich der 19-Jährige rasch aufwärts in der Hierarchie dieser schillernd-schönen Party-Blase. Und das ist für sich genommen schon sehr amüsant.

Der Writers Room von Kai S. Pieck zeichnet den Berliner Ballroom schließlich als bodypositive Version von Heidi Klums Supermodel-Zucht bei ProSieben, spart trotz aller Diversität aber nicht an deren Eifersucht, Drama und Zickenkrieg. Weil selbst Tanzfilme von Flashdance bis Dirty Dancing nicht ohne Handlung auskommen, war der Hauptautor obendrein gut beraten, seinen Co-Regisseuren Gabriel B. Arrahnio und Toby Chlosta mehr als dufte Musik mit an den Set zu geben. In House of Bellevue geht es daher mindestens nebenbei auch noch um Spielarten intersektionaler, also mehrfacher Diskriminierung, denen die Charaktere hier ausgesetzt sind.

Zumal einer der Stoffentwickler dieser deutschen Pose-Variante (bis zu seinem Ausstieg) Lamin Leroy Gibba war, der mit Schwarze Früchte Ende 2024 mindestens 99 Thesen entwaffnend ehrlichen Empowerments ans staubige ARD-Kirchenportal genagelt hatte. Sein anfänglicher Einfluss hat der Serie womöglich den Philorassismus ausgetrieben – jene wohlmeinende, aber leicht ölige Schonhaltung, mit der besagte Vorabendkrimis gelegentlich Vielfalt simulieren, statt abzubilden. Die queeren Zuwandererkinder dagegen dürfen unangenehm auffallen. Die Schwarze Lia zum Beispiel ist von ähnlichem Ehrgeiz zerfressen wie ihr afrodeutscher Vater, der sie gern in den Fußstapfen seiner eigenen Architektur-Karriere gesehen hätte.

Auch Emm sieht in Leas House of Bellevue eher Sprungbrett als Safespace, weshalb er selbst Freunden oder Verwandten ständig vor den Kopf stößt. Und die sexuelle Identität des irakischen Ballroom-Stars Mo (Kawian Paigal) ist ebenso dubios wie sein Umgang mit Rauschdrogen. Damit zeigt Producer David Ekow Herman, wie nah seine Crew dem Thema kommen wollte – und konnte. Selbst als Ballroom-Promoter aktiv, ging es ihm nach eigener Aussage schließlich um einen Raum für „respektvollen und offenen Austausch“, in dem „Individualität gefeiert und kollektive Kreativität gestärkt“ werde.

Ob es ein „tiefes Verständnis für Schwarze und Latinx-queere Kultur, Körperbewusstsein und Selbstinszenierung“ erzeugt, „das sich aufs Publikum überträgt“, bleibt allerdings abzuwarten. Weil das ZDF einerseits wie immer viel zu feige ist, so ein Format auch mal in der linearen Hauptsendezeit auszustrahlen, dürfte House of Bellevue ja vor allem für Gläubige predigen. Weil es (vermutlich mangels Budget) andererseits oft leicht schäbig ausgestattet wurde und dabei (wohl eher aus Bevormundungs- als Kostengründen) öfter das Drehbuchpapier raschelt, könnte es allerdings selbst in der eigenen Gemeinde auf Kritik stoßen.

Schließlich ist die Serie, der es abseits allen Entertainments auch um Beseitigung kulturkreisüblicher Klischees geht, manchmal ihrerseits stereotyp. Dass Emms gierige Vermieter im Märkischen Viertel zwei queerphobe Knalltüten wie aus dem AfD-Katalog sind, hätte sich Kai S. Piecks Team jedenfalls ebenso verkneifen dürfen, wie das wiederkehrende Starren auf Fotos oder Smartphones, um Emotionen zweidimensional zu machen. All das sind aber allenfalls handwerkliche Mängel.

Dazwischen und außerhalb verbirgt sich aber ein ersichtlich empathisches Bemühen um Ausgewogenheit mit Unterhaltungsanspruch, vor allem jedoch Haltung. Oder wer hat sich außerhalb der entsprechenden Community schon mal gefragt, wofür eigentlich der letzte Buchstabe im sprechenden Diversitätskürzel LGBTQIA+ steht? Hier gibt die scheinbar einsame DJ-Ikone TJ (Ilonka Petruschka) darüber angenehm unaufgeregt, vor allem aber ohne erhobenen Zeigefinger Auskunft.

Damit sorgt die Serie des jungen Berliner Produktionsunternehmens Don’t Panic Films im Kreis eines absolut typgerecht zusammengestellten Ensembles (Casting: Liza Stutzky und Jan Nwattu) für etwas, das selten ist im deutschen Regelprogramm: Diversität für alle Interessierten kurzweilig sichtbar zu machen. Und mal ehrlich: Eine Serie, die Alice Weidel nach Lage der Dinge hassen dürfte, kann nicht ganz schlecht sein.


Kraftklub, Siriusmo, Felix Raphael

Kraftklub

Ach Kraftklub, du alte Powerpop-Muckibude – deiner linksbombastischen Energie verzeiht man doch echt jeden Einrichtungspatzer. Das erste Stück deiner neuen Platte zum Beispiel, die fünfte, obwohl man das Gefühl hat, es müssten schon mindestens doppelt so viele sein: Mit Domiziana will  Felix Brummer aka Kummer darin “Unsterblich sein” und klingt ein bisschen wie Nina Chuba auf Pep. Was uns das sagt? Sterben in Karl-Marx-Stadt nimmt sich alle Freiheiten einer unantastbaren Band.

Denn das, was darauf folgt, ist eine Art hauseigenes Glossar von allem, was sie zur vielleicht wichtigsten deutscher Partypolitik macht. Besonders, wenn sie von Deichkind beschleunigt “Auf einer Handvoll Pilzen im Dschungel” unterwegs ist und auch sonst Kummers eigensinniges HipHop-Geshoute mit technoidem Stadionrock mischt. Ach ja – und Nina Chuba wurde in Fallen in Liebe dann auch noch wirklich ganz ohne Aufputschdrogen dazu geladen. Auch geil. Alles geil.

Kraftklub – Sterben in Karl-Marx-Stadt (Eklat Tonträger)

Siriusmo

Auch geil, alles geil, weil noch vielschichtiger, ach was: vollschichtiger, ist das, was der Berliner Produzent Moritz Friedrich als Siriusmo auf Tonträger stapelt. Buletten und Blumen heißt sein viertes Album. Und es ist so derartig gestopft mit discotauglichem Soundgewusel in drei Dutzend Stilrichtungen einer so babelhaften Sprachvielfalt, dass man aus dem Staunen kaum rauskommt. Schon auch alles bisschen Deichkind-weird.

Aber mit deutlich weniger Four-to-the-Floor-Überwältigungsgestus. Dafür verliert sich die Platte viel zu oft im ataridigitalen Klein-Klein dadaistischer Samples und Synths. Nur, dass sie halt jederzeit vom funky Grundbeat wiedervereinigt werden, mehr noch: blühende Landschaften audiophiler Experimentierfreude hinterlassen, die unsere Zivilisation grad dringend benötigt, um darin ab und an etwas Energie zu tanken. Bisschen wie Deichkind auf Keta. Ohne Nina Chuba. Auch okay.

Sirusmo – Buletten und Blumen (Monkeytown Records)

Felix Raphael

Und noch so ein ein alter junger Hase der elektronischen Berliner Fundgrube voll von allem, was man künstlich erzeugen, aber analog verbreiten kann: Felix Raphael. Seit Jahren schon mischt er House mit instrumenteller Haptik, die bis Flügelhorn reichen kann. Und dabei gelingt ihm erneut das Kunststück, melodramatisch, fast pathetisch zu klingen und dennoch irgendwie weltlich verspielt. Alles also, wofür sein Label PIAS steht.

Dass DO YOU eine Art psychotherapeutische Selbstbespiegelung als popkultureller Sozialarbeiter, also sehr persönlich ist, hört man den meisten der 16 Stücke dabei zwar durchaus an. Unter seiner fragilen Glasstimme drängt es sich aber nie komplett in den Vordergrund. Dafür sorgt schon ein stabiles Durchschnittstempo handgestoppter 100bpm, die jede Trägheit vertreiben. Mit stabiler Anlage bewegt DOU YOU daher nicht nur Herzen, sondern Dancefloors.

Felix Raphael – DO YOU (PIAS)


Arte-Doku: Pawel Durow & Telegram

Informationen nach Gutsherrenart

Zwölf Jahre nach der Gründung des Messenger-Dienstes Telegram ist immer noch unklar, was dessen Gründer Pawel Durow wirklich will. Eine Arte-Doku nährt sich Antworten über den absolutistischen Herrscher eines liberalen Messengers aus der angehenden Diktatur Russland zumindest mal an.

Von Jan Freitag

Tech-Milliardäre gönnen sich gerne exklusives Spielzeug. Marsmissionen zum Beispiel, US-Präsidenten, Kryptowährungen und seit neuestem, für Normalsterbliche so unerreichbar wie unerschwinglich: Longevity. So heißt das Selbstoptimierungskonzept superreicher, meist männlicher Menschen, mithilfe biomedizinischer Prozesse länger zu leben. Peter Thiel oder Jeff Bezos investieren dafür Unsummen in gentherapeutische Start-ups. Pawel Durow bevorzugt klassische Methoden.

Disziplin, Ernährung, Askese, Sport: dieses pausenlose Trainingsprogramm hat seine inneren 41 Jahre äußerlich auf gut die Hälfte reduziert. Damit wäre das russische Mathe- und Marketinggenie nur unwesentlich älter als sein wichtigstes Selbstoptimierungskonzept: Telegram. Ein weltumspannender Messenger-Dienst, der fast so gut in Form ist wie dessen Erfinder. Vor allem aber: ähnlich dubios. Und beides fasziniert seinen Landsmann Aleksandr Urzhanov seit der Geburt des jüngeren Pawel Durow.

Zwei Jahrzehnte beobachtet der Investigativ-Journalist den steilen Aufstieg eines St. Petersburger Elitestudenten in die Broconomy genannte Aristokratie mächtiger Digital-Unternehmer. Gemeinsam mit Regisseur Igor Sadreev hat der Exil-Berliner seine Recherchen jetzt zur RBB-Serie verdichtet. Und schon der Titel deutet an, dass es keine Lobeshymne geworden ist: „Das dunkle Imperium von Pawel Durow.“ Wie dunkel, wie imperial – das fragt die Dokumentation dreimal 40 Minuten. Und vorweg: einfach Antworten gibt es nicht.

Zur Erkennungsmelodie der brachialen Kapitalismus-Schelte Succession beginnt die Reise mit ihrem (vorläufigen) Ende: Am 24. August 2024 steigt Durow in Paris aus seinem Privatjet und wird festgenommen. Der Vorwurf lautet Drogenhandel, Hassverbrechen, Kindesmissbrauch. Wenngleich nicht eigenhändig, sondern durch Unterlassen entsprechender Schutzvorrichtungen für weltweit angeblich eine Milliarde Telegram-Nutzer.

Seit seiner (vorläufigen) Freilassung residiert der russische Staatsbürger mit französischem Pass in einem Pariser Luxushotel für angeblich 25.000 Euro pro Nacht. Und von dort aus arbeitet er nicht nur an seiner physischen Unvergänglichkeit. Es geht ihm auch um sein Kernanliegen: die „Beseitigung der Informationsasymmetrie“, wie es ein Biograf in der Serie beschreibt. Genauer: das Ende klassischer Medien als Gatekeeper der gesellschaftlichen Kommunikation zum Wohle informationeller Eigenverantwortung.

Und hier wird es kompliziert. Denn Durow mag seine Unternehmen, die teilweise mit dem Geld organisierter Banden aufgebaut wurden, nach Gutsherrenart führen – ohne Regeln, Betriebsräte, Transparenz und Belegschaft. Er weigert sich nachweislich, seinen Messenger auch nur ansatzweise gegen Radikale, Pädophile, Gesetzlose abzusichern und vergleicht das 30-köpfige Ingenieur-Team beim Interview mit dem rechtsradikalen Trump-Fan Tucker Carlson als „Navy Seals“. Mehr noch!

Geld verdient Durow fast nur mit nebulösen Krypto- oder Blockchain-Deals. Und das, nach Stress mit der amerikanischen Börsenaufsicht, mittlerweile vom autokratischen Zockerparadies Dubai aus, wo ihn das Bundesjustizministerium wegen zahlloser Verstöße gegen das Netzwerkdurchsuchungsgesetz seit Jahren vergeblich haftbar machen möchte. Nahezu alles am Gebaren des Vaters von angeblich 100 Kindern ähnelt daher dem ruchlosen Turbokapitalismus von Elon Musk bis Mark Zuckerberg.

Mit einer Ausnahme: der einzige Europäer im Kreis US-amerikanischer Tech-Narzissten hält sich bis heute relativ glaubhaft fern vom Sumpf geschmeidiger Autokraten-Kuschler à la Bezos und Thiel. Seine Weigerung sich irgendeiner anderen Macht als der eigenen unterzuordnen, wirkt demnach einigermaßen authentisch. Dass Verschwörungsideologen und Antifaschisten, der IS und die Linke, Reichsbürger und Demokraten, Putins Propagandisten und Selenskyjs Freiheitskämpfer gleichberechtigt auf Telegram kommunizieren, scheint das eher zu be- als widerlegen.

Immerhin, so lehrt uns die ARD-Doku, hat Pawel Durow sein russisches Facebook VK nach der Krim-Invasion verkauft und mit kolportierten 300 Millionen Dollar Erlös das staatsferne Telegram aufgebaut. Die geflohene Online-Reporterin Galina Timchenko vergleicht den Messenger deshalb mit einem Küchenmesser. Man könne damit „Brot schneiden oder jemanden erstechen“. Pawel Durow macht beides, ohne selbst Hand anzulegen. Noch.

Denn wenn uns Donald Trumps neoliberale Monarchie etwas lehrt, dann dass sie mehr als alle anderen die Mächtigen korrumpiert. Zwölf Jahre nach der Gründung von Telegram jedenfalls zeigt sich: auf dem Weg zur globalen Autokratie nutzen es vor allem die Feinde von  Demokratie und Pluralismus.


Weimers Einfluss & Riefenstahls Erbe

Die Gebrauchtwoche

17. – 23. November

Nein, Wolfram Weimer wird in diesem Staatssekretärsleben sicher kein Freund linksliberaler, interessanterweise aber auch nicht rechtsradikaler Medien mehr werden. Nachdem das AfD-Fanzine Apollo News skandalisiert hatte, der wirtschaftspolitische Gipfel seiner eigenen Media Group verspreche Teilnehmenden „Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger“, ging das Thema durch abseits aller Schützengräben durch die Presse – und hat dazu geführt, dass Weimer die 50 Prozent an seiner eigenen NGO verkauft hat.

Fast drängt sich der Verdacht auf, konstruktive Kritik könne konservatives Verhalten nachhaltig beeinflussen. Kaum jedenfalls, dass Andres Veiels Kino-Porträt Riefenstahl in der Fernsehzeitschrift unter ARD aufgetaucht ist, erkennt der filmwirtschaftliche Dachverband SPIO Goebbels-Günstlingen wie Leni Riefenstahl oder Heinz Rühmann die Ehrenmitgliedschaft ab. Und kaum, dass ein Rechercheteam aus SZ, WDR, NDR den Liedermacher Konstantin Wecker als (mutmaßlich) Pädokriminellen entlarvt, entbrennt eine Debatte über toxische Männlichkeit in der Musikbranche.

Im Mackerbusiness Profisport hat Paramount+ dank der unerschöpflichen Mittel des Oracle-Gründers Larry Ellison den Testosteron-Kanal DAZN ausgestochen und überträgt die Champions League ab Sommer 2027 gemeinsam mit Prime Video, während Sky und RTL überhaupt keine europäischen Spiele mehr zeigen – also ausgerechnet jene zwei Sender, die sich gerade vereinigen. Bisschen zynischer Übergang vielleicht, aber Alice und Ellen Kessler – der halben Welt als Kessler-Zwillinge bekannt, sind nach 81 Jahren gemeinsam aus dem Leben geschieden.

Ihr geplanter Suizid hat eine hochinteressante Diskussion übers Recht auf den eigenen Todeszeitpunkt ausgelöst, die dadurch neue Dynamik entwickeln könnte. Bei der Gelegenheit, etwas untypisch, noch ein weiterer Nachruf: freitagsmedien trauert um Udo Kier – einen der bemerkenswertesten Schauspieler überhaupt. Gestern ist er mit 81 gestorben, nachdem seine blauen Augen mehr als 200 Filme selbst in kleinster Nebenrolle geprägt haben.

Die Frischwoche

24. – 30. November

Und damit zurück zu Leni Riefenstahl, die 2003 im biblischen Alter von 100 Jahren gestorben war. Warum man Hitlers Lieblingsregisseurin damals wie heute echt keine Träne nachweinen sollte, zeigt Andres Veiel in der ARD-Mediathek. Riefenstahl, produziert von Sandra Maischberger, ist die brillant montierte, kunstvoll entlarvende Dekonstruktion der Legende einer NS-Karriere ohne Schwefelgeruch. Und sie sagt dabei auch noch einiges über die Schuldverdrängung des deutschen Tätervolks.

Tags drauf stellt sich Riefenstahls Gesinnungsgenosse Jan Fleischhauer ins Rampenlicht der ZDF-Mediathek. Keine Talkshow heißt eine Talkshow, in der er sich das neurechte Sturmgeschütz mit Andersdenkenden einsperren lässt. Zum Auftakt: Reyhan Şahin aka Lady Bitch Ray. Und das ist mutig. Vom ZDF. Von Fleischhauer. Von Şahin. Ob der Start in dieser Konstellation mit dem Orange Day gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu tun hat, den das Zweite parallel mit einer breiten Programmpalette begleitet, bleibt aber Spekulation.

Zwei Tage später jedenfalls geht das nächste Empowerment-Format in der ZDF-Mediathek online: House of Bellevue. Die Serie taucht sechs Teile lang fiktional in Berlins queere Partyszene ein und verschafft ihr damit nicht nur dringend nötige Sichtbarkeit. Ähnlich wie in seiner grandiosen Milieustudie Schwarze Früchte schafft es Co-Autor Leroy Lamin Gibba erneut, Abweichungen vom heteronormativem Mainstream in ihrer vollumfänglichen Alltäglichkeit zu zeigen.

Alltag anders ist auch das Thema des fabelhaften Episodenfilms I Am The Greatest, in dem Nicolai Zeitler und Marlene Bischof zeitgleich bei Arte sieben sehr gewöhnliche Menschen im Fleischwolf der Gegenwart skizzieren. Zur Vervollständigung noch zwei sehenswerte Dokumentationen: am Donnerstag porträtiert die ARD-Mediathek in ihrer Being-Reihe fünf Teile lang Katharina Witt und tags zuvor über 90 Minuten hinweg den Telegram-Gründer Pawel Durow.

Zwei polarisierende Figuren der Zeitgeschichte, die demselben System entstammen, aber sehr unterschiedlich daraus hervorgegangen sind. War noch was? Ach ja – Stranger Things geht Donnerstag ins Serienfinale – wenngleich, wie bei Großprojekten mittlerweile üblich, über drei Staffel gestreckt.


Stabil: Psychiatrie & Happyend

Feelgood-Depressionen

Die ARD-Serie Stabil um ein halbes Dutzend Insassen einer Jugendpsychiatrie dockt an Formate wie Euphorie oder Hungry an. Junges Seelenleid wird von erwachsenen Filmemachern darin endlich mal ernst genommen. Das tut der deutsche Sechsteiler im Grunde auch – und landet dennoch im Bällebad fiktionaler Klischees. 

Von Jan Freitag

Im Zeitalter des neuen Kinos Serie hat es eine Regel zur Gesetzeskraft gebracht: Nie spoilern! Sie gilt also auch für Stabil. Wenn die ARD den Sechsteiler heute online stellt, verböte es sich deshalb normalerweise von selbst, das finale Kapitel der Geschichte einer Jugendpsychiatrie und ihrer Insassen zu verraten. Einerseits. Andererseits gibt es eine Art feuilletonistischer Fürsorgepflicht, das Publikum vor verschwendeter Lebenszeit zu warnen. Nach fünfeinhalb Folgen existenzbedrohender Probleme nämlich gleiten nahezu alle Hauptfiguren nicht nur lachend ins Happyend; zwei davon genießen gar die Aussicht auf ein sorgenfreies Leben in trauter Zweisamkeit.

Man kann, nein: muss von dieser Verharmlosung der dystopischen Krankheit Depression in all ihren Facetten also nur abraten. Dabei ist die Thematik durchaus verheißungsvoll. Nach einem Suizidversuch landet Greta (Luna Mwesi) in der psychiatrischen Klinik von Dr. Kim (Abak Safaei-Rad). Sechs halbe Stunden kämpft die 16-Jährige fortan mit einer Gruppe Gleichaltriger buchstäblich ums eigene Seelenheil. Zugleich aber versucht sie im geschlossenen System medizinisch-sozialer Kontrolle, das weder Außenkontakt noch Intimitäten gestattet, erwachsen zu werden. Ein pubertärer Spagat, den zurzeit reihenweise fiktionaler Formate wagen.

Aktuell etwa brillieren Derya Akyol und Sira-Anna Faal im fabelhaften RTL+-Reboot zur US-Serie Euphoria als mental kollabierende Prototypen der Generation Z. Ein Jahr zuvor ließ ZDFneo die essgestörte Ronnie (Zoe Magdalena) in Hungry an sich und ihrer Welt verzweifeln, nachdem Caroline Links Meisterwerk Safe an gleicher Stelle für zwei Psychologen und ihre Patienten Preise abgeräumt hatte. Gerade erst wurde Staffel 2 des Genre-Pioniers Club der roten Bänder abgedreht. Und jede dieser Serien wirft ein ebenso glaubhaftes wie anregendes Bild auf Jugendliche im Dauerstress ihrer krisengebeutelten Epoche.

Wenn sich Regisseurin Teresa Fritzi Hoerl drei der sechs Folgen Stabil selber aufgeschrieben hat, könnte es auf dem gebührenfinanzierten Online-Portal daher gehaltvoll werden. Schließlich trägt die Serie durch ihre Existenz allein schon dazu bei, das Chaos im Kopf Heranwachsender für voll zu nehmen. Schade nur, dass Hoerls Vorqualifikation in einer cremigen Melange aus Werbefilmen, Feelgood-Movies und dem gesendeten Pony-Fanzine Reiterhof Wildenstein besteht. Was die Hauptautorin mithilfe dreier Kolleginnen verzapft, hat deshalb den Tiefgang einer mittelmäßigen Vorabendserie. Schlimmer noch: inhaltlich grenzt sie oft an Körper-, Geist- und Seelenverletzung. Es nimmt bereits in Minute zwei seinen Anfang.

Vom vermeintlich mitverschuldeten Tod ihrer Schwester Nele lebensmüde, rast Greta mit dem Motorroller frontal gegen die Wand. Dass sie dabei nur zwei, drei dekorative Cuts im makellos geschminkten Gesicht davonträgt, ist nur das erste einiger Dutzend schlecht gescripteter Melodramen. Rückstandslos genesen nämlich zieht die 16-Jährige in eine Kinder und Jugendpsychiatrie, wo ihr eine Betreuerin „Uwe, dein Bezugspfleger, hier in der Kinder- und Jugendpsychiatrie“ vorstellt.

Das bevormundende Erklärbär-Fernsehen deutscher Art schießt sofort aus allen Didaktik-Rohren und sichert es mit einem Kugelhagel stereotyper Charaktere ab. Der spielsüchtige Killer (Uhud Karakoç) heißt wie sein Egoshooter und ist natürlich übergewichtig. Die autoaggressive Michelle (Katharina Hirschberg) wäscht sich nie und nascht dazu Chilischoten. Ein exoaggressiver Hooligan namens Fresse (Beren Zint) schlägt um sich und trägt Goldkettchen. Keine drei Sekunden nach ihrer Einführung packt jede Figur all ihre Macken auf den Stationstisch, damit auch ja niemand Zweifel daran hat, wie krass so eine Einrichtung ist.

Für alle inszenatorischen Mängel und Widersprüche fehlen hier Zeit und Raum. Nur so viel: dass der Gewalttäter im Zimmer des Gewaltopfers Alireza (Caspar Kamyar) einquartiert (und hinter ihm abgeschlossen) wird, ist sogar noch absurder als Alizeras Turtelei mit der verlusttraumatisierten Greta zwei Szenen später. Nach drei Folgen, bei denen fast permanent das Drehbuchpapier raschelt („eine psychische Erkrankung ist immer ein Zusammenspiel aus genetischen Faktoren, neurobiologischen Prozessen und ja, auch dem Umfeld“), setzt man daher Hoffnungen in die zweite Regisseurin Sinje Köhler. Schließlich verdanken wir ihr gelungene Serien wie Doppelhaushälfte – und werden sofort bitter enttäuscht.

Wie der gemobbte Alireza beim Ausflug ins Shoppingcenter Sekundenbruchteile vorm ersten Kuss mit Greta die Täter aus Schulzeiten trifft, ist ebenso billig konstruiert wie Fresses weicher Kern, den uns sein behutsamer Umgang mit Faltern (im Abendlicht) und Pferden (in Zeitlupe) einzuprügeln versucht. Und kleiner Tipp für Nachwuchsfilmemacher: Gelegentliche Flashbacks sind ein legitimes Hilfsmittel zeitüberlappender Erzählungen. Permanent verwendet, stehen sie einfach nur für Denkfaulheit.

Das ist schon deshalb schade, weil sich Luna Mwezi – die 2020 mit 13 Jahren als drogensüchtiges „Platzspitzbaby“ im Kino auffiel – spürbar für ihre Figur aufreibt. Auch Ronald Zehrfelds Pfleger Uwe ist in jeder Sekunde authentisch. Und dass wir viele Patienten viertelstundenweise beim Therapie-Dialog beobachten, ringt dem Boom-Genre Jugend-Medical eindrückliche Facetten ab. Wäre das anschließende Happyend kein so lächerlicher Schlag ins Gesicht aller Psychiatriepatienten, die statt fünf klischeehafter Episoden oft lebenslang mit ihrer Krankheit kämpfen. Vielleicht machen Köhler und Hoerl doch lieber was mit Ponys.


Plattformrechtsdrall & Toxic Tom

Die Gebrauchtwoche

10. – 16. November

Der Begriff „Medium“, Altgriechisch für „das Mittlere“ wird seit langem schon für kommunikative Öffentlichkeit verwendet. Zu ihr gehören also – auch wenn es manch einem Presseverlag und Fernsehsender missfällt – Plattformen wie TikTok oder Spotify ebenso wie seit neuestem ChatGPT. Drei digitale Medien einer hochtourigen Öffentlichkeitskommunikation, die gerade mehr Aufmerksamkeit generieren, als ihren Logarithmen lieb ist.

TikTok zum Beispiel bietet auf seinem Marktplatz reichlich rechtsradikales Merchandising an, wie ein Rechercheteam der Süddeutschen Zeitung in einem Selbstversuch belegen konnte. Das Portal reagiert nicht auf Nachfragen. Spotify Niederlande wird mit rechtsextremer Musik geflutet, wie der Deutschlandfunk berichtet. Der Audio-Streamingdienst reagiert nicht auf Nachfragen. ChatGPT verletzt massenhaft Urheberrechte, wie das Münchner Landgericht urteilte. Der Chatbot geht dagegen, klar, in Berufung.

Ob die Ankündigung von Google, Milliarden in Deutschland – vor allem Berlin und München – zu investieren, eine bessere Nachricht ist, bleibt angesichts der demokratiezersetzenden Stoßrichtung von Mark Zuckerbergs Megakonzern Meta im Rücken noch zu klären. Definitiv besser ist dagegen die aus Entenhausen. Unterm Titel E-313 leitet Nr. 604 des Lustigen Taschenbuchs demnächst die Mobilitätswende ein und beginnt mit dem umgerüsteten Oldtimer von Donald Duck.

Parallel geht die Debatte um Deutungshoheit und Interpretationsspielräume der Netflix-Doku über Haftbefehl weiter. Einige fordern, sie als Schulstoff einzuführen. Andere plädieren angesichts der Selbstentblößung eines glorifizierten Drogenwracks für Warnhinweise aller Art. Und dann wäre da noch die neue Sky-Kooperation mit Sony. Sie ersetzt künftig die regelhafte Ausstrahlung aller HBO-Formate bei Wow. Wo die demnächst laufen, muss also noch geklärt werden.

Die Frischwoche

17. – 23. November

Bei startet morgen derweil die norwegische Dramaserie Toxic Tom. Wie der Titel andeutet, handelt sie von einem Incel, der in seiner Man-Cave jede freie Minute damit verbringt, Hass auf Frauen zu verbreiten. Darunter die populäre Fernsehmoderatorin. Und da, wie sagt man so schön: legt er sich mit der Falschen an. Klingt erstmal nicht ungewöhnlich. Aber was ab der zweiten von vier Episoden folgt, ist mit das Originellste, was eine Fiktion zu diesem Thema vielleicht jemals ersonnen hat.

Ebenfalls ungewöhnlich ist der israelische Achtteiler Fireflies. Ab Freitag explodieren darin bei Paramount+ rings um ein Wüstenstädtchen plötzlich Menschen. Verantwortlich dafür scheinen zwar die weiten Minenfelder des konfliktverseuchten Landes zu sein, an denen zwei Schulfreundinnen im Polizei- und Räumdienst arbeiten. Je länger die Serie dauert, desto mysteriöser werden allerdings mögliche Ursachen. Von denen endlich mal die wenigsten politischer Herkunft sind.

Ebenfalls unergründlich ist es, warum dem Abteilungsleiter eines Immobilienkonzerns bei der Präsentation einer Shoppingmall der Stuhl unterm Hintern zusammenbricht. In seiner eigenen Sky-Serie The Chair Company gerät Hauptdarsteller Tim Robinson daraufhin ins Hamsterrad irrer Verschwörungstheorien. Und wie der Comedian das ab Donnerstag spielt, ist mitunter zwar leicht overacted, aber auf sehr unterhaltsame Art entlarvend.

Das wird hoffentlich zeitgleich auch die dreiteilige ARD-Mediatheken-Doku Being Jérôme Boateng, in der das Erste versucht, dem frauenverachtenden Fußballprofi näherzukommen. Und noch ein ARD-Format, diesmal live: Tödliches Spiel, ein Krimi-Dinner mit Jan Josef Liefers und Axel Prahl als Gastgeber eines maximal prominent besetzten Esstischs, am dem es sicher drollig zugeht.


Tim Mälzer: Impossible & Meisterklasse

Das ist hier eine Teller-Therapie

Tim Mälzer war nie weg und ist doch zurück: Als Coach und Kumpel im Sternekoch-Casting Mälzers Meisterklasse, wo er bei Vox diesmal mit Halbprofis in der luxuriösen Inselküche steht. Ein schnodderig-selbstbewusstes Gespräch über Tränen am Herd, Scheitern als Chance und warum er ein Steckrübeneintopf ist, vorab ersscheinen beim Medienmagazin DWDL.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Tim Mälzer, haben Sie die Disney-Serie The Bear um ein hektisches Restaurant in Chicago gesehen?

Tim Mälzer: Ja. Klar.

Und?

Dieses getriebene, lebensschwere Chaos ist mir persönlich viel zu intensiv. Ein Küchenchef, der sein Team heute noch so behandelt, ist nicht nur ein schlechter Küchenchef, sondern bald auch allein und Pleite. Rumgrölen ist Führungsschwäche, nicht Führungsstärke. Wenn du bei Jan Hartwig in der Küche stehst…

Ihr Ko-Juror bei Mälzers Meisterklasse, selber mit drei Sternen dekoriert.

… dann hörst du kaum ein lautes Wort, da läuft alles wie von selbst. Dieses ständige philosophische Überhöhen großer Köche geht mir ohnehin auf die Nerven. Du darfst gerne fürs Kochen brennen, aber am Ende geht es dabei um Essen und Trinken, fertig. Ich vergleiche das gern mit Fußball: Da sind auch elf Leute auf dem Platz, von denen alle spezielle Fertigkeiten haben, aber gewinnen können sie nur gemeinsam.

Die 50.000 Euro für Mälzers Meisterklasse mit dem Bonus eines Duells mit Ihnen bei Kitchen Impossible gewinnt allerdings nur einer oder eine.

Aber auch da ist mir ein gewisses Miteinander wichtig. Schon, um mit Frustrationsmomenten besser umzugehen, die es natürlich gibt. Mein Job dabei ist es ja, die Leute aus ihrer Komfortzone rauszuholen. In der kannst du solide Arbeit abliefern, aber nicht über dich hinauswachsen. Je häufiger du dir die Hände verbrennst, desto klarer wird, wer du bist.

Und Ihre Hände haben öfter gebrannt?

Ja. Und je heißer, desto extremer waren meine Entscheidungen. Mit dem Kochen aufzuhören, zum Beispiel, und lieber Restaurants zu führen als Küchen. Ich wollte schon immer ebenso an mich glauben wie an mir zweifeln und dabei ständig meine eigenen Konzepte verändern. Deshalb wollte ich nach all dem Herumreisen für Kitchen Impossible jetzt auch unbedingt wieder mal ins Studio. Routine ist Langeweile und beides habe ich schon immer als Gift auf dem Weg zur eigenen Persönlichkeit angesehen.

Ein Ziel, dass sie den 15 Kandidatinnen und Kandidaten der Meisterklasse in fast jeder Aufgabe mit an den Herd geben.

Und sie damit bewusst ein bisschen überfordere. Nur so gibt es Lerneffekte, und die sind das Wichtigste an jeder Arbeit.

Das Wichtigste an dieser Art Reality ist wie so oft Emotionalisierung. Ständig sind Tränen, Wut, Verzweiflung in Zeitlupe zu sehen. Gehört das einfach dazu oder stört es Sie?

Es ist Fernsehen und Fernsehen braucht Gefühle! Und ob die wahrhaftig sind, kann ich als Vater und Unternehmer mittlerweile ganz gut einordnen. Tränen, die Druck abbauen, sind meistens echt, die kann man zeigen. Tränen, die aus Missverständnissen entstehen, sind meistens falsch, die sollte man weglassen.

Nicht jede Träne ist ein Trauerfall?

Genau, aber das hier ist eine Teller-Therapie in sechs Sitzungen à 90 Minuten. Da sind Selbstzweifel vorprogrammiert. Ich selber zweifle ja ständig an mir, das grenzt ans Hochstaplersyndrom. Deshalb kann ich auch überhaupt nicht gut mit Komplimenten umgehen. Schlimmer ist eigentlich nur der Vorwurf, ich sei arrogant. Das kriegen Prominente zwar gern zu hören, falls sie nach einem harten Arbeitstag nicht mehr die Kraft haben, auch noch das 40. Selfie zu machen. Aber manchmal ist man halt einfach zu müde.

Und zwar auch langfristig, deshalb haben Sie sich öfter aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Was bringt einen Kochunternehmer am Ende weiter: Erfolg oder Scheitern?

(überlegt lang) Erfolg und Anerkennung sind schon wichtig, aber mehr und nachhaltiger lerne ich aus Fehlern. Deshalb ist mir Scheitern so wichtig. Zumal Deutschland eine so blöde Fehlerkultur hat, und das ist durch Giftspritzen auf Social Media nochmals schlimmer geworden. Viele dort können nicht gut mit Niederlagen umgehen, weiden sich aber an denen anderer. Fürchterlich! In der Meisterklasse geht es mir hingegen darum, die Kandidatinnen und Kandidaten voranzubringen. Ich beziehungsweise Jan muss zwar Leute rauswerfen, aber nicht, weil sie schlecht sind, sondern weil andere besser sind. Auch ich bin zwar manchmal destruktiv, möchte aber grundsätzlich konstruktiv sein.

Aber was entscheidet denn nun wirklich abschließend darüber, wer ein wirklich guter Koch ist – Handwerk, Persönlichkeit, Sendungsbewusstsein, Scheitern, Erfolge, Mut?

Ein guter Koch beherrscht sein Handwerk, ein herausragender Koch hat auch noch Persönlichkeit.

Kann man das in Ausbildung, Praxis oder einer Sendung wie dieser rauskitzeln, oder hat man das oder eben nicht?

So ganz genau weiß ich das gar nicht, Die Identität lässt sich allerdings nur erkennen, wenn sie ins Risiko gehen. Und das geht eigentlich nur in der Selbstständigkeit. Als Angestellter einer großen Küche Persönlichkeit herauszubilden, ist schwierig. Ich hab‘ meine deshalb erst herausgearbeitet, als ich dann mein eigener Chef war

In der ersten Folge von Mälzers Meisterklasse sollen die Kandidaten „kochen, was sie sind“. Welches Gericht sind Sie?

Hühnerfrikassee. Und Steckrübeneintopf. Das bin ich, das ist meine DNA. Wenn ich den koche, schweigen meine Gäste oft andächtig. Ich koche ihn mit der Leidenschaft und den Zutaten wie meine Oma, das lässt sich nicht verbessern.

Gleichzeitig fordern Sie in der Meisterklasse doch ständig, sich was zu trauen, ins Risiko zu gehen, vom Erwartbaren abzuweichen. Ist Omas Steckrübeneintopf nach zu kochen nicht das Gegenteil davon?

Nee, das ist mutig, weil weglassen mutig ist. Das hilft, eine Persönlichkeit herauszubilden und ihr auch treu zu bleiben, wenn man im Sturm steht. Über mich ist schon jeder Dreckkübel ausgekippt worden. Das mithilfe meiner Persönlichkeit wieder abzukriegen, ist vielleicht die größte Fertigkeit, die ich in 20 Jahren Fernsehkochen entwickelt habe.

Welche noch?

Immer absolut ehrlich zu sein. Wenn du mich auf dem Bildschirm siehst, dann bin das immer ich – auch wenn ich dort lauter bin als zuhause, wo ich beim Kochen ganz ruhig bin, eher als würde ich im Atelier stehen und ein Bild malen.

Was genau sind Sie denn nun: Entertainer, Koch, Unternehmer, Food Content Creator?

Also das letzte schon mal nicht. Im Wesentlichen bin ich Gastwirt. Und mit meiner großen Klappe? Geschichtenerzähler.


Musks Billionen & RTLs Nibelungen

Die Gebrauchtwoche

3. – 9. November

Eine Billion. Man muss die Zahl ausziffern, um sie greifbar zu machen: 1.000.000.000.000 – zwölf Nullen also. Tesla will Elon Musk also das aktuelle Bruttoinlandsprodukt Saudi-Arabiens in Aktien auszahlen, falls der Konzern die entsprechenden Gewinne erwirtschaftet. Bis 2035 könnte sich die Summe sogar auf 2,5 Billionen Dollar steigern, was wiederum Indiens BIP entspricht.

Währenddessen dürfte Musks Online-Enzyklopädie Grokipedia, die nicht von einer Schwarm-, sondern künstlichen Intelligenz mit Informationen gefüttert wird, mit den Milliarden ihres Erfinders bald den globalen Wissenstransfer beeinflussen. Schon jetzt sortiert der KI-Chatbot Grok seine Informationen ideologisch so vor, dass rechte Inhalte überwiegen – zumindest, sofern sie wie so oft nicht stumpf vom Vorbild Wikipedia abgepaust wurden.

Dieser algorithmische Copy-and-Paste-Kapitalismus verachtet jede Form des Urheberrechts mit einer Kaltschnäuzigkeit, die Milliardäre zu Billionären macht und Politiker zu Königen. Wer daran zweifelt, muss sich nur mal Karoline Leavitts digital bestens dokumentierte Schimpftiraden ansehen, in denen die Sprecherin des US-Präsidenten Lüge an Lüge an Lüge reiht und Journalist*innen, die das in Frage stellen, zu Feinden des Volkes erklärt. Wohlgemerkt: Auf Pressekonferenzen.

Und jetzt bekam sie auch noch neue Nahrung von belogener Seite. Weil die BBC einen Beitrag über den Kapitol-Sturm am 6. Januar 2021 mindestens missverständlich geschnitten hatte, sind Generaldirektor Tim Davie und Nachrichtenchefin Deborah Turness zurückgetreten. Der Manipulationsgrad lag zwar im Promille-Bereich gewöhnlicher Trump-Lügen. Er war aber gravierend genug, um Feuer ins Öl rechtspopulistischer Angriffe auf den Pluralismus zu gießen. Und was macht das lineare Fernsehen sonst so?

Es kriegt künftig Konkurrenz von Netflix, das durch die Übernahme von Warner Bros Discovery ins klassische Filmgeschäft einsteigen will. Ähnlich wie stationäre Amazon-Shops ist das ein rückwärtsgewandter Bruch eigener Geschäftsmodelle, die es traditionellen Playern am Markt noch schwerer als ohnehin machen. Nicht zu verwechseln übrigens mit der ersten Papier-Ausgabe des Satire-Portals Postillion, das einfach nur ein drolliger Gimmick ist.

Die Frischwoche

10. – 16. November

Gewohnt saftig ist die 2. Staffel von Maxton Hall bei Prime Video, worüber wir hier ansonsten lieber schweigen. Schon, um mehr Gewicht auf Die Nibelungen bei RTL+ zu legen. Der Sechsteiler mit Jannis Niewöhner als moralisch verkommener Siegfried überrascht nicht nur durch sein exzellentes Setdesign, sondern eine angenehm unpopulistische Entschlackung germanischer Mythen.

Ebenfalls überraschend: The other gAIrl, ein sechsteiliges Komödienstadl um Tom Beck als KI-Programmierer, der sich in einen Chatbot verliebt. Weil seine Frau von Becks echter Gattin Chryssanthi Kavazi verkörpert wird, spielen sie ihre Eheprobleme in der ZDF-Mediathek verblüffend authentisch. Geradezu brillant ist derweil die Apple-Serie Pluribus von Vince Gilligan, der Reah Seehorn darin neuen Folgen lang gegen ein Glücksvirus ankämpfen lässt, das die restliche Weltbevölkerung zu einer woken Achtsamkeitsmasse macht.

Auf andere Art absolut überzeugend ist die Arte-Serie Ana & Oscar über ein spanisches Paar, dessen Hop-on-hop-off-Beziehung zehn Jahre jeweils an Silvester betrachtet wird. Weil obendrein die ARD-Historisierungen Sturm kommt auf (ARD) und Nürnberg 45 fabelhaft vom Anfang und Ende des Nationalsozialismus erzählen, hat es die aktuelle Woche schwer mit Empfehlungen.

Ein Selbstläufer ist ab Mittwoch bei Paramount+ das Finale von Yellowstone. Immerhin bemerkenswert gerät die Psychothriller-Serie The Beast in Me mit Homeland-Star Claire Danes ab Donnerstag bei Netflix. Ob das dortige Biopic Mrs Playmen über ein reales Erotik-Magazin der Siebzigerjahre ab Mittwoch was taugt, durfte man vorab nicht selber prüfen. Der ARD-Sechsteiler Stabil dockt Freitag ein bisschen zu aufdringlich am Boom verhaltensauffälliger Jugend-Medicals à la Euphoria an. Dafür erklärt uns das Erste die Ereignisse vom 13. November 2015 gerade in der klugen Doku Terror.Fußball.Paris.