Gottschalks Abschied & Schneegespür
Posted: December 8, 2025 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
1. – 7. Dezember
Die gute Nachricht einer Woche voller nicht ganz so guter Nachrichten: Thomas Gottschalk ist weg. Mit der letzten RTL-Ausgabe von Denn sie wissen nicht, was passiert hat der peinliche Onkel das Familienfest Samstagabendshow – parallel zur nächsten, als Herz für Kinder, getarnten, ZDF-Dauerwerbesendung für die rechtspopulistische Bild – verlassen. Bleibt nur zu hoffen, dass ihr Posterboy auch abseits der Bühne die Klappe hält und sich dabei von seiner Krebserkrankung erholt. Vielleicht erinnert man sich seiner dann ja doch noch als Entertainer, der das Medium vorm geriatrischen Rechtsruck wirklich bereichert hatte.
Aus Zeiten übrigens, in denen fast niemand den Rundfunkbeitrag kritisierte. Das hat sich allerdings so massiv geändert, dass die KEF dessen Erhöhung wider jede Vernunft niedriger ansetzt als dringend nötig, um den ÖRR als pluralistisches Gegengewicht gegen demokratiefeindliche Medien zu erhalten. Wozu das führen kann, erlebt man – wo sonst – gerade in den USA. Dort hat Donald Trump einen Pranger eingeführt, an den er vermeintlich unseriöse Medien und ihre Journalist:innen stellt – allesamt wenig überraschend solche, die ihn kritisieren.
Die öffentliche Anklagebank steht aber auch hierzulande längst sehr solide, wie ein absurder Vorwurf gegen Sophie von der Tann plus anschließendem Shitstorm zeigt. Weil sich die deutsche ARD-Korrespondentin erdreistet, Netanjahus Krieg im Gazastreifen differenzierter zu sehen, wurde sie vor der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrich-Preises als Antisemitin beschimpft. Es ist soo ermüdend, in der aktuellen Medienhysterie objektiv zu bleiben…
Da lobt man sich doch die Nüchternheit, mit der Tanns Kollegen vom heute-journal bis Sport1 Gianni Infantinos 87-minütige Propaganda-Parade zu Trumps Ehren begleitet, bevor dann doch noch WM-Gruppen ausgelost wurden. Ebenso lobenswert geriet die TeleVisionale nach ihrem Umzug aus Baden-Baden nach Weimar. Als beste Serie wurde Lamin Leroy Gibbas queer-migrantisches (Selbst)Porträt Schwarze Früchte ausgezeichnet und die Filmtrophäe gewann das Pädophilie-Drama No Dogs Allowed.
Weil der 3sat-Publikumspreis obendrein ans hinreißende Abschiedslied Sterben für Beginner ging, der MDM-Debütpreis an Chabos und der Studierendenpreis an Uncivilized, haben die Jurys vor allem das öffentlich-rechtliche Spektrum deutscher Fiktionen prämiert. Ob sie damit gegen internationale Streamer wie Netflix bestehen, der sich mal eben für 72 Millionen Dollar mal eben Warner einverleibt hat, bleibt dennoch mehr als fraglich.
Die Frischwoche
8. – 14. Dezember
Welche Investitionen der Marktführer mittlerweile tätigen kann, zeigt ja nicht zuletzt Noah Baumbachs Meisterstück mit George Clooney als eigenes Alter Ego Jay Kelly auf Erkenntnistrip nach Italien. Ohne Übertreibung dürfte der Vorspann dieses großartigen Melodrams mit dem überraschend fantastischen Adam Sandler mehr kosten als die gesamte Fortsetzung der ARD-Serie Asbest, während fünf Minuten des siebenteiligen Netflix-Westerns The Abandons teurer sind als komplette Komödien wie Bjarne Mädels Prange im Ersten.
Und das will schon deshalb was heißen, weil die starbesetzte Story um ein paar widerständige Frauen in den USA der 1850er Jahre von Kritik und Publikum förmlich zerfetzt werden. Das immerhin droht der zweiten Kino-Kurzauswertung bei Netflix ab heute nicht. Wake Up Dead Man, Daniel Craigs dritter Einsatz als moderner Hercule-Poirot-Verschnitt Benoit Blanc Detektiv, ist ein grandioses Krimi-Kammerspiel, dem man die Multi-Millionen-Investition schon in der Ausstattung ansieht. Deutlich günstiger dürfte die deutsch-dänische Drama-Serie Smillas Gespür für Schnee sein, der Magenta das altbackene Fräulein abgenommen und durch eine Überdosis mystischer Melodramatik ersetzt hat.
Deutlich weltlicher gerät hingegen das sechsteilige Frauenfreundschaftsporträt Little Disasters mit Diana Krueger, ab Donnerstag bei Paramount+. Ebenfalls mit vier Frauen in zentraler Rolle brilliert das ZDF-Spektakel Danke für nichts, ab Freitag in der ZDF-Mediathek, wo parallel auch die finnische Gangsterinnen-Serie Queen of Fucking Everything startet. Und zeitgleich ebenso weiblich dominiert: Die ARD-Serie Mozart/Mozart mit Havanna Joy als Wolferls Schwester ohne Anspruch auf historische Authentizität, aber wirklich äußerst unterhaltsam.
Weimers Einfluss & Riefenstahls Erbe
Posted: November 24, 2025 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
17. – 23. November
Nein, Wolfram Weimer wird in diesem Staatssekretärsleben sicher kein Freund linksliberaler, interessanterweise aber auch nicht rechtsradikaler Medien mehr werden. Nachdem das AfD-Fanzine Apollo News skandalisiert hatte, der wirtschaftspolitische Gipfel seiner eigenen Media Group verspreche Teilnehmenden „Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger“, ging das Thema durch abseits aller Schützengräben durch die Presse – und hat dazu geführt, dass Weimer die 50 Prozent an seiner eigenen NGO verkauft hat.
Fast drängt sich der Verdacht auf, konstruktive Kritik könne konservatives Verhalten nachhaltig beeinflussen. Kaum jedenfalls, dass Andres Veiels Kino-Porträt Riefenstahl in der Fernsehzeitschrift unter ARD aufgetaucht ist, erkennt der filmwirtschaftliche Dachverband SPIO Goebbels-Günstlingen wie Leni Riefenstahl oder Heinz Rühmann die Ehrenmitgliedschaft ab. Und kaum, dass ein Rechercheteam aus SZ, WDR, NDR den Liedermacher Konstantin Wecker als (mutmaßlich) Pädokriminellen entlarvt, entbrennt eine Debatte über toxische Männlichkeit in der Musikbranche.
Im Mackerbusiness Profisport hat Paramount+ dank der unerschöpflichen Mittel des Oracle-Gründers Larry Ellison den Testosteron-Kanal DAZN ausgestochen und überträgt die Champions League ab Sommer 2027 gemeinsam mit Prime Video, während Sky und RTL überhaupt keine europäischen Spiele mehr zeigen – also ausgerechnet jene zwei Sender, die sich gerade vereinigen. Bisschen zynischer Übergang vielleicht, aber Alice und Ellen Kessler – der halben Welt als Kessler-Zwillinge bekannt, sind nach 81 Jahren gemeinsam aus dem Leben geschieden.
Ihr geplanter Suizid hat eine hochinteressante Diskussion übers Recht auf den eigenen Todeszeitpunkt ausgelöst, die dadurch neue Dynamik entwickeln könnte. Bei der Gelegenheit, etwas untypisch, noch ein weiterer Nachruf: freitagsmedien trauert um Udo Kier – einen der bemerkenswertesten Schauspieler überhaupt. Gestern ist er mit 81 gestorben, nachdem seine blauen Augen mehr als 200 Filme selbst in kleinster Nebenrolle geprägt haben.
Die Frischwoche
24. – 30. November
Und damit zurück zu Leni Riefenstahl, die 2003 im biblischen Alter von 100 Jahren gestorben war. Warum man Hitlers Lieblingsregisseurin damals wie heute echt keine Träne nachweinen sollte, zeigt Andres Veiel in der ARD-Mediathek. Riefenstahl, produziert von Sandra Maischberger, ist die brillant montierte, kunstvoll entlarvende Dekonstruktion der Legende einer NS-Karriere ohne Schwefelgeruch. Und sie sagt dabei auch noch einiges über die Schuldverdrängung des deutschen Tätervolks.
Tags drauf stellt sich Riefenstahls Gesinnungsgenosse Jan Fleischhauer ins Rampenlicht der ZDF-Mediathek. Keine Talkshow heißt eine Talkshow, in der er sich das neurechte Sturmgeschütz mit Andersdenkenden einsperren lässt. Zum Auftakt: Reyhan Şahin aka Lady Bitch Ray. Und das ist mutig. Vom ZDF. Von Fleischhauer. Von Şahin. Ob der Start in dieser Konstellation mit dem Orange Day gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu tun hat, den das Zweite parallel mit einer breiten Programmpalette begleitet, bleibt aber Spekulation.
Zwei Tage später jedenfalls geht das nächste Empowerment-Format in der ZDF-Mediathek online: House of Bellevue. Die Serie taucht sechs Teile lang fiktional in Berlins queere Partyszene ein und verschafft ihr damit nicht nur dringend nötige Sichtbarkeit. Ähnlich wie in seiner grandiosen Milieustudie Schwarze Früchte schafft es Co-Autor Leroy Lamin Gibba erneut, Abweichungen vom heteronormativem Mainstream in ihrer vollumfänglichen Alltäglichkeit zu zeigen.
Alltag anders ist auch das Thema des fabelhaften Episodenfilms I Am The Greatest, in dem Nicolai Zeitler und Marlene Bischof zeitgleich bei Arte sieben sehr gewöhnliche Menschen im Fleischwolf der Gegenwart skizzieren. Zur Vervollständigung noch zwei sehenswerte Dokumentationen: am Donnerstag porträtiert die ARD-Mediathek in ihrer Being-Reihe fünf Teile lang Katharina Witt und tags zuvor über 90 Minuten hinweg den Telegram-Gründer Pawel Durow.
Zwei polarisierende Figuren der Zeitgeschichte, die demselben System entstammen, aber sehr unterschiedlich daraus hervorgegangen sind. War noch was? Ach ja – Stranger Things geht Donnerstag ins Serienfinale – wenngleich, wie bei Großprojekten mittlerweile üblich, über drei Staffel gestreckt.
Plattformrechtsdrall & Toxic Tom
Posted: November 17, 2025 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
10. – 16. November
Der Begriff „Medium“, Altgriechisch für „das Mittlere“ wird seit langem schon für kommunikative Öffentlichkeit verwendet. Zu ihr gehören also – auch wenn es manch einem Presseverlag und Fernsehsender missfällt – Plattformen wie TikTok oder Spotify ebenso wie seit neuestem ChatGPT. Drei digitale Medien einer hochtourigen Öffentlichkeitskommunikation, die gerade mehr Aufmerksamkeit generieren, als ihren Logarithmen lieb ist.
TikTok zum Beispiel bietet auf seinem Marktplatz reichlich rechtsradikales Merchandising an, wie ein Rechercheteam der Süddeutschen Zeitung in einem Selbstversuch belegen konnte. Das Portal reagiert nicht auf Nachfragen. Spotify Niederlande wird mit rechtsextremer Musik geflutet, wie der Deutschlandfunk berichtet. Der Audio-Streamingdienst reagiert nicht auf Nachfragen. ChatGPT verletzt massenhaft Urheberrechte, wie das Münchner Landgericht urteilte. Der Chatbot geht dagegen, klar, in Berufung.
Ob die Ankündigung von Google, Milliarden in Deutschland – vor allem Berlin und München – zu investieren, eine bessere Nachricht ist, bleibt angesichts der demokratiezersetzenden Stoßrichtung von Mark Zuckerbergs Megakonzern Meta im Rücken noch zu klären. Definitiv besser ist dagegen die aus Entenhausen. Unterm Titel E-313 leitet Nr. 604 des Lustigen Taschenbuchs demnächst die Mobilitätswende ein und beginnt mit dem umgerüsteten Oldtimer von Donald Duck.
Parallel geht die Debatte um Deutungshoheit und Interpretationsspielräume der Netflix-Doku über Haftbefehl weiter. Einige fordern, sie als Schulstoff einzuführen. Andere plädieren angesichts der Selbstentblößung eines glorifizierten Drogenwracks für Warnhinweise aller Art. Und dann wäre da noch die neue Sky-Kooperation mit Sony. Sie ersetzt künftig die regelhafte Ausstrahlung aller HBO-Formate bei Wow. Wo die demnächst laufen, muss also noch geklärt werden.
Die Frischwoche
17. – 23. November
Bei startet morgen derweil die norwegische Dramaserie Toxic Tom. Wie der Titel andeutet, handelt sie von einem Incel, der in seiner Man-Cave jede freie Minute damit verbringt, Hass auf Frauen zu verbreiten. Darunter die populäre Fernsehmoderatorin. Und da, wie sagt man so schön: legt er sich mit der Falschen an. Klingt erstmal nicht ungewöhnlich. Aber was ab der zweiten von vier Episoden folgt, ist mit das Originellste, was eine Fiktion zu diesem Thema vielleicht jemals ersonnen hat.
Ebenfalls ungewöhnlich ist der israelische Achtteiler Fireflies. Ab Freitag explodieren darin bei Paramount+ rings um ein Wüstenstädtchen plötzlich Menschen. Verantwortlich dafür scheinen zwar die weiten Minenfelder des konfliktverseuchten Landes zu sein, an denen zwei Schulfreundinnen im Polizei- und Räumdienst arbeiten. Je länger die Serie dauert, desto mysteriöser werden allerdings mögliche Ursachen. Von denen endlich mal die wenigsten politischer Herkunft sind.
Ebenfalls unergründlich ist es, warum dem Abteilungsleiter eines Immobilienkonzerns bei der Präsentation einer Shoppingmall der Stuhl unterm Hintern zusammenbricht. In seiner eigenen Sky-Serie The Chair Company gerät Hauptdarsteller Tim Robinson daraufhin ins Hamsterrad irrer Verschwörungstheorien. Und wie der Comedian das ab Donnerstag spielt, ist mitunter zwar leicht overacted, aber auf sehr unterhaltsame Art entlarvend.
Das wird hoffentlich zeitgleich auch die dreiteilige ARD-Mediatheken-Doku Being Jérôme Boateng, in der das Erste versucht, dem frauenverachtenden Fußballprofi näherzukommen. Und noch ein ARD-Format, diesmal live: Tödliches Spiel, ein Krimi-Dinner mit Jan Josef Liefers und Axel Prahl als Gastgeber eines maximal prominent besetzten Esstischs, am dem es sicher drollig zugeht.
Musks Billionen & RTLs Nibelungen
Posted: November 10, 2025 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
3. – 9. November
Eine Billion. Man muss die Zahl ausziffern, um sie greifbar zu machen: 1.000.000.000.000 – zwölf Nullen also. Tesla will Elon Musk also das aktuelle Bruttoinlandsprodukt Saudi-Arabiens in Aktien auszahlen, falls der Konzern die entsprechenden Gewinne erwirtschaftet. Bis 2035 könnte sich die Summe sogar auf 2,5 Billionen Dollar steigern, was wiederum Indiens BIP entspricht.
Währenddessen dürfte Musks Online-Enzyklopädie Grokipedia, die nicht von einer Schwarm-, sondern künstlichen Intelligenz mit Informationen gefüttert wird, mit den Milliarden ihres Erfinders bald den globalen Wissenstransfer beeinflussen. Schon jetzt sortiert der KI-Chatbot Grok seine Informationen ideologisch so vor, dass rechte Inhalte überwiegen – zumindest, sofern sie wie so oft nicht stumpf vom Vorbild Wikipedia abgepaust wurden.
Dieser algorithmische Copy-and-Paste-Kapitalismus verachtet jede Form des Urheberrechts mit einer Kaltschnäuzigkeit, die Milliardäre zu Billionären macht und Politiker zu Königen. Wer daran zweifelt, muss sich nur mal Karoline Leavitts digital bestens dokumentierte Schimpftiraden ansehen, in denen die Sprecherin des US-Präsidenten Lüge an Lüge an Lüge reiht und Journalist*innen, die das in Frage stellen, zu Feinden des Volkes erklärt. Wohlgemerkt: Auf Pressekonferenzen.
Und jetzt bekam sie auch noch neue Nahrung von belogener Seite. Weil die BBC einen Beitrag über den Kapitol-Sturm am 6. Januar 2021 mindestens missverständlich geschnitten hatte, sind Generaldirektor Tim Davie und Nachrichtenchefin Deborah Turness zurückgetreten. Der Manipulationsgrad lag zwar im Promille-Bereich gewöhnlicher Trump-Lügen. Er war aber gravierend genug, um Feuer ins Öl rechtspopulistischer Angriffe auf den Pluralismus zu gießen. Und was macht das lineare Fernsehen sonst so?
Es kriegt künftig Konkurrenz von Netflix, das durch die Übernahme von Warner Bros Discovery ins klassische Filmgeschäft einsteigen will. Ähnlich wie stationäre Amazon-Shops ist das ein rückwärtsgewandter Bruch eigener Geschäftsmodelle, die es traditionellen Playern am Markt noch schwerer als ohnehin machen. Nicht zu verwechseln übrigens mit der ersten Papier-Ausgabe des Satire-Portals Postillion, das einfach nur ein drolliger Gimmick ist.
Die Frischwoche
10. – 16. November
Gewohnt saftig ist die 2. Staffel von Maxton Hall bei Prime Video, worüber wir hier ansonsten lieber schweigen. Schon, um mehr Gewicht auf Die Nibelungen bei RTL+ zu legen. Der Sechsteiler mit Jannis Niewöhner als moralisch verkommener Siegfried überrascht nicht nur durch sein exzellentes Setdesign, sondern eine angenehm unpopulistische Entschlackung germanischer Mythen.
Ebenfalls überraschend: The other gAIrl, ein sechsteiliges Komödienstadl um Tom Beck als KI-Programmierer, der sich in einen Chatbot verliebt. Weil seine Frau von Becks echter Gattin Chryssanthi Kavazi verkörpert wird, spielen sie ihre Eheprobleme in der ZDF-Mediathek verblüffend authentisch. Geradezu brillant ist derweil die Apple-Serie Pluribus von Vince Gilligan, der Reah Seehorn darin neuen Folgen lang gegen ein Glücksvirus ankämpfen lässt, das die restliche Weltbevölkerung zu einer woken Achtsamkeitsmasse macht.
Auf andere Art absolut überzeugend ist die Arte-Serie Ana & Oscar über ein spanisches Paar, dessen Hop-on-hop-off-Beziehung zehn Jahre jeweils an Silvester betrachtet wird. Weil obendrein die ARD-Historisierungen Sturm kommt auf (ARD) und Nürnberg 45 fabelhaft vom Anfang und Ende des Nationalsozialismus erzählen, hat es die aktuelle Woche schwer mit Empfehlungen.
Ein Selbstläufer ist ab Mittwoch bei Paramount+ das Finale von Yellowstone. Immerhin bemerkenswert gerät die Psychothriller-Serie The Beast in Me mit Homeland-Star Claire Danes ab Donnerstag bei Netflix. Ob das dortige Biopic Mrs Playmen über ein reales Erotik-Magazin der Siebzigerjahre ab Mittwoch was taugt, durfte man vorab nicht selber prüfen. Der ARD-Sechsteiler Stabil dockt Freitag ein bisschen zu aufdringlich am Boom verhaltensauffälliger Jugend-Medicals à la Euphoria an. Dafür erklärt uns das Erste die Ereignisse vom 13. November 2015 gerade in der klugen Doku Terror.Fußball.Paris.
Podcast Hateland: Reichsbürger & Tag X
Posted: November 4, 2025 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentWahnvorstellungen im Bundestagskeller
Der neue ARD-Podcast Hateland berichtet in seiner ersten Staffel über die Reichsbürgerbewegung zwischen Verschwörungsidiotie und Umsturzfantasie. Eine dringende Hörempfehlung.
Von Jan Freitag
Verschwörungstheorien, die ja in der Regel eher Verschwörungsidiotien sind, haben oft etwas angenehm Schrulliges, tendenziell Harmloses an sich. Wer ernstlich glaubt, die Eliten der Politik, Wirtschaft, Kultur würden das Volk mit Chemtrails oder Microchips manipulieren und währenddessen hormonell optimiert vom Adrenochrome entführter Kinder den „großen Austausch“ durch außerirdische Echsen oder andere Ausländer vorbereiten – wer solchen Irrsinn für voll nimmt, verdient also mitleidiges Lächeln statt erhöhter Aufmerksamkeit.
Normalerweise. Denn wenn sich der neue ARD-Podcast Hateland bereits nach 45 Sekunden dem absoluten Ausnahmefall nähert, klingt er frühzeitig alles andere als lustig. Anmoderiert vom Talkshow-Promi Louis Klamroth, begibt sich der investigative WDR-Reporter Martin Kaul auf die Spuren einer besonders ideologischen Verschwörungstheorie. Vor rund 15 Jahren aus dem Kellerloch des kalten Krieges ans Licht der wiedervereinigten Aufmerksamkeitsökonomie gekrochen, lehnen Reichsbürger die Bundesrepublik Deutschland inklusive all ihrer Institutionen, Vertreter und Gesetze kategorisch ab.
Das klingt, wirkt, ist alles auf seltsam senile Art realsatirisch. Aber ist es auch eine Bedrohung für Demokratie und Gesellschaft? Offenbar schon – das zeigt eine Schießerei, die der Nachbar eines gewissen Markus Leykam bei dessen Festnahme Anfang 2023 mit seinem Handy aufgenommen hat und nun Martin Kaul vorspielt. Mit einem Schnellfeuergewehr verletzte der reichsbürgerliche Revolutionär mehrere Polizisten. Und wie die Schüsse zu Beginn von Hateland durchs Treppenhaus am Rande Reutlingens hallen, wird klar: Diese Verschwörungsideologie ist weder lustig noch harmlos, sondern lebensgefährlich. Wie sehr, zeigen die sechs Folgen à 33 bis 47 Minuten danach.
Unterm Staffel-Titel „Deep State: Vom Elite-Soldaten zum Reichsbürger“ porträtieren sie vordergründig den früheren KSK-Offizier Rüdiger von Pescatore. Dessen Patriotische Union um den Operetten-Diktator Heinrich XIII. Prinz Reuß wurde sie 2022 von 3000 Polizeibeamten an 130 Einsatzorten ausgehoben. Vorwurf: Vorbereitung eines bewaffneten Umsturzes. Es war die größte Razzia gegen politische Extremisten seit RAF-Zeiten – und doch nur ein kleiner Stein im Mosaik rechter Bewegungen, die der westlichen Demokratie seit 20 Jahren den Garaus machen. Dass ihm die ARD einen Podcast widmet, der die Rechercheure von Baden-Württemberg über Berlin bis nach Brasilien führt, ist trotzdem überaus berechtigt.
Die Reichsbürgerbewegung mag schließlich ein weit verstreuter Haufen wirrer Revisionisten sein, die von 336 Bataillonen schwer bewaffneter Revolutionäre am „Tag X“ faseln, aber nicht mal genügend Munition für ordentliche Schießübungen gesammelt haben. Doch je tiefer Martin Kaul mit seinem Hund Holly im VW-Bulli ihre Strukturen freilegt, je mehr Wegbegleiter, Zeitzeugen, Ermittelnde und Sympathisanten der Journalist trifft, je mehr Informationen über Genese, Zustand, Ziele der Reichsbürgerbewegung zutage treten – desto massiver zeigt sich das „Luftschloss“, wie die Bundesanwaltschaft Prinz Reuß‘ Terrorzelle inoffiziell nennt.
Damit reiht sich Hateland ebenso erhellend wie kurzweilig, vom Tonfall her mitunter sogar fast amüsant in eine Vielzahl baugleicher Formate ein, die sich dem hochbeschleunigten Rechtsruck westlicher Demokratien widmen. Wie Khesrau Behroz im vielfach preisgekrönten Podcast Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen, konzentriert sich Martin Kaul dabei zwar auf eine Figur. Der unehrenhaft entlassene KSK-Offizier Rüdiger von Pescatore ist aber nur das militärische Schlachtross einer Umsturzbewegung, deren politischer Arm AfD parallel Zivilgesellschaft und Parlamente perforiert.
Mit der geballten Kraft des öffentlich-rechtlichen Informationsapparates im Rücken, erzählt „Deep State: Vom Elite-Soldaten zum Reichsbürger“ demnach fast vier Stunden lang unterhaltsame Verschwörungsgeschichten voller Dummheitsstolz und Wahnvorstellung, Astrologie und Außerirdischen, Zustimmung der Bevölkerung und Fantasiepanzern vor Berlin, also „ein bisschen Scheinwelt und ein bisschen Schießtraining“, wie es der Ich-Erzähler Kaul mal ausdrückt. Zum Lachen ist sein herausragender Podcast trotz aller Leichtigkeit jedoch selten. Wenn er die Frage, „wo hört Spinnerei auf, wo fängt Terrorvorbereitung an?“ damit beantwortet, wie leicht militante Reichsbürger in Bundeswehrkasernen oder Bundestagskeller vordringen, um ihre Revolution vorzubereiten, ist nämlich allerhöchste Wachsamkeit geboten. Das nächste Hateland wird zeigen, ob daraus langsam mal Alarmbereitschaft werden sollte.
Hateland · Neue Folgen – Jetzt Podcast anhören!
Friedrichs Stadtbild & LINDAS Wehrkunde
Posted: October 27, 2025 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
20. – 26. Oktober
Gibt es eigentlich auch Erwachsenen- oder nur Jugendwörter des Jahres? So oder so jedenfalls wäre Stadtbild ein adultes das crazy 2025. Oben rechts im Eck zeigt Google bei entsprechender Eingabe zwar noch Postkarten deutscher Fachwerkensembles. Darunter jedoch scrollt man sich seitenlang durch die politische Umdeutung eines eigentlich harmlosen Begriffes, den ausgerechnet das ZDF weiter zum rechtspopulistischen Popanz aufbläst.
Laut einer Umfrage des hauseigenen Politbarometers, stimmen annähernd zwei Drittel der Befragten zu, dass Flüchtlinge im Stadtbild stören. Dumm nur, dass die Erhebung gar nicht nach der rassismusanfälligen Stadtbild-Aussage des Bundeskanzlers, pardon: CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz gefragt hatte, sondern dessen Konkretisierung, er habe doch nur arbeitslose Migranten ohne Aufenthaltsstatus gemeint, also nur böse Ausländer.
Wer das angeordnet hat? Karoline Leavitt würde darauf „deine Mudder“ antworten. Also mit jener Floskel, die man in den USA gibt, wenn jemand unliebsame Fragen nach individueller Schuld stellt. Vorige Woche bügelte Donald Trumps Chefpropagandistin die Frage nach den Verantwortlichen für Ungarn als Standort eines Gipfeltreffens mit Wladimir Putin mit „Your Mother“ ab. Und was ihr daraufhin mehrere Minister nachmachten, zeigt eindrücklich, was die US-Regierung von der freien Presse hält.
Ungefähr so viel wie Pier Silvio Berlusconi. Nur Wochen nach der feindlichen Übernahme von ProSiebenSat1 hat der Chef des neuen Mutterkonzerns MFE den halben Vorstand entlassen – darunter CEO Bert Habets. Nicht, dass der ein großer Fan journalistischer Inhalte gewesen wäre. Mit seiner Entscheidung nach Gutsherrenart zeigt der älteste Sohn des neofeudalen Demokratieverächters Silvio B. allerdings schon früh, wie sehr er seinem Vater nachzueifern gedenkt.
Aber gut, darin ähnelt er Markus Söder, dem Lavinia Wilson beim Blauen Panther fka Bayerischer Fernsehpreis öffentlich die Leviten las. „Wir brauchen keine starken Männer und kein Gegockel, um erfolgreich zu sein“, sagt sie mit Blick auf den Ministerpräsidenten, dessen Name auf ihrer Siegestrophäe steht. Wer künftig noch eine davon im Regal stehen hat: Leroy Lamin Gibba (Schwarze Früchte), Marie Lina Smyreks (smypathisch) oder Pia Strietmann (Herrhausen).
Die Frischwoche
27. Oktober – 2. November
Seit fünf Jahren hat auch Thilo Mischke einen davon in der Vitrine. Jetzt ist er Teil einer Reportage-Reihe auf Pro7, die heute mit LINDA ZERVAKIS in Großbuchstaben und journalistischer Mission ihre Fortsetzung findet. Erster Einsatz um 20.15 Uhr: Under Attack, eine Reise durch die Wehrhaftigkeit der Demokratie zwischen Trump und Putin. Parallel geht das ZDF in seiner Mediathek auf die Suche nach dem Orgasmus-Gap von Mann und Frau, bevor es Samstag das Teenstar-Dilemma der gereiften Internet-Gören Die Lochis beleuchtet.
Hochinteressant könnte zeitgleich der ARD-Dokudreiteiler RuhrBeat um die Anfänge des HipHop in Westdeutschland sein. Noch interessanter sind allerdings die Fiktionen der Woche, angefangen mit dem Serien-Prequel von Steven Kings Horrorclown Es: Welcome to Derry. Ziemlich unverdaulicher Body-Horror, der gewiss sein Publikum findet, dramaturgisch aber eher belanglos ist. Ähnliches gilt für die Magenta-Serie Talamasca mit Elizabeth McGovern als Leiterin eines magischen Geheimzirkels zivilisierter Hexen, ab heute bei MagentaTV.
Aufsehenerregend ist dagegen der neue Netflix-Film von Edward Berger. In der Roman-Adaption Ballad of a Small Player begleitet er Colin Farrell als Spielsüchtigen durch Macao, was der Oscar-Gewinner so wuchtig in Szene setzt, dass die aufgeblasene Melodramatik nicht weiter stört. Zumindest herausragend besetzt ist derweil die Apple-Serie Down Cemetry Road mit Emma Thompson als Privatdetektivin Zoë, die mit Ruth Wilson eine Verschwörung aufdeckt.
Hegseths Maulkorb & Breuers Schattenseite
Posted: October 20, 2025 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
13. – 19. Oktober
Wie sehr liberale Medien selbst in Demokratien massiv unter Beschuss sind, lässt sich nahezu nirgends besser beobachten als in der angehenden Autokratie USA. Ihre Resilienz allerdings ebenso. Als bis aufs Trump-Fanzine OANN alle akkreditierten Verlage und Agenturen den militärpublizistischen Maulkorb des neuen Kriegsministers Pete Hegseth verweigert und kollektiv das Pentagon verlassen haben, machte zumindest ihre gemeinsame Haltung Mut auf Besserung.
Dazu gibt ansonsten nämlich relativ wenig Anlass. Das wahre Sturmgeschütz der Demokratie – die taz – ist Samstag letztmals auf Papier erschienen und kämpft nun noch mehr ums Überleben. Jan Böhmermann trifft sich mit Wolfram Weimer zum Streitgespräch über Rechtsruck, Antisemitismus, solche Sachen. Aber irgendwie schaffen es nicht mal diese Hyperintellektuellen irgendwo im Graubereich ihrer ideologischen Randgebiete Diskussionsstoff zu finden.
Währenddessen geriet auch der Grimme Online Awards zwischen unverrückbare Fronten: Hans Block und Moritz Riesewieck, prämiert für ihr multimediales Doku-Format Eternal You, gaben ihren Preis in der Sonderkategorie KI zurück. Grund: der Vorstand des zuständigen Grimme-Fördervereins hatte der Menschenrechtsaktivistin Judith Scheytt zuvor den Donnepp Media Award aberkannt, weil ihre Kritik an der Berichterstattung über den Gaza-Krieg antisemitisch gewesen sei.
Ob die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Klage einer Frau gegen den Rundfunkbeitrag negative Folgen für die Öffentlich-Rechtlichen, als Demokratie und Pluralismus hat, bleibt zunächst offen. Grundsätzlich sei eine Zahlungsverweigerung nämlich dann denkbar, wenn ARD, ZDF und Deutschlandfunk „flächendeckend“ unausgewogene Berichterstattung nachgewiesen werden könnten. Ein schier unbelegbarer Vorwurf, den die Wutmeute der AfD dennoch fleißig erheben und damit Gerichte blockieren wird.
Für Entlastung hätten da die Werbespots der Deutsch Bahn mit Anke Engelke liefern können. Selbstironie ist schließlich ein achtbarer Weg der Reflexion. Nur – was folgt aus der plumpen Zurschaustellung betriebsbedingter Störungen vom kaputten Klo bis zum ausgefallenen Zug? Ohne Besserungsangebote leider gar nichts. Wir gratulieren der Schwarzwaldklinik an dieser Stelle also auch deshalb zum 40. Geburtstag, weil 1985 wenigsten noch gelegentlich Fernsehen mit Haltung gemacht wurde.
Die Frischwoche
20. – 26. Oktober
Die es allerdings auch vier Jahrzehnte später durchaus gibt, sofern man nur sorgsam sucht. In der ARD-Mediathek zum Beispiel, wo der Sechsteiler Schattenseite zurzeit ein hochintensives Porträt der GenZ zwischen Dauerkrise, Cybermobbing und Aufmerksamkeitsökonomie mit Samira Breuer (KRANK) als Schulwechslerin im digital-analogen Fegefeuer der Jugend zeichnet. Zu Arte.tv muss hingegen wechseln, wer Lust auf Politainment hat.
The Deal heißt das frankophone Reenactment des iranisch-amerikanischen Atomabkommens vor acht Jahren und schafft es, diplomatische Höflichkeit und Hinterzimmer-Chaos sechst Teile lang so unterhaltsam wie lehrreich zu verknüpfen. Aspekte, die der neue ZDF-Urlaubskrimi Weiss und Morales um ein deutsch-spanisches Ermittlerteam eher in landestypischen Klischees ertränkt. Einfach nur fürchterlich, weil lieblos zusammengestückelt, ist die ZDF-Serie Schlechte Menschen über eine – bruha – Behörde im Vorzimmer der Hölle, die darüber entscheidet, wer hochfährt, wer hinunter.
Auweia.
Das gilt auch für die deutsche Gaga-Anime-Serie Taks Force Querlitz ab Freitag in der ZDF-Mediathek, bei der man schlicht das Storytelling vergessen hat. Dann doch lieber die originelle Neo-Serie Hysteria! Um eine Metal-Band, die den amerikanischen Satanismus-Hype Anfang der Achtziger zur Eigen-PR nutzen will – und buchstäblich die Geister trifft, die man rief. Noch mysteriöser ist zeitgleich die ZDF-Serie Moresnet mit Leonie Benesch als Opfer seltsamer Prophezeiungen aus belgischer Vergangenheit. Und A House of Dynamite ist parallel bei Netflix schon deshalb sehenswert, weil der Politthriller von Oscar-Gewinnerin Kathrin Bigelow stammt.
Monster: Real Crime & Ed Gein
Posted: October 13, 2025 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentMumien, Menschen, Mutationen
Die 3. Staffel der gewohnt voyeuristischen, ungeheuer grausamen True-Crime-Serie Monster porträtiert den schizophrenen Serienkiller Ed Gein. Allerdings nicht nur ihn. Es erklärt damit auch ein Stück weit Hollywood – und uns alle ein bisschen mit. Das zeigt sich schon darin, dass The Story of Ed Gein seit Wochen weltweit die Netflix-Charts anführt
Von Jan Freitag
Monster haben etwas Bedrohliches, aber auch Tröstliches. Wenn der Mensch andere dazu erklärt, muss er sich nicht tiefer damit befassen, was es mit ihm selbst zu tun hat. Deshalb sind Monster auch auf Leinwand und Bildschirm gern das anormale, abweichende vom humanistischen Standard. Als der NDR 1967 mit Mumien, Monstren, Mutationen das Fürchten lehrte, krochen daher fortan fast nur Vampire, Zombies, Untiere und Aliens aus der dunklen Wildnis ins zivilisatorische Licht. Mal abgesehen vom monströsen Ausnahmefall mit menschlichem Antlitz: Norman Bates.
Als Alfred Hitchcock Robert Blochs Romanvorlage Psycho 1960 zum Blockbuster drehte, stieg der schizophrene Killer nicht nur zur Hollywoodikone auf. Das Böse kroch buchstäblich aus dem Keller des vermeintlich Guten ins Dachgeschoss. „Frankenstein oder Phantom der Oper reichen nicht mehr“, erklärt Hitchcock dem Autor seine Kino-Revolution jetzt bei Netflix. „Die Leute haben ein neues Monster entdeckt, und dieses Monster sind wir.“ Was viele allerdings nicht wissen: Das Monster, von dem der weltberühmte Regisseur da fiktional spricht, hat ein reales Vorbild.
Ed Gein.
In den Fünfzigerjahren beging der Farmer aus Wisconsin mindestens drei Morde und obendrein zahllose Schändungen ausgebuddelter Leichen. Dafür kam er nicht nur lebenslang in die Psychiatrie; sein Fall dient der Popkultur bis heute als Prototyp des triebhaften Ritualmörders. „Das Schweigen der Lämmer“ wurde davon ebenso inspiriert wie „Texas Chainsaw Massacre“. Und jetzt eben: The Story of Ed Gein. Nach Dahmer und den Mendenez-Brüdern ist es der nächste Verbrecher, den Netflix im Rahmen einer täterfixierten, wie üblich leicht voyeuristischen Real-Crime-Serie als Monster etikettiert. Und das ist gleich doppelt bedenklich.
Zum einen setzt sich der Achtteiler dem Vorwurf der Retraumatisierung Überlebender und Hinterbliebener aus. Zum anderen strapaziert die explizite Bestialität des Gezeigten nicht nur den Jugendschutz; ihre Verschiebung ins Monströse banalisiert das Böse auch als Gruseleffekt abseits des Alltäglichen. Die Ed Gein Story könnte (und wird) demnach polarisieren wie die ersten zwei Staffeln oder das deutsche Prime-Pendent Gefesselt mit Oliver Masucci als „Säurefassmörder“ Raik Doormann alias Lutz Reinstrom. Doch Ian Brennan befreit sich originell aus der Zwickmühle inszenatorisch brillanten, aber moralisch bedenklichen Horrors.
Mit seinem Co-Regisseur Max Winkler erzählt der Showrunner nicht nur die Lebensgeschichte des wirkmächtigsten Serienkillers der Kinogeschichte; er führt ein Selbstgespräch mit seiner eigenen Branche. Als Muttersöhnchen der tiefreligiösen, herrschsüchtigen Augusta Gein (Laurie Metcalf) bleibt Ed (Charlie Hunnam) zwar die Hauptfigur; parallel bevölkert sie als Randfigur jedoch wichtige Stationen seines cineastischen Einflusses und zeigt, wieso Hollywood die Täter liebt, aber nicht ihre Opfer.
Als der psychisch labile Anthony Perkins (Joey Pollari) am Set von Psycho sagt, „du darfst die Leute nicht dazu bringen, so was zu sehen“, antwortet ihm der unsichtbare Ed Gein folglich „dabei kannst du doch nicht wegsehen“. Damit kommentiert Ian Brennan den eigenen Torture Porn mit Selbstkritik daran. So wird Monster 3 gewissermaßen zur diskursiven Meditation über die eigene Existenzberechtigung und damit letztlich gehaltvoller als ihre zwei Vorgänger. Dass Winkler dabei ein wenig zu oft Szenen von unzumutbarer Grausamkeit fixiert und dann auch noch einen Erzählstrang um die sadistische KZ-Aufseherin Ilse – The Bitch of Buchenwald (Vicky Krieps) erfindet, tut dieser Streitkultur keinen Abbruch.
Im Gegenteil. Es skizziert eindrücklich, wieso Ed Gein regelmäßig in zwei Persönlichkeiten zerfällt, von denen eine von Herzen gut ist, die andere abgrundtief böse und beide gemeinsam Grundlage Dutzender Fiktionen um das vielleicht spannendste Einzelphänomen im Trend-Genre Real Crime. Dass barbarische Täter darin seit jeher die größte Anziehungskraft ausüben, teilt es übrigens mit TikTok oder Facebook. Deren Algorithmen verbreiten Hass und Hetze ja auch stärker als Toleranz und Argumente. Ed Gein oder Alfred Hitchcock sind so gesehen nur Variationen von Anders Brejvik oder Maximilian Krah.
Als Tobe Hooper 1973 erklärt, warum Ed Geins Geschichte Teile seines Horror-Klassikers in spe The Texas Chainsaw Massacre beeinflusst haben, sagt der Regisseur: „Ich mache keinen Film, den dieses Land will, ich mache einen Film, den dieses Land verdient.“ Besser ließe sich kaum erklären, warum Netflix seine vielen Monster im Real-Crime-Genre so mag: es sind halt einfach Menschen.
Böhmis Line-up & RTLs Spin-Off
Posted: October 6, 2025 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
29. September – 5. Oktober
Es ist in den Tagen nach Pete Hegseths Sportpalastrede (ohne Applaus) und Jimmy Kimmels Talkshowrückkehr (mit Rekordquote) nicht so einfach, bundesdeutsche Fernsehbefindlichkeiten sonderlich ernst zu nehmen. Aber sie sind es – davon weiß Jan Böhmermann, dem das ZDF passend zum derzeitigen Druck auf politisch anstrengende Komiker die Sendezeit kürzen will, gerade ein Lied zu singen. Seit mehr als zehn Jahren teilt der Polizistensohn gegen alles aus, was er außerhalb seines eigenen, relativ engen Meinungskorridors verortet.
Das macht angreifbar. Und wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Pointen werfen. Der Cancelshitstorm, durch den er sich gerade kämpft, sagt jedoch mehr über die Gesellschaft, in der wir uns unterhalten lassen, als ihren aktuell wirkmächtigsten Entertainer aus. Weil der ideologisch bislang eher unauffällige Chefket blöd genug war, ein Trikot mit Palästina ohne Israel drauf zu tragen, sprang Kulturstaatsminister Wolfram Weimer mit Jens Spahn übers populistische Stöckchen und forderte Böhmermann auf, den Rapper von einem Konzert zum 2. Jahrestag des Hamas-Massakers am 7. Oktober auszuladen, das Böhmermann im Rahmen seiner Ausstellung Die Möglichkeit der Unvernunft organisiert.
Darauf tat unsere Erregungsökonomie, wir ihr getriggert, und drängte – nein, nicht zur inhaltlichen Debatte, sondern das restliche Line-up von Wa22ermann bis Blumengarten, solidarisch abzusagen. Zensur! schallte es da aus allen Foren. Ein drolliger Vorwurf. Kritik an Netanjahus Krieg trennscharf von Antisemitismus zu unterscheiden, traut sich heutzutage ja nicht mal mehr akademisches Fachpersonal. Aber dass Böhmermann ausgerechnet kulturpolitischen Rechtsauslegern gehorcht, ist schon auch von bedenklicher Rückgratlosigkeit.
Gut, dass sich die Branche mit ihm solidarisiert und … ach nee – außer Qualitätsfeuilletons diskutiert niemand aus Böhmermanns Branche sachlich mit. Auch nicht Louis Klamroth, der dem Vernehmen nach lieber „mit neuen, innovativen Formaten den politischen Diskurs weiterentwickeln“ will, um der ARD „jüngere Zielgruppen“ zu erschließen, „die klassisches Fernsehen nicht mehr nutzen“. Tja, Louis – die suchten lieber TikTok. Jenen Messenger also, den mit Larry Ellison gerade der nächste Trump-Vasall übernimmt.
Die Frischwoche
6. – 12. Oktober
Dazu drängt sich ein Zitat des Horror-Regisseurs Tobe Hooper in der Netflix-Serie Monster auf: „Ich mache keinen Film, den dieses Land will. Ich mache einen Film, den dieses Land verdient.“ Er spricht vom Texas Chainsaw Massacre. Ein Kettensägen-Gemetzel von expliziter Bestialität, dessen Vorbild der schizophrene Serienmörder Ed Gein war, dem wiederum die dritte Staffel der Biopic-Reihe gewidmet ist. Wobei sie mehr als Dahmer oder Lyle und Eric Menendez über Hollywood, Real Crime, uns alle zu sagen hat.
Ebenfalls schon auf Sendung: Die ARD-Serie Naked mit Svenja Jung als Co-Abhängige des sexsüchtigen Noah Saavedra, deren toxische Obsession bis zur Belastungsgrenze obsessiv ins Bild gesetzt wurde. Dazu Euphorie, deutsches Spin-Off der nahezu gleichnamigen, aber nicht identischen Highschool-Legende. Was Headautor Jonas Lindt auf RTL+ aus dem israelischen Original über die selbstzerstörerische GenZ macht ist aber nicht nur eigensinnig, sondern herausragend.
Dieses Niveau kann Hundertdreizehn nicht ganz erreichen. Das sechsteilige Experiment um die Zahl von 113 mittelbar Betroffenen jedes tödlichen Verkehrsunfalls ist ab Freitag in der ARD-Mediathek zwar gut geschrieben, gespielt, inszeniert. Leider setzt es die statistische Disposition statistisch unter Druck einer verlustreichen Massenkarambolage und erhöht ihn obendrein durch die Who-Dunnit-Dramaturgie im Anthology-Format. Ein bisschen mehr Understatement hätte ihm gutgetan. Die Kernkompetenz von 7 vs. Wild gewissermaßen.
Die Teilnehmer des 5. Real-Life-Abenteuers verschlägt es Dienstag erstmals bei Prime an den Amazonas. Und wieder dürfte ihm die Reduktion aufs Wesentliche zu hoher Güte verhelfen. Das gilt auch für den ARD-Mittwochsfilm Nichte des Polizisten, der das NSU-Opfer Michelle Kiesewetter extrem präzise porträtiert. Und sonst? Netflix rückt tags drauf Victoria Beckham ins eigene Rampenlicht. Disney+ startet zeitgleich die Mystery-Serie Playing Gracy Darling und Paramount+ 24 Stunden später den zehnteiligen Knast-Thriller Remnick aus dem Gefrierschrank Alaska.
Disneys Diktator & Apples Savant
Posted: September 22, 2025 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
15. – 21. September
Wer weiß eigentlich noch, wo ihr/ihm der Kopf steht in dieser buchstäblich verrückten Zeit? Rein anatomisch auf den Schultern, schon klar. Medienpolitisch dagegen wird er mittlerweile so durchgeschüttelt, dass zusehends weniger seriöse Information hineingelangt. Gehaltvolles Politainment zum Beispiel, das in den USA nur noch wenige Late-Night-Shows gewährleisten. Bis Donnerstag. Da hat die ABC auf Geheiß von Disney-CEO Bob Iger persönlich den Talk-Host Jimmy Kimmel suspendiert.
Dabei hatte er Charlie Kirk noch nicht mal kritisiert. Aber wer dem chauvinistischen Fundi, nach deutscher Lesart ein Neonazi, nicht bedingungslos huldigt, betreibt in den USA 2025 geradezu Gotteslästerung. Wobei sie die rechte Cancel Culture nur oberflächlich begründet. Liberale Stimmen abzuschalten ist Teil einer totalitären Agenda, der nach Colbert und Kimmel demnächst auch Fallon und Meyers zum Opfer fallen. Daran lässt Trumps Zensor Brenden Carr keinen Zweifel.
Selbst Elmar Theveßen ist wegen zweier eher banaler Fehler seiner Berichterstattung über Kirk ins MAGA-Fadenkreuz geraten. Während journalistische Visa von fünf Jahren auf acht Monate verkürzt werden sollen, droht dem ZDF-Korrespondenten die Ausweisung. Und dass der US-Präsident parallel die NYT auf 15 Milliarden Dollar Schadensersatz wegen was auch immer verklagt, erweitert seinen Rachefeldzug auf den Print-Bereich. Immerhin hat ein Bundegericht entschieden, dass die Klage unzulässig sei. Amerika 2025.
Wobei niemand denken sollte, in Deutschland sei alles besser. Dass sich Dunja Hayali infolge radikalisierter Shitstorms gegen grundsoliden Journalismus zeitweise vom Bildschirm zurückzieht, lässt Schreckliches befürchten. Daran ändert wenig, dass der NDR Julia Ruhs als Klar-Moderatorin durchs Bild-Gewächs Tanit Koch ersetzt. Der BR hält hingegen an der politisch, vor allem aber journalistisch umstrittene Rechtsauslegerin fest.
Angesichts der globalen Gefahr, in den Autoritarismus zurückgefallen, fällt es schwer, das Tagesgeschäft zu beleuchten. Aber dass Adolescense acht Emmys abräumen konnte, wirft eigentlich nur eine Frage auf: warum hat Hauptdarsteller Owen Cooper den Preis als Nebendarsteller bekommen? Und damit zu RTL: hättet ihr statt einer Dauerwerbesendung mit Stefan Raab nicht einfach so 15 Minuten Reklame täglich fürs Kanu des Manitou machen können? Das hätte der Menschheit einiges erspart.
Die Frischtwoche
22. – 28. September
Womöglich sogar das Langformat der Stefan Raab Show am Mittwoch, die den Showmaster hoffentlich schnell aufs wohlverdiente Altenteil befördert. Er hatte seine Zeit. Sie ist lang vorbei. Stefan, bitte geh! Es gibt so viel Besseres zu sehen. Theoretisch sogar bei Disney+, von dessen Finanzierung durch Abos wir an dieser Stelle hier allerdings abraten – opfert der Konzern durch Jimmy Kimmels Absetzung auf dem Altar des Entertainments doch die Demokratie. Shame on you!
Aber es gibt ja Alternativen. Arte zum Beispiel, das dem Großregisseur Werner Herzog ab heute mit dem KI-Experiment About A Hero huldigt und Dienstag die wirkmächtige Doku Missbrauch in der Welt der Online-Spiele der Beetz-Brüder zeigt. Oder das Erste, dessen Mediathek sich am Donnerstag an einer Reality-Gameshow namens Werwölfe versucht und tags drauf im französischen Sechsteiler Sea Shadows einen Umwelt-Thriller mit Mystery andickt. Oder das ZDF, wo The Pain Killers parallel die Machenschaften der Pharma-Industrie acht fiktionale Folgen lang auf niederländische Unternehmer ausweitet.
Selbst Amazon Prime, das auch nicht unbedingt für Demokratie und Pluralismus steht, in Jeff Bezos aber einen Herrscher hat, der seine Washington Post vorerst nicht freiwillig vom Markt nimmt, darf man an dieser Stelle empfehlen. Dort startet am Mittwoch Hotel Costiera, eine Action-Variante von The White Lotus, bevor The Summit 7 vs. Wild mit richtigen Promis auf Neuseeland ausweitet.
All dies aber steht im Schatten der besten Serie dieser abermals schrecklichen Woche: The Savant, ein bedrückend brillanter AppleTV+-Thriller, der die USA am Rand des Bürgerkriegs in Gestalt einer IT-Agentin (Jessica Chastain) illustriert, die sich in rechte Chatrooms hackt. Fantastisches Politainment – das bei Disney+ künftig kaum noch laufen dürfte, so wenig wie es Donald Trump huldigt.