Khesrau Behroz: Ken Jebsen & Drachenlord
Posted: May 6, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentIch bin ja nur das Gesicht und die Stimme
Mit Cui Bono – WTF happened to Ken Jebsen wurde der deutsch-afghanische Journalist Khesrau Behroz (Foto: Hannes Wiedemann) zum aktuell angesagtesten Podcaster ohne Promi-Faktor im audiophilen Medienland und auch das nächste Hörstück aus der dunklen Ecke digitaler Mythenbildung zum Bestseller gemacht. Ein Interview mit dem 36-jährigen Flüchtlingskind übers Hören und Gesehenwerden.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Khesrau Behroz, hier im Kreuzberger Hinterhof-Loft Ihrer Produktionsfirma Undone steht einer der vielen Preise, die Sie für Cui Bono gekriegt haben, eher schmucklos auf der Fensterbank.
Khesrau Behroz: Das liegt aber eher an der Fensterbank als am Preis. Der ist nämlich sehr schmuckvoll! Es handelt sich um den Robert Geisendörfer Preis, den wir letztes Jahr für Noise erhalten haben.
Den Deutschen Podcastpreis für Cui Bono konnten Sie dagegen nicht persönlich entgegennehmen, weil Ihnen zugleich der Grimme Online Award in Marl verliehen wurde…
Ja, das war schon ein irrer Abend. Wir haben unser Team aufgeteilt. Ich saß mit einigen aufgeregt in Köln, hab aber parallel die ganze Zeit auf mein Handy geschaut und auf gute Nachrichten aus Berlin gehofft, wo ein anderer Teil des Teams gewesen ist. Ein richtig schöner Abend, der Höhepunkt unserer gemeinsamen Reise.
Aber auch ein anstrengender, könnte man meinen – so viel öffentliche Resonanz und Medienpreise für etwas zu bekommen, was anfangs eher unter dem Radar lief?
Ich würde das Ausgezeichnetwerden nicht als anstrengend beschreiben, aber es stimmt natürlich, dass wir damals einfach gar keine Zeit hatten, diesen Erfolg mal richtig zu reflektieren. Wir waren einfach atemlos – und haben den Rausch genossen.
Gibt es da ein inneres Ranking, welcher der vier Awards wichtiger war?
Nein, jeder davon steht ja für ein bestimmtes Umfeld mit einem bestimmten Background. Der Podcastpreis kommt zum Beispiel direkt aus dem Inneren des Mediums, der Reporter:innen-Preis ist einer für die fachliche, also vor allem journalistische Leistung. Der Grimme Online Award dagegen geht mehr in die Breite und zeigt damit nicht nur, wie populär und angesehen Cui Bono ist, sondern das Podcasten insgesamt, weswegen es schon Ehre genug war, für den Nannen-Preis nur nominiert worden zu sein. Und dann gab es ja auch noch den Preis für Popkultur.
Der eher aus den Musikbereich prämiert.
Und uns als „Schönste Geschichte“, die vorher unter anderem Rezos Zerstörung der CDU gewonnen hatte. Es war unser erster Preis, der vor allem für Unterhaltung steht. Da standen wir also neben Zoe Wees, Danger Dan und den No Angels auf dem Podium, hatten aber überhaupt nicht das Gefühl, es sei irgendwie weniger wert, weil gute Popkultur zu machen mindestens so schwierig ist, wie guter Journalismus. Und beides ist unser Anspruch.
Ist Podcasten demnach ein popkulturelles Phänomen oder einfach die natürliche Weiterentwicklung von Radio und Hörspiel?
Podcasten ist vor allem ein Riesensprung der medialen Verbreitungsmöglichkeiten, individuell und dezentral über Geräte wie Smartphones, die unser aller Leben massiv mitbestimmen, jederzeit auf kreative, kuratierte Arbeiten zugreifen zu können. Das ist nicht nur gut für den Journalismus, sondern auch die Unterhaltung und erklärt einen Teil unseres Erfolges.
Was erklärt den anderen, dass ausgerechnet Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen so durch die Decke gegangen ist?
Das liegt zum einen an der schön polierten Oberfläche, in die wir nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch und künstlerisch wahnsinnig viel investiert haben. Es reicht vom Sounddesign bis hin zur Musik. Jakob Ilja hat sie eigens für den Podcast komponiert und so gestaltet, dass sie mit dem Text korrespondiert. Jeder Satz, der geändert wurde, ging zurück an Jakob, um die Musik entsprechend anzupassen.
Und inhaltlich?
Waren wir einfach zur richtigen Zeit im richtigen Medium. Die gesellschaftliche Unsicherheit und Sensibilität war angesichts grassierender Verschwörungsideologien 2021 einfach besonders groß. Die so genannten „ganz normalen Leute“ haben Schulter an Schulter mit bekannten Rechtsradikalen zu Tausenden auf Querdenken-Demos gegen die Gesetze von Wissenschaft und Logik gehetzt. Da haben wir uns, wie viele andere Journalist:innen auch, gefragt, wo die alle herkommen und das am Beispiel von Ken Jebsen versucht, nachvollziehbar zu machen.
Was war denn zuerst da – die Querdenken-Ideologie als Massenphänomen oder eure Idee, daraus einen Podcast zu machen?
Das massenhafte Aufwallen der Querdenken-Ideologie war definitiv zuerst da. Wir suchen unsere Themen fast immer entlang bestehender gesellschaftlicher Irritationen. Diese war also bereits da und hat uns motiviert, genauer hinzusehen, welche Spielfiguren dahinterstecken. Und als uns dabei der umgeschwenkte Radiomoderator Ken Jebsen aufgefallen ist, haben wir uns da mit allem, was wir haben, draufgestürzt.
Wie viele Personen sind denn an einer sechsstündigen Produktion von dieser Qualität wie lange beschäftigt?
Viele, ich bin ja nur das mittelmäßige Gesicht und die Stimme. Die Herstellung dauerte ein Jahr. Und beteiligt waren immer so zwischen zehn und 15 Personen von Redaktion, Recherche, Musik über drei Producer:innen, die das ganze technisch zubereiten, bis hin zur optischen Ausgestaltung, also Coverdesign oder Online-Auftritt. Genauso, wie der Inhalt Ausdruck einer Collage verschiedener Faktoren ist, war es auch das Team dahinter.
Klingt teuer…
Ist es auch, wobei der Preis überhaupt nichts über die Qualität aussagt; du kannst mit sehr wenig Geld hervorragende Podcasts produzieren und mit sehr viel Geld, durchschnittliche. Aber ein gutes Team und hohes technisches Niveau sind selten billig.
Also wie teuer nun?
Ich werde hier jetzt keine genaue Summe nennen, aber wir bewegen uns auf jeden Fall im sechsstelligen Bereich.
Gehört dazu mittlerweile auch Marketing oder hat sich die zweite Folge Cui Bono über den Drachenlord dank Ken Jebsen quasi selbst vermarktet?
Wir versuchen schon unsere Netzwerke aller Kanäle zu nutzen und investieren auch etwas in Pressearbeit, die Zeit und Arbeit kostet.
Sind Studio Bummens und K2H dabei denn anfangs in Vorleistung auf einen theoretisch denkbaren Erfolg gegangen oder war das Projekt von Beginn an durchfinanziert?
Vor allem Studio Bummens ist mit dem Projekt ein gehöriges Risiko eingegangen und hat es vorfinanziert. Ich selbst war damals angestellt bei K2H, als wir mit der Arbeit an der ersten Staffel begonnen haben. Und da standen die Kooperationspartner:innen, also NDR und rbb, noch gar nicht final fest. Ihre Teilnahme hat die Fertigstellung und Veröffentlichung dann auch ermöglicht.
War damals denn mit dieser Resonanz zu rechnen?
Nein, die hat unsere wildesten Erwartungen übertrumpft! In erster Linie wollten wir einen guten Doku-Podcast machen, der sich am Niveau amerikanischer Formate wie Wind of Change und 9/12 oder Running from Cops von Dan Taberski orientiert.
Woher kannten Sie die?
Ich habe natürlich auch vor Cui Bono schon Podcasts gehört – da kommt man um diese Arbeiten nicht umhin. Das verbindet auch mich und Tobias Bauckhage von Studio Bummes, mit dem ich sehr eng zusammengearbeitet habe und ohne dessen klugen inhaltlichen wie formalen Ideen Cui Bono nicht geworden wäre, was es geworden ist. Als er aus Amerika zurückkam und wir uns getroffen hatten, haben wir gemerkt, ähnliche Interessen und Ideen zu haben, was dokumentarisch erzählte Podcasts angeht.
Woher rührt denn Ihr Interesse beim Doku-Podcast an den dunklen Ecken des Internets, in dem zwar nur wenige zu hören sind, das aber sehr laut?
Eben weil sie kaum zu überhören sind, dabei jedoch eine Irritation erzeugen, die mich dazu animiert, genauer hinzusehen, was genau da mit uns und der Gesellschaft passiert. Unser Bestreben ist es, durch die Lautstärke zum eigentlichen Kern der Sache vorzudringen. Denn popkulturelle, aber auch journalistische Betrachtungen bleiben da oft auf der phänomenologischen Ebene stecken, berichten also über Gerichtsprozesse, Demonstrationen oder Events, auf denen etwas Außergewöhnliches gesagt, passiert, entstanden ist. Nichts gegen diese Art der Betrachtung, aber wir betreiben eher Ursachenforschung. Und dafür ist Podcast ein sensationelles Medium.
Warum genau?
Unter anderem, weil wir selber entscheiden, wie viel Sendezeit eine Story benötigt, um sie ganz zu erzählen.
Ist lang erzählt generell besser als kurz?
Nein, man findet Erhebungen in beide Richtungen. Beim Hören ist kurz oder lang letztlich eine Frage von Geschmack, Zeitbudget und der Aktivität, die man nebenbei betreibt. Aber das Schöne am Podcasten ist ja: Es ist für alle etwas dabei.
Orientiert sich Cui Bono dennoch an Zielgruppen?
Wenn wir eine Idee haben, die uns begeistert, stellen wir uns die Zielgruppen-Frage gar nicht. Deshalb kann ich mich auch nicht daran erinnern, dass wir uns mal hingesetzt hätten, um darüber zu sprechen. Wir haben auch keine Personas entwickelt oder irgendwelche anderen Methoden der Formatentwicklung angewendet. Uns war früh klar: Wir haben eine interessante Recherche, eine gute Geschichte, tolle Leute, die uns dabei unterstützen – wir haben uns also voll und ganz darauf verlassen.
Und Plattformen wie Podigee oder Spotify mischen sich auch nicht ein?
Nein. Spotify hat Zielgruppen sicher genau im Blick, wenn sie neue Originals in Auftrag geben. Aber bei Cui Bono sind sie ja – wie Apple, Amazon, Google und andere – ausschließlich Plattforminhaber gewesen. Wenn wir dort laufen, erheben sie ganz gewiss eigene Metadaten, die sie ja auch teilweise mit den Publishern teilen, Absprungraten und dergleichen, aber das hat keinen unmittelbaren Einfluss auf unsere Arbeit, unsere Themenauswahl oder unsere Interessen.
Sind diese Interessen wie vorhin erwähnt allein soziokultureller oder auch persönlicher, also privater Natur?
Immer beides. Wer sich wie wir einer Geschichte schon mal zwölf Monate widmet, muss davon definitiv auch persönlich gepackt werden. Ich würde niemals so viel Lebenszeit investieren, wenn es mir nicht auch als Mensch wichtig wäre und das Gefühl gäbe, damit was bewirken zu können.
Was möchten Sie denn bewirken?
Ich möchte Sinn machen und vertraue nicht immer darauf, dass er sich einfach so von alleine ergibt. Heißt: Ich möchte Momente der Wahrheit finden, Sinnzusammenhänge herstellen. Das geht nur, wenn man sich, wie wir, die Zeit nimmt und auch mal ordentlich rauszoomt. Wie gesagt: Weg von der rein phänomenologischen Betrachtung, hin zu mehr Kontext. Nur so lassen sich komplexe gesellschaftliche Entwicklungen erzählen. Ich möchte, dass unsere Zuhörer:innen nicht unbedingt das Gefühl haben, hinterher klüger zu sein, sondern dass sich bei ihnen so etwas wie Verständnis entwickelt. Es geht um Befähigung und nicht um Erziehung.
Kosten sich berufliches und privates Interesse gegenseitig weder journalistische Objektivität noch emotionale Verbundenheit?
Niemand macht Journalismus, um Braveheart-mäßig „Objektivität!“ brüllend in die Schlacht zu ziehen. Journalismus machen, das ist für mich auch eine Frage der Haltung. Und die kann emotional sein. Oder satirisch aufgearbeitet, siehe auch ZDF Magazin Royale. Gerade beim Podcasten ist es aus meiner Sicht völlig in Ordnung und möglich, ohne an journalistischer Glaubwürdigkeit einzubüßen, Emotionen zuzulassen – solange ich mir darüber im Klaren bin, wo sie herrühren und was sie bewirken, also reflektiert und erzählt werden. Auch deshalb ist Cui Bono ja komplett gescriptet.
Wie komplett genau?
Jedes Wort, jede Regung, alle Chuckles und Seufzer, manchmal sogar das hörbare Ausatmen oder Schlucken – all diese Dinge schreibe ich in der Regel direkt in die Skripte rein, weil sie als Signale bei den Hörer:innen ankommen, die besonders bei einem sensorisch reduzierten Medium wie Podcasts wahnsinnig wichtig sind.
Sind Sie selbst ein so akustischer Typ und haben früher schon gern Radio gehört?
Ich habe nie routinemäßig Radio gehört. Ich höre im Übrigen auch gar nicht so viele Podcasts, vor allem auch nicht jetzt, wo ich mich fast täglich mit unseren eigenen auseinandersetze. Natürlich gibt es ein paar, bei denen ich sehr gerne einschalte, und ein paar Autor:innen, von denen ich sogar Fan bin.
Zum Beispiel?
Da fällt mir wieder Dan Taberski ein, ich bin echt Fan all seiner Arbeiten. Was er mich beim Zuhören gelehrt hat: Nichts geht über Empathie und Neugier. Ich muss auch meine Antagonist:innen wie Held:innen erzählen können – oder ihnen zumindest empathisch begegnen. Mir ist einfach wichtig, dass bei den Menschen was hängenbleibt, das sie berührt. Und weil wir buchstäblich im Ohr der Leute hängen, ist Podcast als äußerst intimes Medium dafür so gut geeignet. Ein Medium, bei dem es ums Zuhören geht.
Und damit eigentlich ein extrem anachronistisches in unserer maximal visuellen Zeit optischer Optimierungszwänge über soziale Medien!
Und genau deswegen empfinde ich Podcasts inzwischen als so etwas wie einen Befreiungsschlag gegen den Zwang zur visuellen Dauerberieselung. Oder etwas weniger drastisch: als gute Alternative. Wenn man sich Plattformen wie Netflix oder auch Youtube ansieht, ist man dabei schließlich sensorisch komplett gebunden, also auch örtlich gefesselt und von vielen anderen Sinnen abgekoppelt. Podcasts kann man nebenbei hören und dennoch auf beide Tätigkeiten fokussiert bleiben, es ist im besten Sinne des Wortes ein Begleitmedium.
„Nebenbei begleiten“ klingt allerdings auch ein bisschen nach „beiläufig berieseln“. Wie hält ein guter Podcast sein Publikum anspruchsvolle bei der Stange, ohne es einzulullen oder einzuvernehmen?
Da muss man als Geschichtenerzähler das Rad nicht neu erfinden. Inhalt, Dramaturgie, Fallhöhe, Cliffhanger, Pausen, Tempo, Twists, Teaser, Wendungen – all das war auch vorm Podcast schon wichtig für fesselnde Spannungsbögen.
Wie wichtig ist eine gute Stimme? Wo wir uns jetzt hier gegenübersitzen, reden Sie zwar pointiert und fehlerfrei, allerdings auch wahnsinnig schnell…
Danke?
In Cui Bono dagegen ist Ihr Erzähltempo eher gemächlich. Legen Sie vorm Mikro einfach einen Schalter um?
Den gibt es, im Tonstudio spreche ich natürlich anders als außerhalb. Was aber ganz sicher nicht nur mir so geht, sondern den meisten Hosts und Sprecher:innen. Außerdem habe ich zum Glück eine gute Regie, die mir im Zweifel hilft.
Und eingreift, wenn die Geschwindigkeit anzieht?
Genau. Aber nicht nur dann. Manchmal sagt mir Tobi bei den Cui Bono-Aufzeichnungen auch, wenn ich zu gesetzt klinge, zu unernst oder schlicht nicht passend zum Text.
Wie viele Takes gönnt sich eine Independent-Produktion dafür im Zweifel pro Szene, bevor man die zweitbeste nimmt?
In der ersten Staffel Cui Bono, wo ich meinen Rhythmus noch finden musste, auf jeden Fall mehr als in der zweiten. Wenn es tricky wird, können es aber auch heute noch locker 20 sein und trotzdem nimmt man am Ende den vierten Take. Aber so oder so: Manchmal braucht man nur einen für komplizierte Passagen, manchmal fünf für vermeintlich leichte. Podcasten ist unberechenbar.
Haben Sie mal Sprechtraining gemacht?
Nein.
Und würden Sie es anderen empfehlen?
Das ist eine persönliche Entscheidung, die auch davon abhängt, was man machen möchte. Es ist auch irgendwo eine philosophische Überlegung vielleicht. Ich würde ja sagen: Ich spreche überhaupt nicht, ich bin kein Sprecher, sondern Host. Mit der Haltung wiederum spreche ich ganz anders…
Ist dieses konzentrierte Sprechen mit der richtigen Betonung an der richtigen Stelle demnach Begabung, learning by doing, beides?
Es ist vor allem learning by hearing. Und dann, ja, by doing. Und anders als beim Verlesen der Nachrichten muss man Podcast-Texte eher noch ein wenig spüren. Da hilft es sehr, sie selbst verfasst zu haben.
Muss ein guter Storytelling-Podcast über dieses Gefühl hinaus noch weitere, vielleicht sogar goldene Regeln beachten?
Es gibt für uns ein paar goldene Grundsätze, ja. Musik sollte zum Beispiel niemals als Hintergrundgedudel wahrgenommen werden. Sie ist ein eigener, wertiger Teil der Dramaturgie, um die Geschichte zu erzählen und Stimmungen nicht bloß zu verstärken, sondern zu moderieren. Bei Cui Bono hatten wir anfangs ein Orchester, dessen Sound sich immer weiter aufgebaut hat, bevor er im Finale förmlich in sich zusammenbricht und damit Ken Jebsens Werdegang kommentiert. Wenn Musik nur reingegoogelt wird, lieber weglassen.
Weitere Grundsätze?
Das Sprechtempo hatten wir ja schon. Wenn du so schnell redest, wie ich gerade mit Ihnen, so schnell, dass dich die eigenen Worte überholen, wird es zu unruhig. Also: Sorry, das wird in der Transkription bestimmt anstrengend… Außerdem ist es gerade bei umfangreicheren, faktenbasierten, stark gebündelten Podcasts wie unserem wichtig, Wegweiser und -marken zu setzen, also das Publikum zwischendurch mal auf einen gemeinsamen Kenntnisstand zu setzen, sonst verliert es sich in der schieren Informationsfülle. Man darf sich nie ganz auf das Kreativ-Künstlerische verlassen, sondern immer auch aufs Technisch-Erklärende.
Zum Beispiel?
Ach, wenn du einen Zeitsprung ins Jahr 1996 machst und dort eine Weile weitererzählst, ist es extrem hilfreich, irgendwann noch mal die Jahreszahl auszusprechen. Da braucht das Skript präzisere Handreichungen als nur einen Ton, der ein Szenenwechsel ankündigt.
Könnten Sie angesichts dieser Genauigkeit Ihrer Skripte bis ins kleinste Detail eigentlich auch einen Gesprächspodcast machen oder brauchen Sie als Host präzise vorgefertigten Text?
Naja, der präzise vorgefertigte Text ist ja mein eigener; im Schreibprozess lese ich ihn sicherlich hundertmal laut vor. Das fertigstellte Skript, mit dem ich ins Studio gehe, ist gewissermaßen die Transkription des Vorgelesenen. Aber klar könnte ich mir vorstellen, mal einen Gesprächspodcast zu machen und denke auch darüber nach. Ich habe großen Respekt vor allen, die diese ungeskripteten Formate machen – denn so einfach wie das klingt, ist es nicht.
Sind Sie, was Podcasten betrifft, ein Perfektionist, der aufs größtmögliche Publikum zielt?
Durchaus. Ich hatte vorhin zwar erwähnt, dass mögliche Zielgruppen eher am Ende der Erwägung stehen, aber Reichweite ist uns schon wichtig.
Kleben Sie demnach manchmal an den Metadaten und zählen Zugriffe?
Klar. Vor allem kurz nach Veröffentlichung eines neuen Podcasts. Da ist die Aufregung schon groß. Ich möchte ja nichts nur für mich selber machen, vor allem nicht bei diesen großen Produktionen, in die wir viel Zeit reinstecken. Ein ganzes Team, das viele Monate an etwas arbeitet, hat mehr als ein paar Hundert Zuhörer:innen verdient.
Spätestens an dem Punkt stellt sich die Frage: Cui Bono – wem zum Vorteil ist dieser Podcast, wer verdient daran und wie viel?
Zunächst einmal impliziert Cui Bono ein dunkles Motiv, vielleicht sogar eine Verschwörung. Die Wahrheit ist: Wir sind Journalist:innen, Produzent:innen und Musiker:innen, die mit ihrer Arbeit natürlich Geld verdienen wollen, um Mieten zu bezahlen, Rechnungen zu begleichen und überteuerte vegane Restaurants auszuprobieren. Irgendwie ist das ein wenig so, als würde man einen Bäcker fragen, warum er Brötchen backt. Ich finde die Antwort darauf evident… Aber um die Frage nach dem „wie viel?“ zu beantworten: Wer das große Geld verdienen will, ist mit aufwendigen Doku-Podcasts, an denen man ein Jahr lang arbeitet und die man dann innerhalb von fünf Wochen ausspielt, sicherlich nicht so gut bedient.
Verglichen mit Gesprächspodcasts also?
Das ist definitiv der lukrativere Weg – sofern man es schafft, ein Publikum zu finden. Allein die Regelmäßigkeit im Wochen- oder Monatsrhythmus, womöglich mit messbar wachsendem Zugriffszahlen, hilft bei der Suche nach Werbepartner:innen enorm – besonders dann, wenn prominente Persönlichkeiten am Mikro sitzen und Werbung ziehen. Damit verdienen mittlerweile nicht wenige ganz gutes Geld. Wir werden als Undone da dieses Jahr noch was Anderes ausprobieren, aber ein Format wie Cui Bono funktioniert vorerst besser durch Kooperationen, etwa mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder privaten Partner:innen wie RTL+Musik.
Storytelling braucht Sponsoring, ein Gesprächspodcast richtige Werbung?
So ungefähr. Der deutsche Podcastmarkt lebt aktuell von so genanntem Empfehlungsmarketing. Deine liebsten Podcaster:innen empfehlen dir also diese eine Matratze, die auch ihnen dabei hilft, wun-der-bar zu schlafen!
An welchem Punkt der Planung sind bei Cui Bono denn NDR und rbb mit ihren gut gefüllten Gebührentöpfen hinzugekommen?
Es gab erst die Idee, dann die Annäherung und bald die Zusage.
Weil man dich in Hamburg und Berlin vorher schon kannte oder vom Konzept überzeugt war?
Als Angestellter der Produktionsfirma K2H…
Die damals schon Informationsinhalte für beide Sender geliefert hatte.
… der weder Host noch Autor war, kannten die seinerzeit allenfalls meinen Namen. Der Lead in den Verhandlungen war Tobias Bauckhage von Studio Bummens. Ich bin zwar immer noch Teil eines Teams, aber mittlerweile wissen die schon, wer ich bin. Zumindest hoffe ich das!
Warum haben Sie nach dem Erfolg von WTF happened to Ken Jebsen dennoch Ihre eigene Firma Undone gegründet und gemeinsam mit Studio Bummens und RTL+Musik Staffel 2 produziert?
Zum einen, weil im Jahr nach der ersten Staffel so wahnsinnig viel passiert ist, dass eine Änderung nötig war. Zum anderen, weil ich mich schon lange mit eigener Firma und meinem besten Freund Patrick Stegemann selbstständig machen wollte. Der Wunsch war immer da, und der Erfolg von Cui Bono hat ihm krassen Rückenwind gegeben. So entstand Undone.
Mit wie vielen Mitarbeiter:innen?
Mittlerweile acht festangestellten und eine Reihe freier, die wir projektbezogen für die Recherchen dazu holen.
Hat sich das Arbeiten dadurch verändert?
Schon, die Partner haben sich ja geändert. Statt NDR und rbb war in der 2. Staffel RTL+Musik dabei, aber weiterhin Studio Bummens und eben wir als Undone. Aber den anderen Podcast des Vorjahrs…
Legion übers Hacker-Kollektiv Anonymous.
… haben wir wieder mit NDR und rbb gemacht. Das wechselt anlass-, themen- und konzeptbezogen. Wir arbeiten da wirklich gerne offen mit allen zusammen, solange das zu den Projekten passt.
Machen Sie sich Ihre Popularität gepaart mit eigener Firma und wachsender Netzwerkdichte künftig nutzbar, um Ihr Portfolio breiter aufzustellen oder bleiben Sie in der lauten Nische des Internets, den Drachenlords und Verschwörungsideologen?
Weder noch, denn unser Themenkern kreist immer noch um die Frage: Haben wir eine kleine Geschichte, um die große dahinter zu erzählen? Wer mich ein bisschen besser kennt, kann den Vergleich vermutlich nicht mehr hören, aber Leute wie Ken Jebsen oder Rainer Winkler sind für mich Trojanische Pferde, die ich in all ihrer Pracht vor die Türen unserer Zuschauer:innen stelle, um mit deren Hilfe hineingebeten zu werden. Wer dann einmal drin ist, kann langweiliges Zeug wie Gesellschaftsanalyse und Ursachenforschung machen. (lacht)
Haben Sie das Trojanische Pferd Ken Jebsen dafür persönlich getroffen?
Nein, es gab mehrere Kontaktversuche, bei denen ich ihn mit unseren Rechercheergebnissen konfrontiert habe, aber es gab nie eine Antwort. Auch so hat das Pferd „Aufstieg und Fall eines bekannten Radiomoderators“ jedoch bestens funktioniert, um die Mauer der Verschwörungsideologie zu überwinden. Oder am Beispiel des „Drachenlords“ Rainer Winkler: durch dessen Schicksal sind wir in die dunkelsten Bereiche des Cyber Mobbings vorgedrungen. So lernt man am Beispiel beider auch viel über die letzten zehn, zwanzig Jahre bundesdeutscher Geschichte – etwa, was Reality TV aus der Gesellschaft gemacht hat, in der wir leben.
Geht es Ihnen abseits von Unterhaltung und Journalismus darum – Bildung, Lernen, letztlich also Pädagogik?
Nein. Wie vorhin kurz angedeutet: Es geht um Befähigung. Das ist für mich die Aufgabe von gutem Journalismus, vor allem in einer Demokratie: Menschen neue Sinnzusammenhänge aufzeigen, sie nicht verteufeln und nicht auf sie hinabschauen. Die Wahrheit ist: Auch wir lernen ja erst im Laufe unserer Recherche all die Dinge, die wir dann sehr selbstbewusst in Podcasts und Interviews von uns geben.
Reflektieren Sie am Beispiel Ihrer Recherche eigentlich hauch das eigene Mediennutzungsverhalten?
Na klar. Deshalb haben wir uns gerade im Zuge der zweiten Staffel Cui Bono mehr denn je selbst hinterfragt. Wir nehmen uns bei der Kritik an den Verhältnissen nicht raus.
Man steht schließlich nicht im Stau, man ist der Stau!
Ganz genau. Ich bin auch auf sozialen Medien und Messengern aktiv, habe auch Big Brother geschaut, bleibe bis heute manchmal bei Reality TV hängen und binge fix mal zehn Stunden Netflix, wenn mir nichts Besseres einfällt. Aber das ist mir und uns auch wichtig für unsere Art des Podcastings: Es gibt kein „wir“ und kein „ihr“, es gibt ein kollektives „uns“, das alle und alles betrifft. Der Podcast geht auch mich selber an.
Hat Ihre Impulskontrolle auf Social Media auch schon versagt, haben Sie mal jemanden gehatet, gar gemobbt?
Jetzt hören Sie einen Satz, den ein weniger seriöses Blatt in die Überschrift nehmen würde: Ich war nie ein Mobber. Aber klar habe ich auch mal übertrieben, hab schneller getippt als gedacht. Das gilt nicht nur für die öffentliche, sondern auch die private Kommunikation.
Wie ist es mit Ihnen als Adressat – kriegen Sie, auch als Mensch mit dem berühmten Migrationshintergrund, viel Hass ab im Netz?
Ja, ja. Da kommt einiges an.
Wie gehen Sie damit um?
Der beste Weg für mich ist, gar nicht zu reagieren. Social Media funktioniert als Abfolge von Reaktionsmustern, auf die man sich einlässt oder eben nicht. Ich neige zu letzterem. Das regt die höllisch auf.
Wo befindet sich da denn Ihre Reaktionsschwelle?
Ach, es wird meistens relativ schnell klar, ob jemand diskutieren oder pesten will. Und wenn es die Aussage nicht offenbart, tut es spätestens ein Click aufs Profil der Person und ihre Postings. Meine persönlichen Filter funktionieren da mittlerweile bestens. Hater sieht man sofort.
Wie stark wird beim Hass Ihre Herkunft thematisiert, die sich in Namen und Gesicht sichtbar widerspiegelt?
Stark.
Sie sind im Alter von sieben Jahren aus Afghanistan nach Deutschland gekommen. Hat diese Biografie etwas mit Ihrer thematischen Gewichtung bei Cui Bono zu tun?
Diese Biografie spielt natürlich immer eine Rolle – beruflich ebenso wie privat. Es nützt überhaupt nichts, das wegzuleugnen… Aber die Links in mein aktuelles journalistisches Themenfeld ist mindestens zu gleichen Teilen Zufall und generellem Interesse wie meiner Herkunft geschuldet. Selbst die erste Staffel Cui Bono, wo meine Mutter und meine Kindheit in Kassel zur Sprache kommen, folgt da eher dramaturgischem Interesse. Ich versuche eben grundsätzlich kein afghanischer Journalist zu sein, der ständig über sein Geburtsland berichtet.
Klingt, als käme da noch ein Aber?
Aber irgendwann möchte ich mich dennoch auch in einer größeren Arbeit beruflich damit auseinandersetzen. Es hat sich bislang nur noch nicht angeboten.
Aber doch womöglich von anderen aufgedrängt; wurden Sie, etwa nach dem Fall Kabuls, als Afghanistan-Experte angefragt?
Na klar, da kamen ständig Interviewanfragen – Fernsehen, Online, Radio, überall. Und das ist ja auch besser, als überhaupt nicht nach unserer Situation, unserer Stimmung, unserer Expertise befragt zu werden. Ich würde nur gerne was über Afghanistan erzählen, wenn dort gerade mal nichts explodiert.
Auch in Form eines Podcasts?
Warum nicht. Bislang hat mich allerdings noch niemand gefragt. Beziehungsweise, wenn ich denn mal was angeboten habe, hieß es, Afghanistan sei gerade kein Thema. Tja.
Waren Sie denn wenigstens schon in Frank Joungs fabelhaftem Gesprächspodcast Halbe Katoffl zu Gast, bei dem er mit Menschen fernerer Wurzeln redet, ohne dauernd deren Herkunft zu thematisieren?
Kenne ich, war ich aber noch nicht.
Und was folgt als Host und Sprecher als nächstes?
Also noch genießen wir den Launch von Cui Bono 2 in vollen Zügen. Von Cui Bono 3 gibt’s noch nichts zu berichten. Dafür geht Noise in die 2. Runde und Ende des Jahres kommen zwei große Investigativ-Geschichten raus, über die wir natürlich nichts sagen können. Außerdem läuft bald unser erstes wöchentliches Format….
Also doch.
Also doch!
Aber weiterhin strikt akustisch oder könnten Sie sich auch vorstellen, vor Kameras sichtbar zu werden?
Auch darüber wird nachgedacht. Wir denken ja generell über vieles nach.
Friedrichs Informant & White House Plumbers
Posted: May 1, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
24. – 30. April
Am Freitag war es wieder so weit. Da haben ARD und ZDF ihren Finanzbedarf bei der KEF angemeldet, der vermutlich ein paar Cent über den aktuellen 18,37 Euro liegt, von denen die 16 Mitglieder ein paar weniger bewilligen, worauf Volkszornseismographen wie Markus Söder und Rainer Haseloff abermals zur Endschlacht um AfD-Fans blasen, was das Bundesverfassungsgericht nach etwas Aufruhr Boulevardblätterwald kassieren wird, und in zwei Jahren wiederholt sich das unwürdige Schauspiel aufs Neue.
Und Neue… Und Neue… Und Neue…
Wäre das nicht die Realität, würde Sat1 darüber womöglich eine Daily-Soap machen und vor oder nach der frisch verkündeten namens Die Landärztin senden, was definitiv einer Revolution des Fernsehvorabends gleicht. Zur Konterrevolution hat unterdessen Jan Fleischhauer im FDP-Fanzine Focus geblasen, wo der rechtsgedrehte Ex-Journalist seinen geistig-ideologischen Bewegungsbuddy Mathias Döpfner als Gesocks- und Demokratie-Verächter in Schutz nimmt und damit voll auf Linie von dessen Verlegerkollegen Holger Friedrich ist.
Der wiederum hat nämlich Julian Reichelt beim Springer-Chef dafür verpfiffen, dass dessen früherer Bild-Chef vertrauliche Informationen über Döpfners Gebaren an Friedrichs Sextoy Berliner Zeitung durchgestochen hatte, und zeigt mit diesem Bruch des Informanten-Schutzes eindrücklich, was ein IM wie er einst bei der Stasi über Pluralismus und Pressefreiheit lernen konnte. Dass Springer gegen Reichelt Strafanzeige erstattet hat, dürfte da nur die Nebenrolle spielen.
Es sagt aber viel aus über einen Sumpf, in dem auch Horrorfrösche wie Tucker Carlson quaken. Der – nicht mehr nur rechtsradikale, sondern amtlich faschistoide – Dampfplauderer ist ohne Angabe von Gründen bei Rupert Murdochs Sturmgeschütz Fox News rausgeflogen und könnte aus Rache womöglich gegen Donald Trump antreten. Ob dessen heimlicher Fan Til Schweiger hierzulande gegen Robert Habeck antritt, bleibt vorerst offen, aber falls der durchschlagskräftige Produzent eine Partei gründet, könnte sie AdF heißen: Auf die Fresse.
Die Frischwoche
1. – 7. Mai
Wie man jenseits von Politik Politik betreibt, könnte der alkoholaffine Set-Berserker dann ja ab Dienstag in der famosen Realsatire The White House Plumbers lernen. Leider nur fünfmal 50 Minuten erzählt uns Sky im Stile technicolorbunter Heist-Movies, wie Richard Nixons CIA-Truppe um G. Gordon Liddy (Justin Theroux) und E. Howard Hunt (Woody Harrelson) in der Watergate-Affäre versagt haben. Ein brüllend komisches Manifest des staatstragenden Dilettantismus.
Lustig soll auch Queen Charlotte sein, wenn das kombinierte Pre- und Sequel der Netflix-Serie Bridgerton ab Freitag eine Randfigur der spätbarocken Kostüm-Party ins Zentrum stellt. Für Fans von seriösem Kitsch ein absolutes Muss, für solche origineller Emanzipationsfiktionen irgendwie auch, aber wer es noch immer eher bescheuert als woke findet, dass der britische Hochadel vor 200 Jahren voller PoC ist, sollte abermals das Weite suchen.
Gleiches gilt für jene, denen Der Pass schon in den ersten zwei Staffeln zu dark, pathetisch, selbstreferenziell war. Andere aber dürften die neuerliche Grenzerfahrung von Julia Jentsch und Nikolas Ofczarek tags zuvor bei Sky gewohnt virtuos und fesselnd finden – auch und gerade, weil die Ritualkillerthematik mal wieder unerträglich schön ausformuliert wurde. Ähnlich bedrückend, ähnlich berückend ist die nächste Postapokalypse bei Apple TV+.
Freitag finden sich darin 10.000 Endzeit-Überlebende in einem Silo genannten Bunker mit rigider Geburten- und überhaupt totaler Kontrolle, die sich allerdings gar nicht so totalitär anfühlt, weil alle hier Schicksalsbegünstigte zu sein scheinen – bis die kernige Mechanikerin Juliette (Rebecca Ferguson) hinters Geheimnis der unterirdischen Insel kommt und dagegen rebelliert. Zehn Teile hat Showrunner Graham Yost Hugh Howies Roman-Trilogie ein opulentes SciFi-Märchen gemacht, das optisch überwältigt und inhaltlich unterwandert.
Der Wochenrest in Stichworten: Paramount+ macht den gleichnamigen Eighties-Thriller Fatal Attraction ab heute zur Serie. Parallel startet im ZDF die Dokureihe Am Puls mit Presenter:innen wie Jana Pareigis. Morgen wird Anne Franks Helferin bei Disney+ (Ein Funken Hoffnung) zur Serienheldin, während die ARD-Mediathek in Skate-Evolution drei Teile lang Deutschlands Rollbrettkultur Revue passieren lässt und die Arte-Doku Wanted einen Waffenhändler porträtiert.
Phil Laude: Y-Titty & Almania
Posted: April 29, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentKing of Cringe
Im Youtube-Trio Y-Titty hat sich Phil Laude (Foto: SWR) über verhaltensauffällige Männer unter 30 lustig gemacht. Mit über 30 nimmt er seine Altersgruppe erneut auf die Hörner – wie den Spießerpädagogen Frank Stimpel in der ARD-Mockumentary Almania.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Phil Laude, was ist – in Ihrer Definition – eigentlich genau ein „Alman“ wie in Ihrer Serie Almania?
Phil Laude: Auf der Basis eher lustiger Beobachtung ist ein Alman prototypisch deutsch, ohne abhängig von der zugehörigen Nationalität oder Herkunft zu sein.
Also eher ein Habitus oder ein Mindset?
Ein Lifestyle aus beidem, den absolut jeder annehmen kann, sofern er lang genug hier lebt. Da ich viele Almans verschiedener Nationalitäten kenne, empfinde ich den Begriff also gar nicht als Schimpfwort.
Aber schon als despektierlich?
Auch nicht. Wer andere Alman nennt, siezt sie meistens. Das wirkt dann eher respektvoll. Es kommt halt drauf an, was man draus macht.
Was macht ihre Serienfigur, der Brennpunktschullehrer Frank Stimpel, denn aus dem Alman in sich?
Garantiert den King of Cringe, der zwar wahnsinnig peinlich sein kann, dabei aber als Lehrer und Pädagoge gute Arbeit leistet. Vielleicht mag ich Frank Stimpel umso mehr, je länger ich ihn spiele.
Weil er den Alman in Ihnen widerspiegelt?
So wie ein Stück davon er tief in allen steckt, die hier groß werden. Ich bin vorsichtig und beständig, investiere konservativ, habe eine Hausratsversicherung, in der Sauna ein Handtuch auf dem Holz – der Alman, über den ich mich lustig mache, hat den Alman, der viel länger in mir steckt, also nur nach außen gekehrt. Küchenpsychologisch gedeutet, könnte das erklären, warum ich ihn so gern spiele. Mein Vater war übrigens ziemlicher Alman, aber meine Mutter ist Künstlerin.
Klingt, als kämpfen zwei Seelen in Ihrer Brust.
Ja, aber meinen Alman hole ich dennoch eher aus Beobachtungen und lege dann komödiantische Facetten drüber wie Stimpels ständige Dad-Jokes. Dabei ist mir wichtig, mich nicht über ihn lustig, die Figur also lächerlich zu machen. Deshalb stehen andere Figuren der Serie auch gar nicht so in seinem Schatten, sondern entwickeln eigene Perspektiven. Alle teilen hier aus, alle stecken aber auch ein.
Ist das von Fall zu Fall unterschiedlich oder Ihr komödiantisches Prinzip?
Draufknüppeln finde ich generell nicht so cool. Selbst auf meinen Verschwörungstheoretiker oder den BWL-Schnösel, die ich auf Youtube spiele, blicke ich aus mehreren Blickwinkeln. Auch die sind ein Teil von mir, wenn ich sie ergründe, ergründe ich also auch mich selber.
In welcher Almania-Figur ergründen sie den Schüler Phil?
Am ehesten relate ich wohl mit Annika.
Die unbeliebte Außenseiterin der Klasse?
Das war ich auch und hatte wohl auch deshalb schon immer ein Herz für uncoole Außenseiter. So ab der sechsten Klasse war ich ja selbst ein Mobbing-Opfer. Schreckliche Erfahrung, wirklich schlimm, wünsche ich niemandem.
War Ihr Sketch-Portal Y-Titty so gesehen die späte Rache des Mobbing-Opfers an den Täter:innen?
Der erste Ansatz, die 8. Klasse freiwillig zu wiederholen, nicht mehr der Kleinste zu sein, ans Schultheater zu gehen, hatte schon vorher funktioniert. Daraus ist am Ende dann auch Y-Titty entstanden. Dieser Impuls, es den anderen mal zu zeigen, steht ja am Anfang vieler Comedy- und Kunstkarrieren.
Empfehlen Sie das auch anderen Mobbing-Opfern?
Ich finde das Thema zu komplex, um anderen Empfehlungen auszusprechen. Bis auf die, offen und ehrlich darüber zu sprechen. Je mehr das auch auf Social Media machen, desto transparenter werden die Konsequenzen des Mobbings – auch für die, die es selber tun.
Was war an „Y-Titty“ denn heilsamer: der Inhalt oder dessen Erfolg?
Letzteres, glaube ich. Inhaltlich haben wir uns eher unterschwellig an unserer Vergangenheit abgearbeitet. Davon thematisiert Almania definitiv mehr als Y-Titty. Witzigerweise waren wir drei Jungs, die zwar ihr Ding durchgezogen haben, im Rückblick aber wahnsinnig uncool waren – nur, dass es eben auf selbstbewusste Art uncool war. Gerade weil wir uns so wenig Gedanken um unser Auftreten gemacht haben, waren wir aber vielleicht Vorbilder für andere. Zur Uncoolness zu stehen, kann ganz schön cool sein.
Ist Ihnen diese Uncoolness acht Jahre später dennoch manchmal peinlich?
Ich war auf einer Party und als dann plötzlich das Video unseres Songs Ständertime lief, fanden wir’s eher lustig als peinlich. Man kriegt da heute vielleicht einen leicht roten Kopf, ist am Ende aber schon auch ein bisschen stolz drauf.
Kann man die Anarchie des Youtuben mit der redaktionell betreuten Arbeit am ARD-Format Almania vergleichen, was steckt von ersterem im letzteren?
Einiges, wir durften relativ frei sein, haben auch am Set viel improvisiert und ohnehin meine Vorstellung von Humor umgesetzt.
Welche genau?
Möglichst viele verschiedene Menschen damit abzuholen. Klingt langweilig und irgendwie ja auch öffentlich-rechtlich. Aber mir gefällt es sehr, dass Almania nicht nur für Jüngere ist, sondern auch Ältere.
Demokratische Comedy gewissermaßen?
Und damit verbindende Comedy, irgendwie wertvoller als ausgrenzende.
Steckt mehr Internet-Anarchie von gestern im Fernsehen von heute oder umgekehrt?
(überlegt lange) Ich glaube, das hält sich die Waage. Fifty-fifty.
Weil Ihnen grad nichts Besseres einfällt?
(lacht) Ich versuche halt einfach mein Mindset offen zu halten und weder nostalgisch zu werden noch besserwisserisch. Aber natürlich färbt das Internet stärker aufs ältere Medium Fernsehen ab als umgekehrt. Mein Anspruch ist da, das beste beider Welten zu verbinden und mit Leidenschaft gute Geschichten zu erzählen. Der Ausspielweg ist dabei eher nebensächlich.
Auf welchem sehen Sie sich in fünf Jahren – nach Digitalmaßstäben also einer Ewigkeit?
Je älter ich werde, desto stärker liegt mein Fokus auf langen Geschichten. Von daher sehe ich mich im Fernsehen, will aber auch keine Fünfjahrespläne aufstellen. Ich lasse mich treiben.
Funkes Schumi & Krens Kobold
Posted: April 24, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen, Uncategorized | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
17. – 23. April
Was am Boulevard so absolut irre ist, sind gar nicht so sehr die Lügen, Rufmorde oder Kampagnen. Wirklich verrückt, also im Sinne von wahnsinnig, ist ihr Versuch, all dies sporadisch mit Seriosität zu verkleistern. Das absurdeste Manöver vollzog nur Tage nach Mathias Döpfners öliger Schubumkehr in Sachen Ossi-Hass und FDP-Liebe die Funke Mediengruppe. Am Samstag feuerte der Essener Konzern Anne Hoffmann, weil sie als Chefredakteurin der aktuelle ein KI-Interview mit Michael Schumacher aufs Titelblatt gehoben hatte.
Schon drollig: da verkaufen die Lügenbarone von Bauer– bis Jahreszeiten-Verlag ihrer leichtgläubigen Kundschaft wochein, wochaus ausnahmslos lieblos halluzinierten Unfug über Promis wie den verunglückten Rennfahrer. Und wenn sie den Betrug endlich mal kenntlich machen, fliegt die Verantwortliche raus? Das wäre fast, als hätte die Bild ihr neues Führungsduo Robert Schneider und Marion Horn für erste Schlagzeilen wie diese entlassen:
„Bundesgartenschau: Auftrittsverbot für Rentner mit Mexikaner-Hut“
„Naddel: Wieder Sozialhilfe“
Wie immer ist an keiner davon auch nur das geringste Fünkchen Wahrheit, aber es knallt halt, wie es bei der Bild zu knallen hat. Dass Mathias Döpfners geistig-ideologischer Zwilling Rupert Murdoch für Fake-News über den Wahlmaschinen-Hersteller Dominion 779 Millionen Dollar Schadenersatz zahlen muss, fand hingegen – so unter Krähen – leider keinem Platz im Blatt. Auch das Desaster um kostenpflichtige Twitter-Haken von Döpfners Guru Elon Musk blieb offenbar unerwähnt.
Dafür gab es das übliche Bashing öffentlich-rechtlicher Medien auf der Titelseite, die ARD wolle „328 Millionen mehr Zwangsgebühr für Digital-Projekte“, womit die Redaktion aber mal alles durcheinanderbringt, was daran richtig sein könnte, aber egal: Boulevardjournalismus ist kein Bällebad, weshalb wir auf der Suche nach dem bildaffinsten Fernsehformat dieser Woche unwillkürlich bei Amazon Prime landen.
Die Frischwoche
24. – 30. April
Dort startet am Freitag eine Actionserie namens Citadel. Und an der ist wirklich alles testosterongesteuerter Bullshit, also passgenau für Döpfners springerhochhausgroße Prostata. Im sechsteiligen Spionage-Thriller erwachen zwei Unterwäschemodels nach acht Jahren aus einer Amnesie, retten gemeinsam die Welt, werden dutzendfach rückstandslos vermöbelt, sehen aber stets spitze aus und erreichen fiktional somit das intellektuelle Niveau Oliver Pochers, also immer noch doppelte Höhe vom Boulevard-Publikum.
Citadel ist also ungefähr so realistisch wie die Fantasy-Serie Sweet Tooth um fabelhafte Mischwesen einer postapokalyptischen Zukunft, bekennt sich anders als in der zweiten Staffel bei Netflix allerdings nicht dazu, surreal zu sein. Hyperreal ist hingegen die Miniserie Sam – Ein Sachse. In der deutsch-deutschen Mini-Serie erzählt Disney+ ab Mittwoch die spektakuläre Story von Samuel Njankouo Meffire nach, einst der erster Polizist dunkler Hautfarbe in Ostdeutschland und damit eine Art Kronzeuge von Döpfners wilder Rassisten- oder Kommunisten-These.
Parallel dazu startet die ARD-Mediathek das nächste kleine Meisterwerk von Marvin Kren, der anders als in 4 Blocks oder Freud auch mal humoristisch auf die Kacke hauen darf. Handlung? Ebenso schwer zu erklären wie ihr Titel Der weiße Kobold, aber irgendwas mit Drogen, Österreich, Ganoven und einem Frederick Lau in Bestform, also ähnlich sehenswert wie Poker Face, wenngleich auf ganz andere Art.
In der mystischen Sky-Serie kann die hinreißende Natasha Lyonne – Fans von Orange is the New Black als drogensüchtige Nicky Nichols bestens bekannt – unterbewusst Lügen erspüren, was sie einerseits fünf Folgen lang zur Hobbydetektivin eines ziemlich liebenswerten Crime-Formats macht. Anderseits wären derart telepathische Fähigkeiten ja vielleicht auch für den Springer-Konzern verwertbar, just so…
Robocop Kraus, Pearl & The Oysters, Silver Moth
Posted: April 22, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | Leave a commentThe Robocop Kraus
Die Jahrtausendwende brachte 1999 zwar nicht das befürchtete Weltchaos, aber einen Wandel unerwarteter Art: Deutsche Musik wurde plötzlich alternative und damit cool. BeigeGT zum Beispiel brachten Funk in den Punk, Von Spar wiederum Punk in den Pop und Whirlpool Productions Pop in den House und alle fanden beim Hamburger Label L’Age D’Or ihre Formvollendung in einer Band aus der fränkischen Provinz, die schon dem Namen nach Hamburger Schule mit Weltgeltung verbindet: The Robocop Kraus.
Genau 20 Jahre nach ihrem Durchbruch und immerhin 16 seit der bislang letzten Platte kehren Sänger Thomas Lang und Gitarrist Matthias Wendl nun zurück, und was soll man sagen – auch in neuer Besetzung liefern sie ein Album, von dem sich Jüngere gern ein paar Sinfonien wie Young Man abschneiden dürften. Abermals Überwältigungspop à la Franz Ferdinand, klingt der orchestrale Sound nach folkloristischer Frischzellenkur für New Wave und Postpunk, im Uptempo durch die Vergangenheit der Zukunft entgegen. Toll.
The Robocop Kraus – Smile (Tapete Records)
Pearl & The Oysters
Die Vergangenheit in der Gegenwart des französischen Duos Pearl & The Oysters zu erkennen, ist dagegen sogar noch ein wenig einfacher, ohne auf der Hand zu liegen. Juliette Pearl Davis und Joachim Polack, privat wie musikalisch seit Studienzeiten in Paris ein Paar, machen jazzigen Space-Pop voller Avancen an die technicolorbunten Sixties, klingen dabei allerdings meist wie beim heutigen Clubbing in ihrer Wahlheimat L.A., wo ihnen eine Extraladung Electroclash ins Werk geflattert ist.
Unterstützt von Lætitia Sadier (Stereolab), Riley Geare (Unknown Mortal Orchestra) oder Alan Palomo (Neon Indian), ist ihr zweites Album Coast 2 Coast eine Collage antiquierter und modernisierter Lounge-Rhythmen, dass der Verdacht käsiger Coolness im Raum stünde – wären Polacks polyinstrumentellen Keyboad-Kaskaden über Davis Flattergesang nicht auf so chaotische Art harmonisch und schön. So schön durcheinander, dass es die reine Freude ist, mit Pearl & The Oysters zurück in die Zukunft zu reisen.
Pearl & The Oysters – Coast 2 Coast (Stones Throw Records)
Silver Moth
Weil bei aller Wertschätzung am Ende wenig langweiliger ist als Harmonie um ihrer selbst Willen, müssen wir hier noch mal kurz eine Lanze für deren Aufbruch brechen, den Versuch, Wohlklang mit den eigenen Mitteln zu schlagen, das also, was die Unknown Superband Silver Moth auf ihrem Debütalbum betreibt. Kombiniert aus Indie-Gruppen wie Mogwai, Abrasive Trees oder Burning House, scheppert sich das Septett sechs Stücke lang durchs psychedelische Flächen von gebirgshoher Wucht.
Wichtiger noch: es schreddert sie in einer Art Emo-Noise, der trotz esoterischer Folk-Sequenzen gar nicht so abgehoben klingt wie Elisabeth Elektras feenhaft verwehender Gesang. Mit einer wallofsoundbreiten Prise Pink Floyd mäandert Black Bay durch die Siebzigerjahre, macht ein paarmal bei Kraut- und Progressive Rock Halt, dickt es mit elegischer Spoken-Words-Poesie an, verheddert sich dabei allerdings nie im Drogenrausch melodramatischer Querflöten, sondern bleibt auf Kurs einer Platte, die tiefer dringen will als jede Harmonielehre.
Silver Moth – Black Bay (Bella Union)
Anna Winger: Deutschland 83 & Transatlantic
Posted: April 21, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentFeier des Lebens in schrecklicher Zeit
Seit Deutschland 83 gilt die New Yorkerin Anna Winger (Foto: Netflix) als feinste Beobachterin deutscher Gegenwartsgeschichte. Ihr siebenteiliges Netflix-Drama Transatlantic reist nun ins Marseille des Jahres 1940, wo eine realexistierende Flüchtlingsorganisation jüdische Intellektuelle vor den Nazis rettet. Gespräch mit einer Überzeugungstäterin.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Nach Deutschland 83/86/89 und Unorthodox beschäftigt sich auch Transatlantic mit Ihrer deutschen Wahlheimat, wenngleich Jahrzehnte früher. Warum dieser Sprung in eine Zeit so lange vor Ihrem Umzug nach Berlin?
Anna Winger: Stimmt, jetzt wo Sie es sagen… Wobei ich auch 1986 nicht in Berlin war, mir mein Wissen darüber also mit harter Recherche erarbeiten musste. Über Musik und Popkultur hatte ich zwar einen Bezug zum Deutschland jener Jahre, aber nie über die Folgen des Kalten Krieges für Berlin nachgedacht, bevor ich dort hingezogen bin. Von daher war Deutschland 83 anders als Unorthodox, das im Berlin meiner Zeit hier spielt, eher ein zeitgenössisches Kostümdrama als irgendwie biografisch.
Was haben die Formate dennoch gemeinsam?
Meine Geschichten entstehen immer aus Neugierde, sind häufig Fish-out-of-water-Stories und führen sie auf unterschiedliche Art aus der Dunkelheit ins Licht. Trotzdem wollte ich eigentlich nie etwas über Zweiten Weltkrieg oder Nationalsozialismus machen und war nach all den Angeboten, die ich dazu abgelehnt hatte, selbst überrascht, dieses hier angenommen zu haben.
Was hat Sie dennoch überzeugt?
Vor allem, was mein Vater mir darüber mal erzählt hatte, als wir gemeinsam über den Potsdamer Platz gegangen sind und ihm dort die Varian-Fry-Straße auffiel.
Benannt nach einer Hauptfigur, die mit Mary Jane Gold das Emergency Rescue Committee zur Rettung europäischer Juden betrieben hatte.
Den kannte er zwar nicht persönlich, dafür zwei andere Seriencharaktere, die fürs ERC gearbeitet hatten. Mit Lisa Fittko protestierte er in den Sechzigern gegen den Vietnamkrieg, mit Albert Hirschman lehrte er in den Siebzigern in Harvard. Als mein Vater mir davon 2012 erzählte, war ich schon deshalb so fasziniert von der Geschichte, weil der Einfluss jüdischer Intellektueller auf mein akademisch geprägtes Elternhaus in Cambridge, Massachusetts, wo ich aufgewachsen bin, so enorm war.
So gesehen kam „Transatlantic“ für Sie sogar vor „Deutschland 83“.
Ja. In meiner Kindheit und später in New York, hatten so viele im Umfeld meiner Eltern deutschen Akzent, dass ich deren Immigrationsgeschichte fühlen konnte. Genau darüber hatte ich wieder nachgedacht, als die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge zu Tausenden nach Berlin kamen. Am Ende war das aber nicht der Hauptgrund, Transatlantic zu machen.
Sondern?
Dass uns Gemeinschaft, Kreativität und Lebensmut oder Liebe, Sex und Freundschaft dieser Erzählung daran erinnern, wie viel Licht selbst in tiefster Dunkelheit steckt. Dabei fasziniert mich besonders, dass Leute verschiedenster Herkunft, Klassen, Hintergründe und Ansichten, die sich ansonsten wohl nie getroffen hätten, eine Art magischer Gemeinschaft bilden. Neben Deutschland waren 1940 ja auch Italien, Nordfrankreich, Spanien faschistisch, England wurde bombardiert, Amerika war neutral – selten zuvor war eine Zeit dunkler als diese.
Umso mehr handelt Transatlantic abseits all jener, die sich und anderen geholfen haben, von denen, die es wie die USA nicht getan haben, den untätigen Ignoranten also.
Sie machen dunkle Zeiten noch dunkler: Menschen und Bürokraten verbrecherischer Systeme und ihrer Nachbarn, die ihrem Alltag nachgehen und den menschlichen Preis ignorieren. Wobei Marseille eine Sonderrolle spielt. Unabhängig vom Pétain-Regime im Norden, gab es dort einerseits Kollaborateure, andererseits Anfänge der Résistance und mittendrin diese Intimität des ERC. Aus Sicht einer Autorin war das alles sehr interessant.
Ist es am Ende diese Intimität im Umfeld herzloser Zerstörungswut, die Transatlantic von der Vielzahl anderer Fiktionen zwischen Shoah und Weltkrieg unterscheidet?
Und die Feier des Lebens in schrecklicher Zeit. Beides hat mich damit verbunden, obwohl es im Kern tieftraurig bleibt. Ich habe mich oft gefragt, wie ich empfunden hätte, wenn mein Umzug aus den USA nach Berlin 2002 eine Flucht gewesen wäre, und habe mich da an Filme meiner Kindheit erinnert, die vielfach von jüdischen Emigranten stammten.
Die haben einfach weitergemacht.
Und ihre Traumata mit Humor, Liebe, Kunst in einer großen deutsch-jüdischen Exilgemeinde aufgearbeitet. Die halbe Crew von Casablanca bestand aus Flüchtlingen. Billy Wilder und Ernst Lubitsch waren deshalb als Künstler und Menschen unglaublich inspirierend für mich.
Würden Sie Transatlantic als deutsche oder internationale Produktion bezeichnen?
Deutsch. Unbedingt.
Glauben Sie, dass sie besonders in den USA auch als deutsche Produktion wahrgenommen wird oder doch eher, schon wegen der Sprache, der Organisation ERC und einiger Darsteller:innen, als internationale?
Macht das einen Unterschied?
Insofern, als deutsches Kino und Fernsehen in den USA nur dann wahrgenommen wird, wenn es sich mit Krieg und Tyrannei beschäftigt – wie man an vier Oscars für Im Westen nichts neues sieht.
Das sehe ich komplett anders. Zum einen gibt es in den USA selbst unglaublich viele Produktionen, die mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben. Zum anderen sind mittlerweile auch aus Deutschland Projekte erfolgreich, die damit gar nichts zu tun haben.
Mir fiele da nur Dark ein und dann wieder die beiden Historien-Serien Babylon Berlin oder Deutschland 83.
Trotzdem sind Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg nicht immer deutsche Themen und deutsche Themen nicht immer Zweiter Weltkrieg oder Kalter Krieg. Und hier geht es auch nicht um Deutsche und Flüchtlinge oder Opfer und Täter, sondern um gewöhnliche Menschen, die ungewöhnliche Dinge machen. Ich glaube, wir sind uns einig, hier uneinig zu bleiben.
Okay, aber?
Am wichtigsten ist mir, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die meine Vision teilen. Deshalb sind es auch immer wieder dieselben Leute, etwa die deutsche Bühnenbildnerin Silke Fischer, der Kameramann Wolfgang Thaler aus Österreich oder die Kostümbildnerin Justine Seymore aus England. Auch, wenn diese Show am Ende eine deutsche Produktion ist, schlägt sie demnach Brücken und ist auf organische Weise international.
Als wir 2015 anlässlich von Deutschland 83 übers Fernsehen geredet haben, meinten Sie, in den USA wüsste niemand, was das abseits einiger Witze in 30 Rock zu Wetten, dass…? eigentlich sei.
Und nicht nur darüber (lacht). Tina Fey ist halb Deutsche, deshalb hat sie ständig Witze über Deutschland gemacht…
Hat sich an dem Bild durch deutsche Produktionen, die über Streamingdienste ein weltweites Publikum finden, etwas geändert?
Definitiv. Weil das alte Bild von Deutschland altmodisch, also überholt war und sich die Welt seither geändert hat, und zwar radikal. Es wird zusehends unwichtiger, wo etwas entsteht, solange es gut ist. Früher haben Amerikaner fast nichts Ausländisches gesehen. Punkt. Jetzt haben sich Fenster in alle Länder geöffnet – auch das nach Deutschland. Ich finde wirklich nicht alles von hier gut, aber es gibt viele Produktionen, die ich liebe.
Zum Beispiel?
Miss Merkel bei RTL, eine Comedy über die Bundeskanzlerin als Hobbydetektivin.
Ich habe darüber bei DWDL geschrieben.
So unglaublich! Jeder in den USA würde es lieben, weil die meisten Angela Merkel lieben.
Als Anker der Stabilität in einer instabilen Welt?
Vielleicht. Aber auch, weil sie ein so einzigartiger Charakter ist, dass man ihr auch abkauft, nach der Pensionierung Kriminalfälle in der Uckermark zu lösen.
Weckt das Ihr Interesse, eine Historienserie übers Leben Angela Merkels zu machen?
Nein, zumindest vorerst nicht. Wobei ich durchaus Fantasien in andere Richtungen als bisher habe, Real Crime zum Beispiel oder Comedy. Auch in Transatlantic steckt Humor. Meine Serien sind immer ein Genremix.
Welche wird ihre nächste?
Ich arbeite unter Hochdruck daran, kann aber noch nicht verraten, worum es darin geht.
Wenigstens Zeit und Ort?
Es spielt in der Gegenwart Großbritanniens.
Müssen Sie dafür wie bei Transatlantic und der Geschichte Ihres Vaters eine persönliche Verbundenheit zum Stoff spüren?
Über der Oberfläche nicht, sonst hätte ich Deutschland 83 nie machen können. Unter der Oberfläche fühle ich mich mit all meinen Charakteren verbunden. Wer über die Vergangenheit schreibt, schreibt immer über die Gegenwart. Und wer über andere Menschen schreibt, schreibt immer auch ein bisschen über sich selbst.
Döpfners Ossis & Laudes Deutsche
Posted: April 17, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
10. – 16. April
Eine Überraschung kennzeichnet gemeinhin das Unerwartete, weshalb der New Scientist sie als „Wechsel der Erwartung aufgrund des Eintreffens neuer Daten“ definiert. Wen es da überrascht, dass sich der milliardenschwere Springer-Chef Mathias Döpfner, dessen Verlag kontinuierlich die Zersetzung demokratischer, humanistischer, rechtstaatlich-pluralistischer Prinzipien in Richtung einer rechtslibertären Oligarchie mächtiger Männer betreibt, dürfte Wladimir Putin für einen lupenreinen Demokraten halten.
Döpfner, so zeigen geleakte Chats in der aktuellen Zeit, findet Ostdeutsche nicht nur dann „eklig“, sofern sie Merkel heißen, er verachtet auch alle Westdeutschen, falls ihnen das Klima, die Wissenschaft, der linksgrünversiffte Unfug menschlicher Werte wichtiger ist als ein Wirtschaftssystem zum Wohle Superreiche wie ihn. Kein Wunder, dass Döpfner den sexuell gewalttätigen Bild-Boss Julian Reichelt dazu aufforderte, die FDP zu fördern.
Alles Propaganda, pöbelte der Beschuldigte zurück, geriert sich wie unter Rechtspopulisten üblich als Opfer der eigenen Elite, entschuldigt sich dennoch, ohne um Verzeihung zu bitten, und belegt damit, der angeblich so verhassten AfD näher zu sein als Grundgesetz und Ethik. Damit ist Döpfner Gauland minus Judenhass und auf ideologisch auf Linie von Elon Musk, der Twitter in X umbenannt hat, damit er die BBC dort frei vom Ballast früherer Liberalität als staatlich finanziert verunglimpfen kann, und ein Moratorium der KI-Forschung unterstützt, um alle GPU-Prozessoren aufzukaufen.
Vielleicht ist es da gar ein gutes Zeichen, dass das größte US-Datenleck seit Edward Snowden zunächst mal nicht in die Öffentlichkeit gezwitschert wurde, sondern über Gaming-Chats wie Discord Verbreitung fand. Ein schlechtes Zeichen: der mutmaßliche Täter war kein Whistleblower, sondern offenbar ein rechtsnationaler Rassist und damit ideologisch ganz auf Linie Mathias Döpfners, dem – Obacht Ironie – Alfred Hugenberg der neurechten Bohème.
Die Frischwoche
10. – 16. April
Zugeben – nicht ganz leicht, den Bogen ins aktuelle Fernseh- und Stremingangebot zu spannen, aber vielleicht bietet es ja Ablenkung von der geplanten Machtübernahme moralisch verkommener Oligarchen wie diesen. Para zum Beispiel, Fortsetzung der hinreißenden Erzählung von vier Berlinerinnen beim Versuch, die kriminelle Energie hypermaskuliner Nachbarn aus 4 Blocks ab heute bei Warner TV zu kopieren, ohne dabei ständig Leute plattzumachen.
Eine Kopie ist auch die Web-Serie Almania, in der Phil Laude – einst ein Drittel der Pimmelwitzbrigade Y-Titty – Bernd Stromberg quasi zum Lehrer einer Problemschule macht. Nach zwei Pilotfolgen vor zwei Jahren geht die Mockumentary Freitag als Achtteiler auf die ARD-Mediathek und trotz aller Abklatschansätze: das ist manchmal schon auch lustig, ohne platt zu sein. Ohne jeden Humor tiefgründig ist dagegen die Überraschung der Woche: Drops of God.
Auf Basis japanischer Mangas verfilmt Apple darin das Duell einer Französin, die mit dem Ziehsohn ihres verhassten Vaters um dessen Erbe kämpft: Wein im Wert von 148 Millionen Euro. Die Serie zeigt aber nicht nur einen Wettstreit aus dem bizarr bildgewaltigen Milieu der Önologie. Achtmal 55 faszinierende Minuten lang handelt die doppelte Familiensaga ab Freitag auch vom Kulturclash der sinnlichen Provence im aseptischen Tokio. Während die französisch-japanische Serie ihr eigenes Thema ständig mit Wendungen überrumpelt, setzt das deutsche Fernsehen auf Altbewährtes.
In der ARD-Krimireihe Mordack etwa spielt Mehmet Kurtulus Donnerstag nicht wie einst beim Tatort einen verdeckten Ermittler, sondern – nee: doch einen verdeckten Ermittler. Auch das ZDF betritt mit Die Spur ausgetretenes Terrain, obwohl es das Format Mittwoch als erste deutsche forensische Real Crime Serie bezeichnet. An gleicher Stelle geht zwei Tage zuvor die forensische Fiktion Im Schatten der Angst mit der famosen Mercedes Müller weiter. Aber wenn Netflix mit Diplomatische Beziehungen ab Donnerstag ebenso wie Apple tags drauf (Ghosted) RomComs absondert, ist lineare Hausmannskost allemal statthaft.
Tim Raue: Sternekoch & Restaurantretter
Posted: April 14, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentScheitern, aber bitte mit Konzept
Was machen Tim und Katharina Raue (Foto: RTL/Pascal Buenning) eigentlich nach Feierabend? Ein Doppel-Interview (vorab erschienen bei DWDL) mit dem Sternekoch und seiner Geschäfts- und Ehepartnerin über die Arbeit mit oder ohne Kamera und wie da noch Platz für Raue – Restaurantretter bei RTL bleibt.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Raue, Frau Raue – kann es sein, dass Sie mit der kreativ wie geschäftlich enorm zeit- und kraftraubenden Spitzengastronomie nicht ausgelastet sind?
Tim Raue: Katharina, es geht ums Geschäft, also du bitte!
Katharina Raue: Wir sind beide durchaus ausgelastet, aber wenn uns etwas über den Weg läuft, von dem wir beide glauben, dass es ebenso spannend wie erfolgsversprechend ist, machen wir es einfach zu gerne, um nein zu sagen.
Raue – Der Restaurantretter ist Ihnen also auch über den Weg gelaufen und erschien erfolgversprechend?
Tim Raue: So muss es gewesen sein, denn bei Fernsehformaten bin ich eher schwierig. Deshalb hatte ich auch lange gewartet, bevor ich bei Magenta TV mein erstes eigenes Format gemacht habe. Ich möchte mich darin nicht nur wiederfinden, sondern überzeugt sein, dass es funktioniert.
Wobei die Spitzengastronomie als arbeitsintensiv am Rande menschlicher Belastungsgrenzen gilt. Wie schaffen Sie es, jetzt noch ein TV-Format reinzuquetschen?
Tim Raue: Dazu muss man vor weg sagen, dass meine jetzige Frau Katharina mit dem Restaurant Tim Raue, das ich mit meiner Ex-Frau Marie-Anne führe, nichts zu tun hat. Dafür haben wir die Raue-Consulting, in der acht weitere Restaurants verhackstückt werden.
Sie müssen also nichts quetschen, sondern gut delegieren?
Tim Raue: Ich muss schon auch quetschen, kann aber womöglich etwas zeitintensiver arbeiten als andere.
Katharina Raue: Dafür hat mein Mann aber auch exzellente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die selbst dann exzellente Arbeit abliefern, wenn er nicht im Restaurant ist.
Tim Raue: Zum Glück habe ich die Fähigkeit, Menschen vertrauen zu können; nur so konnte ich schon sehr jung Küchenchef werden. Dass mir das nie gereicht hat, sieht man aber an den anderen Restaurants, die ich berate. Arbeit – selbst viel – ist für mich nichts, was ich machen muss, sondern Ausdruck meiner Persönlichkeit.
Katharina Raue: Geht mir genauso. Ich arbeite, weil es mir Spaß macht, und wenn ich dafür Geld bekomme – umso besser. Aber Geld ist nie mein Antrieb.
Tim Raue: Und da ist es bei aller Bescheidenheit ein großes Glück, dass wir in unseren Jobs gut genug sind, um nicht nur darin tätig zu sein, sondern aktiv zu gestalten. Deshalb sind wir auch in der RTL-Sendung keine Marionetten, sondern haben von Anfang an darauf bestanden, die Fälle – im Einvernehmen mit dem Sender natürlich – auszusuchen oder abzulehnen.
Katharine Raue: Es geht dabei immer um ein größtmögliches Miteinander.
Tim Raue: Das im Arbeitsalltag des ganzen Teams herrscht. Wir sind keine Egoshooter, die sich für die Größten halten, sondern beziehen jene, denen wir vertrauen, in alle Prozesse ein. Deswegen war es wichtig, das mit meiner Frau zu machen; was Marketing, Gestaltung, soziale Medien angeht, ist sie mir einfach um Längen voraus. Ich kann gut und gern Hilfe von denen annehmen, die etwas besser können als ich.
Tim kreativ, Katharina betriebswirtschaftlich – das ist also die Arbeitsteilung beim Restaurantretter?
Katharina Raue: Fast, auch Betriebswirtschaft erfordert Kreativität und umgekehrt. Weil wir beide gestalterisch tätig sind, besteht die Arbeitsteilung eher darin, dass Tim alles kulinarisch schön macht und ich optisch. Dafür schauen wir uns im Vorfeld des Castings an, inwiefern sie bei den Kandidaten der Sendung funktioniert.
Gemeinsam?
Katharina Raue: Gemeinsam, aber das visuelle Konzept vom Restaurantretter folgt in aller Regel erst aufs kulinarische.
Tim Raue: Wobei der Name eigentlich das Einzige ist, was Rach, der Restauranttester ähnelt. Inhaltlich haben wir einen komplett anderen Ansatz.
Nämlich?
Katharina Raue: Wir bespielen unterschiedlichere Dimensionen und betrachten das Restaurant als Gesamterlebnisraum, den wir auf bestimmte Zielgruppen zuschneiden wollen.
Tim Raue: Und zwar zu zweit auf 90 Minuten statt allein auf 45. Deshalb gehen wir tiefer in die Materie, arbeiten intensiver mit den Menschen und packen die Materie schon deshalb anders an, weil Gastronomie 2023 eine völlig andere ist als 2002 – gerade, was die Außendarstellung betrifft.
Katharina Raue: Außerdem haben sich die Gäste – nicht zuletzt durch die Pandemie – vom reinen Versorgungsdenken hin zu mehr Kost- und Küchenverständnis emanzipiert.
Tim Raue: Umso mehr wollen wir niemandem beim Scheitern zusehen, sondern suchen gezielt nach dem Potenzial, etwas bewegen, also überleben zu können.
Klingt gastronomisch, also fachlich. Wie hat sich denn das Kochfernsehen seit Christian Rachs Pionierarbeit verändert?
Tim Raue: Ich kann da nicht fürs Genre sprechen, aber wir nehmen uns mehr Zeit für die Bilder, arbeiten also nicht mit schnellen Schnitten, sondern Konzentration aufs Wesentliche. Momente brauchen Emotionen und umgekehrt, wir legen den Fokus auf den Menschen, ohne ihm dabei zusehen zu wollen, auf die Fresse zu fallen.
Haben Sie den Restauranttester seinerzeit als Referenzobjekt gesehen?
Tim Raue: Natürlich, es war schließlich ein Format, das über zehn Jahre hinweg grandios gelaufen ist und damit eine echte Benchmark, die wir damals – noch unabhängig voneinander – beide gern gesehen haben.
Katharina Raue: Räumlich getrennt, aber vereint in der Faszination fürs Format.
Tim Raue: Bei dem ich jedes Mal wieder aufs Neue den Kopf darüber schütteln musste, warum nahezu jeder ein Restaurant eröffnen kann, ohne die geringste Idee davon zu haben. Wie viel weniger Not und Tragödie würde es geben, wenn Restaurant-Betreiber ein Lehrberuf mit Abschluss wäre.
Katharina Raue: Ich höre es jetzt noch klatschen, so oft hat Tim als Restaurantretter die Hände überm Kopf zusammengeschlagen.
Sie halten es nicht mit dem amerikanischen Business-Modell fail, try again, fail better?
Katharina Raue: Doch, aber bitte mit einem Konzept, von dessen Erfolg man vorm Scheitern überzeugt war.
Tim Raue: Wir hatten diesbezüglich Kandidaten, die zwar das falsche Konzept am falschesten Ort mit dem falschesten Personal hatten, was eigentlich zu sinnfrei ist, um daran zu arbeiten. Aber wenn die Überzeugung der Betroffenen groß ist, kann man versuchen, kulinarisch und gestalterisch neue Zielgruppen zu fokussieren.
Katharina Raue: Wer auf die Frage nach denen antwortet, sie sei Jung und Alt oder für jeden Geschmack was dabei, hat schon verloren.
Tim Raue: Das Problem ist, dass finanzielle Sorgen schnell dazu führen, Basics wie Disziplin und Hygiene zu vernachlässigen. Aus diesem Strudel herauszukommen, ist extrem schwierig.
Und wie helfen Sie dabei, es doch zu schaffen?
Tim Raue: Durch positives Bestärken.
Katharina Raue: Das Besinnen auf eigene Stärken und Konzepte, die anfangs vielleicht vorhanden waren, aber dem Misserfolg zum Opfer gefallen sind.
Würden Sie ähnlich vorgehen, wenn es in der Sendung um Ihr Restaurant ginge?
Tim Raue: Ja, aber das machen wir doch eh ständig. Ich bin 25 meiner 48 Jahre Küchenchef und wäre kaum so lange erfolgreich, wenn ich nicht jeden Tag mit dem Ansatz starten würde, mich und das Restaurant zu optimieren. Von daher macht der Restaurant-Retter gar nicht viel anders als der -Betreiber. Ich consulte mich an 222 Tagen, die ich zwischen all meinen Unternehmungen unterwegs bin, selbst.
Wenn Sie also maximal 143 Tage die Chance haben, Ihre Frau persönlich zu treffen – ist so eine Sendung dann auch ein bisschen We-Time für beide?
Tim Raue: Da haben Sie die falsche Vorstellung von Drehtagen und wieviel Gelegenheit zur Zweisamkeit sie bieten (lacht). Wir haben ein Beziehungsleben, das viele sich weder vorstellen können noch wollen, genießen die gemeinsame Zeit dafür halt umso mehr und bewusster.
Wie sieht ein gemeinsamer Feierabend bei Raues dann aus?
Katharina Raue: Wie bei normalen Paaren, die nach schwerem Arbeitstag gemeinsam essen, übern Tag reden, sich noch mal hinsetzen, entspannen, zu Bett gehen.
Tim Raue: Kein Halligalli! Und weil mir schleierhaft ist, was die Leute übers Kochen hinaus an mir finden, stehen wir auch nur zweimal pro Jahr auf red carpets und versuchen schon wegen unserer verschiedenen Lebensmittelpunkte Zeit gemeinsam zu genießen, und da gibt es ein Prinzip: keiner von uns beiden kocht. Auf gar keinen Fall!
Katharina Raue: Essen heißt bei uns zuhause daher, was Leckeres bestellen.
Tim Raue: Oder essen gehen, das machen wir natürlich auch sehr gern. Schon, weil man unsere Kollegen überall auf dem Planeten unterstützen sollte. Die haben’s nicht leicht gerade.
Was machen Tim und Katharina Raue (Foto: RTL/Pascal Buenning) eigentlich nach Feierabend? Ein Doppel-Interview (vorab erschienen bei DWDL) mit dem Sternekoch und seiner Geschäfts- und Ehepartnerin über die Arbeit mit oder ohne Kamera und wie da noch Platz für Raue – Restaurantretter bei RTL bleibt.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Raue, Frau Raue – kann es sein, dass Sie mit der kreativ wie geschäftlich enorm zeit- und kraftraubenden Spitzengastronomie nicht ausgelastet sind?
Tim Raue: Katharina, es geht ums Geschäft, also du bitte!
Katharina Raue: Wir sind beide durchaus ausgelastet, aber wenn uns etwas über den Weg läuft, von dem wir beide glauben, dass es ebenso spannend wie erfolgsversprechend ist, machen wir es einfach zu gerne, um nein zu sagen.
Raue – Der Restaurantretter ist Ihnen also auch über den Weg gelaufen und erschien erfolgversprechend?
Tim Raue: So muss es gewesen sein, denn bei Fernsehformaten bin ich eher schwierig. Deshalb hatte ich auch lange gewartet, bevor ich bei Magenta TV mein erstes eigenes Format gemacht habe. Ich möchte mich darin nicht nur wiederfinden, sondern überzeugt sein, dass es funktioniert.
Wobei die Spitzengastronomie als arbeitsintensiv am Rande menschlicher Belastungsgrenzen gilt. Wie schaffen Sie es, jetzt noch ein TV-Format reinzuquetschen?
Tim Raue: Dazu muss man vor weg sagen, dass meine jetzige Frau Katharina mit dem Restaurant Tim Raue, das ich mit meiner Ex-Frau Marie-Anne führe, nichts zu tun hat. Dafür haben wir die Raue-Consulting, in der acht weitere Restaurants verhackstückt werden.
Sie müssen also nichts quetschen, sondern gut delegieren?
Tim Raue: Ich muss schon auch quetschen, kann aber womöglich etwas zeitintensiver arbeiten als andere.
Katharina Raue: Dafür hat mein Mann aber auch exzellente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die selbst dann exzellente Arbeit abliefern, wenn er nicht im Restaurant ist.
Tim Raue: Zum Glück habe ich die Fähigkeit, Menschen vertrauen zu können; nur so konnte ich schon sehr jung Küchenchef werden. Dass mir das nie gereicht hat, sieht man aber an den anderen Restaurants, die ich berate. Arbeit – selbst viel – ist für mich nichts, was ich machen muss, sondern Ausdruck meiner Persönlichkeit.
Katharina Raue: Geht mir genauso. Ich arbeite, weil es mir Spaß macht, und wenn ich dafür Geld bekomme – umso besser. Aber Geld ist nie mein Antrieb.
Tim Raue: Und da ist es bei aller Bescheidenheit ein großes Glück, dass wir in unseren Jobs gut genug sind, um nicht nur darin tätig zu sein, sondern aktiv zu gestalten. Deshalb sind wir auch in der RTL-Sendung keine Marionetten, sondern haben von Anfang an darauf bestanden, die Fälle – im Einvernehmen mit dem Sender natürlich – auszusuchen oder abzulehnen.
Katharine Raue: Es geht dabei immer um ein größtmögliches Miteinander.
Tim Raue: Das im Arbeitsalltag des ganzen Teams herrscht. Wir sind keine Egoshooter, die sich für die Größten halten, sondern beziehen jene, denen wir vertrauen, in alle Prozesse ein. Deswegen war es wichtig, das mit meiner Frau zu machen; was Marketing, Gestaltung, soziale Medien angeht, ist sie mir einfach um Längen voraus. Ich kann gut und gern Hilfe von denen annehmen, die etwas besser können als ich.
Tim kreativ, Katharina betriebswirtschaftlich – das ist also die Arbeitsteilung beim Restaurantretter?
Katharina Raue: Fast, auch Betriebswirtschaft erfordert Kreativität und umgekehrt. Weil wir beide gestalterisch tätig sind, besteht die Arbeitsteilung eher darin, dass Tim alles kulinarisch schön macht und ich optisch. Dafür schauen wir uns im Vorfeld des Castings an, inwiefern sie bei den Kandidaten der Sendung funktioniert.
Gemeinsam?
Katharina Raue: Gemeinsam, aber das visuelle Konzept vom Restaurantretter folgt in aller Regel erst aufs kulinarische.
Tim Raue: Wobei der Name eigentlich das Einzige ist, was Rach, der Restauranttester ähnelt. Inhaltlich haben wir einen komplett anderen Ansatz.
Nämlich?
Katharina Raue: Wir bespielen unterschiedlichere Dimensionen und betrachten das Restaurant als Gesamterlebnisraum, den wir auf bestimmte Zielgruppen zuschneiden wollen.
Tim Raue: Und zwar zu zweit auf 90 Minuten statt allein auf 45. Deshalb gehen wir tiefer in die Materie, arbeiten intensiver mit den Menschen und packen die Materie schon deshalb anders an, weil Gastronomie 2023 eine völlig andere ist als 2002 – gerade, was die Außendarstellung betrifft.
Katharina Raue: Außerdem haben sich die Gäste – nicht zuletzt durch die Pandemie – vom reinen Versorgungsdenken hin zu mehr Kost- und Küchenverständnis emanzipiert.
Tim Raue: Umso mehr wollen wir niemandem beim Scheitern zusehen, sondern suchen gezielt nach dem Potenzial, etwas bewegen, also überleben zu können.
Klingt gastronomisch, also fachlich. Wie hat sich denn das Kochfernsehen seit Christian Rachs Pionierarbeit verändert?
Tim Raue: Ich kann da nicht fürs Genre sprechen, aber wir nehmen uns mehr Zeit für die Bilder, arbeiten also nicht mit schnellen Schnitten, sondern Konzentration aufs Wesentliche. Momente brauchen Emotionen und umgekehrt, wir legen den Fokus auf den Menschen, ohne ihm dabei zusehen zu wollen, auf die Fresse zu fallen.
Haben Sie den Restauranttester seinerzeit als Referenzobjekt gesehen?
Tim Raue: Natürlich, es war schließlich ein Format, das über zehn Jahre hinweg grandios gelaufen ist und damit eine echte Benchmark, die wir damals – noch unabhängig voneinander – beide gern gesehen haben.
Katharina Raue: Räumlich getrennt, aber vereint in der Faszination fürs Format.
Tim Raue: Bei dem ich jedes Mal wieder aufs Neue den Kopf darüber schütteln musste, warum nahezu jeder ein Restaurant eröffnen kann, ohne die geringste Idee davon zu haben. Wie viel weniger Not und Tragödie würde es geben, wenn Restaurant-Betreiber ein Lehrberuf mit Abschluss wäre.
Katharina Raue: Ich höre es jetzt noch klatschen, so oft hat Tim als Restaurantretter die Hände überm Kopf zusammengeschlagen.
Sie halten es nicht mit dem amerikanischen Business-Modell fail, try again, fail better?
Katharina Raue: Doch, aber bitte mit einem Konzept, von dessen Erfolg man vorm Scheitern überzeugt war.
Tim Raue: Wir hatten diesbezüglich Kandidaten, die zwar das falsche Konzept am falschesten Ort mit dem falschesten Personal hatten, was eigentlich zu sinnfrei ist, um daran zu arbeiten. Aber wenn die Überzeugung der Betroffenen groß ist, kann man versuchen, kulinarisch und gestalterisch neue Zielgruppen zu fokussieren.
Katharina Raue: Wer auf die Frage nach denen antwortet, sie sei Jung und Alt oder für jeden Geschmack was dabei, hat schon verloren.
Tim Raue: Das Problem ist, dass finanzielle Sorgen schnell dazu führen, Basics wie Disziplin und Hygiene zu vernachlässigen. Aus diesem Strudel herauszukommen, ist extrem schwierig.
Und wie helfen Sie dabei, es doch zu schaffen?
Tim Raue: Durch positives Bestärken.
Katharina Raue: Das Besinnen auf eigene Stärken und Konzepte, die anfangs vielleicht vorhanden waren, aber dem Misserfolg zum Opfer gefallen sind.
Würden Sie ähnlich vorgehen, wenn es in der Sendung um Ihr Restaurant ginge?
Tim Raue: Ja, aber das machen wir doch eh ständig. Ich bin 25 meiner 48 Jahre Küchenchef und wäre kaum so lange erfolgreich, wenn ich nicht jeden Tag mit dem Ansatz starten würde, mich und das Restaurant zu optimieren. Von daher macht der Restaurant-Retter gar nicht viel anders als der -Betreiber. Ich consulte mich an 222 Tagen, die ich zwischen all meinen Unternehmungen unterwegs bin, selbst.
Wenn Sie also maximal 143 Tage die Chance haben, Ihre Frau persönlich zu treffen – ist so eine Sendung dann auch ein bisschen We-Time für beide?
Tim Raue: Da haben Sie die falsche Vorstellung von Drehtagen und wieviel Gelegenheit zur Zweisamkeit sie bieten (lacht). Wir haben ein Beziehungsleben, das viele sich weder vorstellen können noch wollen, genießen die gemeinsame Zeit dafür halt umso mehr und bewusster.
Wie sieht ein gemeinsamer Feierabend bei Raues dann aus?
Katharina Raue: Wie bei normalen Paaren, die nach schwerem Arbeitstag gemeinsam essen, übern Tag reden, sich noch mal hinsetzen, entspannen, zu Bett gehen.
Tim Raue: Kein Halligalli! Und weil mir schleierhaft ist, was die Leute übers Kochen hinaus an mir finden, stehen wir auch nur zweimal pro Jahr auf red carpets und versuchen schon wegen unserer verschiedenen Lebensmittelpunkte Zeit gemeinsam zu genießen, und da gibt es ein Prinzip: keiner von uns beiden kocht. Auf gar keinen Fall!
Katharina Raue: Essen heißt bei uns zuhause daher, was Leckeres bestellen.
Tim Raue: Oder essen gehen, das machen wir natürlich auch sehr gern. Schon, weil man unsere Kollegen überall auf dem Planeten unterstützen sollte. Die haben’s nicht leicht gerade.
Janolis ESC & Beckers Boom
Posted: April 10, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
3. – 9. April
Da wachse also zusammen, was zusammengehört? Jahrelang haben Jan Böhmermann & Oli Schulz in ihrem Podcast Fest & Flauschig förmlich darum gebettelt, Moderatoren anstelle des Moderators zu werden, also Peter Urban beim ESC abzulösen. Da weder der berufsfröhliche LiLaLaune-Bär Frank Beckmann noch sein stocksteifgeschlagener NDR-Vorfahre Thomas Schreiber als Unterhaltungsverantwortliche für so viel Anarchie empfänglich waren, gehen Janoli allerdings ins Exil und moderieren beim ORF.
Zumindest in dessen Mediathek und beim österreichischen Jugendradio wird der, nun ja, „Gesangswettbewerb“ folglich modernisiert, während der NDR vermutlich darüber nachdenkt, Peter Illmann dafür aus der Rente zu holen. Von dort also, wo die Führungskräfte öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten finanziell so gut ausgestattet werden, dass sie fast schon an privatwirtschaftliche Privilegien-Träger (seltener: Trägerinnen) heranreichen, die aber schon zu Arbeitszeiten fürstlich entlohnt werden.
Das zeigte zuletzt ein Bericht des Bundesanzeigers über Boni-Zahlungen bei der Axel Springer SE. Jenem Konzern, dessen niederträchtige Belegschaft am Niedergang von Demokratie und Rechtsstaat herumschlagzeilt, dafür aber eher Kündigungen als Anerkennung erntet. Doch während Mathias Döpfner auf dem Rücken seiner Leute spart, gönnt er sich und seinesgleichen Sonderzahlungen in dreistelliger Millionenhöhe. Na ja, so funktioniert halt der Turbokapitalismus, dem Bild und Welt das Wort schreiben.
Dass die Regenbogenkonkurrenz von Burda dem RTL-Spielzeug G+J nacheifert, sieben Magazine streicht und gelegentlich gar schwangere Redakteurinnen feuert, ist da schon kaum noch der Rede wert in einer Branche von vollumfänglich verlotterter Moral und Ethik. Deshalb kurz zu jemandem, der verglichen mit Shareholder-Verlegern von – man beachte die Diversität ihrer Vornamen: Martin Weiss bis Thomas Rabe geradezu heilig ist.
Die Frischwoche
10. – 16. April
Seit Freitag läuft bei Apple TV+ die dreistündige Doku Boom Boom! The World vs. Boris Becker, und obwohl das Porträt des hochgestiegenen, tiefgefallenen Tennisspielers filmästhetisch eher konventionell geraten ist, erschafft Oscar-Preisträger Alex Gibney (Taxi zur Hölle) damit ein Meisterwerk personalisierter Beobachtung – und gewährt nebenbei Einblicke in die Abgründe des profitorientierten Spitzensports, die auch eine Sky-Doku kennzeichnen.
Sechs Jahre, nachdem ein irrer Spekulant den Dortmunder Teambus mit Nagelbomben angriff, um Kursverluste der BVB-Aktie zu provozieren, erzählt Der Anschlag mit einer erlesenen Auswahl Beteiligter, was er mit Mensch, Maschine, Fußball angestellt hat. Dazu passt abzüglich der Detonation die vierteilige ARD-Doku Tech-Titanen, worinndas Erste ab morgen in seiner Mediathek alles umwälzende Alpharüden der Marke Elon Musk porträtiert.
In deren Galerie wiederum hängt ab morgen auch die 4. Staffel der tollen Netflix-Serie Succession um eine ebenso rücksichtslose wie zerstrittene Mediendynastie, die nicht zufällig an Rupert Murdochs erinnert. Irgendwie mit Medien hat auch Irgendwas mit Medien zu tun, einer achtteiligen MDR-Mockumentary, die ab Freitag in der ARD-Mediathek der GenZ dabei zusieht, im Stromberg-Stil am Leistungsdruck der Multioptionsgesellschaft zu scheitern.
Und während sich die Sky-Serie A Town Called Malice Mittwoch mit surrealer Innbrunst aus der legalen in die illegale Wirtschaftskriminalität einer britischen Gang wechselt, die Mitte der Achtziger mit viel Musik versucht, an der Costa del Sol Fuß zu fassen, kopiert sich RTL tags zuvor selber und lässt statt (Christian) Rach als Restauranttester (Tim) Raue als Restaurantretter auf marode Küchen los. Kreativer zeigt sich daher mal wieder Apple.
Dort lugt Jennifer Garner als Star des Familienthrillers The Last Thing He Told Me ab Freitaag aus der Versenkung. Sieben Teile gibt es zwar keine Leichen, aber eine Zweitfamilie ihres verschollenen Mannes, den sie mithilfe seiner Tochter sucht. Zeitgleich eifert die neunjährige Jane dem gleichnamigen Vorbild Goodall nach, rettet gefährdete Tierarten und schwimmt damit ebenso am Rande des Mainstreams wie die deutsch-italienische ZDF-Serie The Gymnasts (Samstag, Mediathek) um junge Turnerinnen auf der Suche nach sich selbst.
Wednesdey, Blondshell, Daughter
Posted: April 8, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | Leave a commentWednesday
Was an den Neunzigern toll war? Vor allem natürlich die kultivierte Wut über einen Hedonismus, der zu blind, zu taub, zu ignorant war für die offenkundige Erkenntnis, in welchem Tempo unsere Art zu Leben gerade gegen jede nur erdenkliche Wand fährt. Kein Wunder, dass die realitätsblinden Neunziger musikalische Protestbewegungen wie den Grunge hervorgebracht haben, der zwar zur melodramatischen Hülse verkam, aber genug Hoffnung in sich trug, um Epigonen zu erzeugen. Folgebewegungen wie Wednesday.
Mit schreiender Gitarre und verbissenen Drums trägt das Quintett die Fackel popkultureller Renitenz aus dem stockkonservativen North Carolina in die weite Welt des Alternative-Rocks und macht daraus ein Debütalbum, als träfe sich Heather Nova mit Donald Trump auf Kurt Cobains Grab zum Fight Club. Verantwortlich dafür ist Frontfrau Karly Hartzman, deren intimer Gesang sich so eindringlich über brachiale Steelguitar-Riffs legt, dass Country, Shoegaze, Punk und Trash auf Rat Saw God eine Einheit von dialektischer Eleganz bilden. Brutal schön.
Wednesday – Rat Saw God (Dead Oceans)
Blondshell
So richtig aus dem Quark ihrer Wurzeln kommt auch die New Yorkerin Sabrina Teitelbaum nicht, wenn sie das selbstbetitelte Debüt als Blondshell mit der groben Kraft älterer Riot-Grrrl-Disharmonien zerstückelt. Gemeinsam mit Bosh Rothman (Drums), Sam Stewart (Guitarre), Joe Kennedy (Bass & Keys) emanzipiert sich die 25-Jährige nämlich vom Schweinerock, den sie daheim in Manhattan hören musste, bleibt seiner Metrik allerdings so treu, dass daraus retrofuturistischer Indie-Noise-Pop wird.
Wie Wednesday lebt also auch Blondshell vom Widerspruch klanglicher Gegensätze. Wenn Olympus von toxischen Beziehungen erzählt, mögen Teitelbaums Worte wie “I wanna save myself you’re part of my addiction / I just keep you in the kitchen while I burn / Burn / Burn / Burn / Burn” nach Blitz und Donner klingen – dank ihrer pragmatisch ruhigen Stimme allerdings wirken selbst Brandbeschleuniger so tiefenentspannt, als sei das innere Chaos totenstill. Blondshell sedieren, Blondshell zerwühlen, Blondshell sind auf widersprüchliche Art großartig.
Blondshell – Blondshell (Partisan Records)
Daughter
Völlig frei von Widersprüchen ist demgegenüber auch 13 Jahre nach seiner Gründung das britische Trio Daughter. Die Hälfte ihres Daseins in der Folkrock genannten Mischung aus Tradition und Moderne haben sich Elena Tonra, Igor Haefeli und Remi Aguilella zuletzt Zeit fürs dritte Album gelassen. Jetzt liegt es vor. Und Stereo Mind Game gelingt dabei derselbe kleine Geniestreich wie auf den Platten zuvor: geschmeidig und gleichsam kantig zu klingen, also etwas mehr Moderne als Tradition zu verbreiten.
Wie eine hellere Variation von The XX schleicht Daughter durch Alternative-Harmonien von Toriamoshafter Hyperemotionalität, deren Streich- und Bläser-Einlagen keine Samples sind, sondern teils live im Schwimmbad eingespielt wurden und dem Ganzen damit orchestrale Sinnlichkeit verleihen, die ein fließender Sound bis hin zu Walgesängen unter Wasser zu drücken scheint. Auf Koks durch die Großstadt laufen sollte man zu den 12 Tracks nicht, aber das ist ja auch weder Tradition noch Moderne, sondern voll Neunziger.
Daughter – Stereo Mind Game (4AD)