Kraftklub, Siriusmo, Felix Raphael

Kraftklub

Ach Kraftklub, du alte Powerpop-Muckibude – deiner linksbombastischen Energie verzeiht man doch echt jeden Einrichtungspatzer. Das erste Stück deiner neuen Platte zum Beispiel, die fünfte, obwohl man das Gefühl hat, es müssten schon mindestens doppelt so viele sein: Mit Domiziana will  Felix Brummer aka Kummer darin “Unsterblich sein” und klingt ein bisschen wie Nina Chuba auf Pep. Was uns das sagt? Sterben in Karl-Marx-Stadt nimmt sich alle Freiheiten einer unantastbaren Band.

Denn das, was darauf folgt, ist eine Art hauseigenes Glossar von allem, was sie zur vielleicht wichtigsten deutscher Partypolitik macht. Besonders, wenn sie von Deichkind beschleunigt “Auf einer Handvoll Pilzen im Dschungel” unterwegs ist und auch sonst Kummers eigensinniges HipHop-Geshoute mit technoidem Stadionrock mischt. Ach ja – und Nina Chuba wurde in Fallen in Liebe dann auch noch wirklich ganz ohne Aufputschdrogen dazu geladen. Auch geil. Alles geil.

Kraftklub – Sterben in Karl-Marx-Stadt (Eklat Tonträger)

Siriusmo

Auch geil, alles geil, weil noch vielschichtiger, ach was: vollschichtiger, ist das, was der Berliner Produzent Moritz Friedrich als Siriusmo auf Tonträger stapelt. Buletten und Blumen heißt sein viertes Album. Und es ist so derartig gestopft mit discotauglichem Soundgewusel in drei Dutzend Stilrichtungen einer so babelhaften Sprachvielfalt, dass man aus dem Staunen kaum rauskommt. Schon auch alles bisschen Deichkind-weird.

Aber mit deutlich weniger Four-to-the-Floor-Überwältigungsgestus. Dafür verliert sich die Platte viel zu oft im ataridigitalen Klein-Klein dadaistischer Samples und Synths. Nur, dass sie halt jederzeit vom funky Grundbeat wiedervereinigt werden, mehr noch: blühende Landschaften audiophiler Experimentierfreude hinterlassen, die unsere Zivilisation grad dringend benötigt, um darin ab und an etwas Energie zu tanken. Bisschen wie Deichkind auf Keta. Ohne Nina Chuba. Auch okay.

Sirusmo – Buletten und Blumen (Monkeytown Records)

Felix Raphael

Und noch so ein ein alter junger Hase der elektronischen Berliner Fundgrube voll von allem, was man künstlich erzeugen, aber analog verbreiten kann: Felix Raphael. Seit Jahren schon mischt er House mit instrumenteller Haptik, die bis Flügelhorn reichen kann. Und dabei gelingt ihm erneut das Kunststück, melodramatisch, fast pathetisch zu klingen und dennoch irgendwie weltlich verspielt. Alles also, wofür sein Label PIAS steht.

Dass DO YOU eine Art psychotherapeutische Selbstbespiegelung als popkultureller Sozialarbeiter, also sehr persönlich ist, hört man den meisten der 16 Stücke dabei zwar durchaus an. Unter seiner fragilen Glasstimme drängt es sich aber nie komplett in den Vordergrund. Dafür sorgt schon ein stabiles Durchschnittstempo handgestoppter 100bpm, die jede Trägheit vertreiben. Mit stabiler Anlage bewegt DOU YOU daher nicht nur Herzen, sondern Dancefloors.

Felix Raphael – DO YOU (PIAS)


Susan Sideropoulos: GZSZ & My Style

Offene Türen und offene Herzen

Das GZSZ-Gewächs Susann Sideropoulos (Foto: Frank Dicks/ZDF) macht seit jeher leichte Unterhaltung. Wie ihre ZDF-Makeover-Show That’s My Style. Das täuscht allerdings darüber hinweg, wie engagiert die Enkelin jüdischer NS-Opfer gesellschaftspolitisch ist.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Susan Sideropoulos, in That’s My Style helfen Sie Frauen beim Makeover, also der Suche nach einem neuen Kleidungsstil.

Susan Sideropoulos: Mehr noch, anders als anderswo kommen unsere Kandidatinnen mit eigenem Budget und einer Herausforderung im Gepäck. Grad stark abgenommen zu haben etwa oder ausschließlich schwarz zu tragen. Während ich sie wie Freundinnen an die Hand nehme, schauen meine Stylisten daher nicht nur auf den Look, sondern die Persönlichkeit, mit der sie sich im Vorfeld intensiv auseinandergesetzt haben. Es geht also in erster Linie um den Menschen und erst in zweiter um seinen Style.

Als Schauspielerin, Moderatorin, Entertainerin sind Sie es beruflich gewöhnt, dass andere Ihren Look gestalten. Würden Sie das auch privat zulassen?

Im Prinzip schon, denn es geht dabei um Expertise. Wenn jemand fachlich dazu in der Lage ist, meinen Look mitzugestalten, das also professionell oder aus Überzeugung machen, nehme ich es doch dankbar an.

Andererseits ist doch gerade der eigene Stil in unserer Selbstoptimierungsgesellschaft so sehr Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, dass man ihn sich umso lieber selbst gestaltet.

Vielleicht. Aber gerade, weil uns diese Selbstoptimierungsgesellschaft so viel abverlangt, ist es doch völlig legitim, damit überfordert zu sein und wie unsere Kandidatinnen Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Ansonsten hätten sie sich ja nicht auf diese Sendung beworben. Wobei wir bei unserer Auswahl auch darauf geachtet haben, alle Altersgruppen, Konfektionsgrößen, Herkunftsgeschichten dabei zu haben.

Andererseits werden hier wieder mal Frauen meist von Männern gestaltet. Sagt Ihnen der Begriff „Male Gaze“ etwas?

Noch nicht.

Die weibliche Darstellung in Kunst, Kultur, Medien aus männlicher, meist heteronormativer Perspektive. Hier jedenfalls stylen gleich zu Beginn zwei Männer eine Frau um…

Da empfehle ich, dass wir uns mal komplett vom Gedanken verabschieden, ob es nun Männer oder Frauen sind, die Männer oder Frauen stylen. Das sind in erster Linie Menschen, die sich mit Liebe und Leidenschaft für ihren Job engagieren. Ich habe mir in 25 Jahren Berufserfahrung noch nie darüber Gedanken gemacht, wer mich anzieht – zumal es überwiegend Frauen waren.

Aber nur, weil es für Sie persönlich keine Rolle spielt, könnte es ja gesellschaftlich eine spielen…

Aber das ständig zu thematisieren, vertieft doch seinerseits eine Spaltung, die es eigentlich beseitigen will. Dürfen Männer jetzt keine Frauen mehr anziehen? Das ist doch lächerlich.

Das dürfen sie natürlich auch weiterhin, aber ein paar mehr sichtbare Frauen in der Branche wären vielleicht nicht nur in der männerdominierten Haute Couture gut.

Absolut, doch ich sehe die Entwicklung da sehr zuversichtlich.

Okay. Wir reden hier ja auch vom Nachmittagsprogramm, in dem große gesellschaftspolitische Fragen eher selten diskutiert werden.

Absolut. Wir brauchen auch leichte Unterhaltung, die uns emotional berührt und einfach Spaß macht.

Ein Feld, auf dem Sie sich seit Ihrem Karrierebeginn bei Gute Zeiten, schlechte Zeiten 2001 bereits bewegen. Sind Sie zufrieden damit, eher in Vorabendformaten als Problemfilmen ab acht vorzukommen?

Total. Als Schauspielerin liebe ich einfach Komödien, obwohl ich auch Drama und Krimi gedreht habe. Doch die leichte Unterhaltung und Komödie liegt mir einfach und ist ein angenehmes Pendent zu meiner zweiten Existenz. Ich verbringe mittlerweile mindestens die Hälfte des Lebens mit gesellschaftskritischen Themen, engagiere mich sozial, habe verschiedene Dokus moderiert, eine Coaching-Ausbildung absolviert, zwei Bestseller geschrieben und das dritte Buch erscheint diesen Monat.

Und vieles davon hat mit ihrer Familiengeschichte als Enkelin jüdischer Holocaust-Opfer zu tun.

Auch. Ich sehe mich da zwar weder als echte Aktivistin noch Stimme der jüdischen Community an; das möchte ich schon deshalb nicht sein, weil jeder einen eigenen Blick auf die Dinge hat. Was mir aber wichtig ist, sind offene Türen und offene Herzen. Dafür betreibe ich Aufklärung über jüdische Traditionen und jüdisches Leben. Um Vorurteile abzubauen, versuche ich, die Reichweite von Social Media sinnvoll zu nutzen.

Sie sind allerdings eher kulturell als religiös praktizierende Jüdin, oder?

Nennen wir es traditionell praktizierend. Ich bin nicht streng religiös aufgewachsen, wir feiern freitags zuhause aber Shabat und auch sonst alle jüdischen Festtage. Meine Kinder hatten grad ihre Bar Mizwa, ich wurde jüdisch getraut. All so was ist mir wichtig. 

Und womöglich noch wichtiger seit dem Massaker vom 7. Oktober 2023 und der antisemitischen Welle, die seither über der Welt bricht?

Weil ich mir jetzt – schon aus Selbstschutz – nicht andauernd alles Leid der Welt vor Augen halte, hatte das auf meinen realen Alltag wenig spürbaren Einfluss. Obwohl es natürlich allgegenwärtig ist. Ich möchte meine Energie und Kraft auf die Dinge verwenden, auf die ich echten Einfluss habe. Meiner Meinung nach ist der Großteil der Menschen eigentlich gut. Dass die Minderheit einfach nur wahnsinnig laut ist, soll nicht mein Leben bestimmen. Ich verändere, was in meiner Macht steht, und akzeptiere, was nicht in meiner Macht steht.

Würden Sie diese Macht, besser: den Einfluss denn gern mal dazu nutzen, ihre Haltung in einer Fiktion über die Shoah zum Ausdruck zu bringen?

Total gerne. Solche Filme, generell historisch zu drehen – das reizt mich sehr und fehlt auch noch auf meiner Liste. Wenn es auf mich zukommt, würde ich diese Erfahrung auch emotional gerne mal machen.

Dann hoffen wir mal, dass ein paar Produzenten dieses Interview lesen.

Bitte!

That’s My Style, 6×45 Minuten, ab 15. Juni, 14.55 Uhr, im ZDF, ab 13. Juni, Mediathek


Pachyman, Pressyes, Pan Amsterdam

Pachyman

Dub, Reggae, Dancehall, Offbeat – für Onbeat-Fans generell ein schwieriges Terrain. Es sei denn, man beackert es so kreativ, ja experimentell wie Pachy Garcia. Unterm Nom de Guerre Pachyman lotet der gebürtige Puerto Ricaner seit Jahren schon in Los Angelos die Grenzen seiner karibischen Klangwelten aus und durchlöchert sie mit Soul, Jazz, Kraut, Rock, Drum‘n‘Bass, bis daraus etwas ganz Eigenes wird.

Auf das fünfte Album Another Place zum Beispiel eine Art sedativen Südsee-House, der mithilfe fließender Gitarren und halluzinogener Orgeln durchs warme Meer fließt wie Pilze durch Blutbahnen. Viel Percussion, wenig Akkorde, keine Vocals ständiges Mäandern am Rand der Disharmonie: Das macht die Platte zu einer sinnlichen Grenzerfahrung des alternativen Flowerpowers. Und selbst für Offbeat-Allergiker hörbar.

Pachyman – Another Place (May 23)

Pressyes

Noch ein, zwei Schippen Humus drauf ins äquatoriale Blumenbeet schippt René Mühlberger. Der Wiener Gitarrist, einst strikt dem Sixties-Sound verhaftet, reitet auf seiner dritten Platte Sundrops! einmal mehr die Wellen des Golf von Mexiko (Mexiko!). Seine Surfboards: Tiefenentspannte Family-of-the-Year-Gesänge, Marimbas und Steeldrums, dazu mal krautig verworrene, mal gallertartig zähe Gitarren und sehr wenig Anstrengung.

Das ist in der Regel dieser 14 neuen Songs eher selten was für Math-Rocker und Akkorde-Rechner; seine Sundrops! wollen genau so sein wie die Single-Auskopplung Waves of Joy: Sonnenstühle, auf denen die Komplexität der Gegenwart zerfließt wie Sonnenöl im Sand. Umso origineller, dass er die simplizistische Androgynität hin und wieder mit breitbeiniger Macker-Pose aufmotzt. Als Gesamtpaket: wie ein Yoga-Retreat im Probekeller.

Pressyes – Sundrops! (Kitsuné Records)

Pan American

Und bitte – als wäre heut karibische Nacht: Wie lässig kann denn bitte hochpolitischer HipHop nach Strandausflug klingen?! Bei Leron Thomas aka Pan Amsterdam vollumfänglich. Wenn der texanische New Yorker auf seiner neuen Platte rappt: “Livin more vicariously than a white girl through her mixed baby / Don’t believe in scarcity so don’t try to under pay me / Tell an Uncle Tom chicken and gravy / For the team so don’t try to trade me”, steckt darin mehr PoC-Realität als sein Flow verrät.

Aufgewachsen im Trump-Territorium Houston, mixt er wie gewohnt elegante Jazztrompeten und eiernden Laid-Back-Pop unter seine sanft zerwühlten Raps voller KKK und N****z, dass man beides nur mit etwas Mühe zusammenkriegt. Dann aber entfaltet Confines, was die ersten vier Alben gezeigt haben: leibhaftig instrumentierten Producer-HipHop, der schwer nach Band klingt und damit weiter ausholt als im Genre üblich.

Pan Amsterdam – Confines (Heavenly Recordings)


Anja Huwe: Xmal Deutschland & Reissue

Wir waren einfach Freundinnen

Anfang der 80er, die Bühne war Männerterrain, schaffte es eine Frauenband aus Hamburg mit vier Platten zu ein bisschen Weltruhm: Xmal Deutschland. Mehr als 40 Jahre später legt Sängerin Anja Huwe (vo., Kevin Cummins) zwei ihrer vier Platten neu auf und geht damit auf Tour. Ein Gespräch mit der 66-jährigen Künstlerin über farblosen Wave, weibliche Role Models und was ihre Malerei mit dem Sound von damals zu tun hat.

Anja Huwe, Xmal Deutschland klangen Mitte der 80er angenehm, vor allem aber angemessen düster für die damalige Zeit. Trifft das 40 Jahre später ebenso zu?

Anja Huwe: Witzigerweise habe ich die alten Sachen über lange Zeit gar nicht gehört. Warum soll ich auch meine eigenen Platten auflegen? Manuela…

Bis 1988 eure Gitarristin…

…meinte irgendwann, dass das alte Zeug auch heute noch gar nicht so schlecht klinge. Und dadurch, dass ich wir es jetzt in Den Haag und Paris live gespielt haben, hab‘ ich sie mir noch mal ganz bewusst neu angehört und war überrascht, wie strukturiert und gerade der Sound noch immer ist.

Der ist ja ohnehin zeitlos. Aber wie steht es mit der Atmosphäre eurer Alben, die in einer ungeheuer dystopischen Epoche entstanden sind, als alle dachten, entweder im Atomkrieg oder sauren Regen zu sterben?

Weil die Zeiten heute ähnlich dystopisch sind, funktioniert unsere Musik wieder richtig. Anscheinend korrespondiert sie gut mit epochalen Ängsten. Denn in den Neunzigern, als alles in Ordnung schien, hat sich niemand dafür interessiert. Dass sie jetzt besser passt, merkt man daran, wie die Leute drüber diskutieren. Das ist aber ein Phänomen, keine Absicht.

Jetzt zwei Alben und zwei Singles zu remastern…

Und zwar in den Abbey Road Studios, also ziemlich fett!

Ist das demnach nur eine Neuauflage für die Nostalgie oder auch ein Kommentar auf unsere Gegenwart?

Viel Kommentar, wenig Nostalgie. Das sieht man ja auch daran, wie viele aus der Generation TikTok sich dafür interessieren. Die Idee zur Reissue hatte ich bereits vor Corona und Trumps Wiederwahl. Wenn wir schon damals veröffentlich hätten, wäre es vermutlich irgendwie verpufft. Jetzt spürt man, dass die Leute den Sound wieder fühlen wie vor 40 Jahren.

Das merkt man auch daran, dass eure einzige Charts-Platzierung nicht 1982 war, sondern 2024 mit einer Single-Sammlung auf Platz 50.

Stimmt. Und als sie in kürzester Zeit komplett ausverkauft war, wurde uns klar, dass wir da mehr draus machen können. Das hatte natürlich auch viel mit Angebot und Nachfrage zu tun, weil es Xmal Deutschland einfach jahrzehntelang nur gebraucht zu kaufen gab. Es lag aber auch an den Bandfotos, die unglaublich reingehauen haben. Und dann haben sie ein bisschen Pingpong mit meinem Solo-Album und der neuen, alten Zeit gespielt. Da passte offenbar alles zusammen.

Fünf Frauen aus einer männerdominierten Pop-Epoche mit knallbunten hochtoupierten Haaren. Ein ikonisches Bild, das farblich interessanterweise mit deiner pointilistischen Malerei korrespondiert, die ja auch extrem bunt ist.

Auch das ist Zufall. Aber weil meine Kunst generell synästhetisch ist, Töne also Farben haben und umgekehrt, steckt dahinter vielleicht doch etwas Unterbewusstes, wer weiß. Am Ende ist alles irgendwie miteinander verbunden.

Wobei eure Musik von damals inklusive deines stakkatoartigen atonalen Gesangs wie die meisten Bandfotos etwas Schwarzweißes ausgestrahlt haben, oder?

Schon, das Farblose, Nüchterne unseres Sounds war eine bewusst gewählte Ästhetik. Ein Stilelement des gesamten Genres, dass ja im Gothic und Wave wurzelt. Deshalb hatte unsere Musik auch nichts Warmes, sie sollte eine gewisse Distanz erzeugen. Ich selber bin schließlich ein eher distanzierter Typ, bis heute. Ich bin gerne mit Menschen zusammen, aber wenn ich das Gefühl habe, mir blickt jemand zu direkt in die Seele, blocke ich ab.

Hat das was mit deiner Heimatstadt Hamburg zu tun?

Kann schon sein. Aber noch mehr mit mir als Persönlichkeit. Ich lasse mich einfach nicht gern vereinnahmen. Vielleicht auch aus der Erfahrung heraus, die du angesprochen hast: Als Frauen, fast noch Mädchen, in einer männerdominierten Branche, wurden wir, aber auch Leute wie Annette Humpe, oft an der Musik vorbei aufs Optische reduziert. Das nervte und hat vielleicht zur Abwehrhaltung geführt. Ich mache deshalb auch heute noch äußerst ungern Selfies mit Fans oder Freunden. Aber es hat uns dabei geholfen, frühzeitig klare Haltungen zu entwickeln. Bei Konzerten zum Beispiel.

Inwiefern?

Wenn die Männer dort mal Bedenken geäußert hatten, ob wir das auf der Bühne hinkriegen, haben wir halt die Verstärker aufgedreht und sie weggefegt. Das funktionierte immer.

War es 1980 denn ein bewusstes, womöglich gar feministisches Statement, mit fünf Frauen auf Bühnen zu stehen, die weitestgehend von Männern besetzt waren?

Nee, wir waren einfach Freundinnen, die gemeinsam auf Konzerten waren und irgendwann zusammen Musik gemacht haben. Deshalb kamen ja auch bald die ersten Jungs dazu. Anfangs noch als male token (lacht), aber letztlich als vollwertige Bandmitglieder. Danach waren wir halt keine Mädchenband mehr, wie viele bis dahin meist abschätzig meinten. Mir wäre am liebsten gewesen, es hätte überhaupt keine Geschlechterzuweisungen gegeben. Einfach Band. Das reicht.

In einer perfekten Welt. In einer derart unvollkommenen wie unserer damals, war es aber dennoch ein Statement. Hat es euch wenigstens zu Role Models gemacht?

Nicht mal das, glaube ich. Damals steckten wir dafür einfach zu sehr in unserer Blase und hatten schon genug damit zu tun, als Frauen zu beweisen, dass wir Instrumente beherrschen. Im Rückblick sieht man das aber natürlich ein bisschen anders. Da erscheinen wir schon wegen unserer Erfolge durchaus als Statements und Role Models. Dabei waren wir uns wirklich selbst genug damals. Andererseits passiert es bis heute, dass Männer erfolgreichen Frauen im Popgeschäft die musikalische Kompetenz absprechen oder schlimmer noch: ihren Job erklären. Je älter man wird, desto mehr nimmt man das wahr.

Haben dir diese Erfahrungen schon frühzeitig ein dickes Fell verpasst?

Eigentlich nicht. Ich bin eher vorsichtig als dickfellig. Im Moment bin ich aber vor allem dankbar, die Zeit von damals noch mal wachrufen zu können. Das ist wie ein Erbe.

Mit dir als inoffizielle Nachlassverwalterin?

Für eine Nachlassverwalterin bin ich künstlerisch zu breit aufgestellt und mein Leben lang – und vermutlich bis zum Ende – aktiv. Ich habe ja schon in der Schule gemalt und wollte auch auf die HFBK.

Die Hochschule für Bildende Kunst in Hamburg, auf der auch Leute wie Daniel Richter und Fatih Akin studiert haben.

Bin aber nicht genommen worden und habe mich auch deshalb zunächst für die Musik entschieden. Ich war immer beides. Bis heute.


Chris Imler, Vono, bdrmm

Chris Imler

Chris Imler gehört zu der Sorte Künstler, die schon immer da waren und doch woanders. Der 152-jährige Schlagzeuger hat bei den Türen gespielt, Peaches, Jens Friebe und Maximilian Hecker, stets im Hintergrund und doch vordergründig unüberhörbar. Optisch von gestern, aber klanglich von morgen, ist sein elektroexperimenteller Stil ungeheuer schwer einzuordnen – schon gar nicht als Solist, den er seit zehn Jahren parallel gibt.

Am ehesten lässt sich auch sein neues Album The Internet Will Break My Heart vielleicht als digitaler Darkpop bezeichnen, der als Goth-NDW verkleidet den Kellerclub unterwandert. Die Beats sind trist, die Samples bedrohlich, sein rollendes Augsburger rrr verleiht den Texten transsilvanisches Timbre. Das ist definitiv kein Wohlfühlsound, aber einen zum Fallenlassen auf halbleeren Dancefloors, die man mit Imlers Hilfe (und ein paar Drogen) stundenlang nicht verlässt.

Chris Imler – The Internet Will Break My Heart (Fun in the Church)

Vono

Ebenfalls aus Berlin, aber nochmals älter als Chris Imler sind Volker und Norbert Schultze, deren Vornamen andeuten, dass sie einem völlig anderen Jahrhundert entstammen. Angeblich Beteiligte nennen es rückblickend “Achtziger”. Damals hatten die blutsverwandten Keyboarder zwei zeitgenössische Platten produziert, deren New Wave sich der Neuen Deutschen Welle beharrlich widersetzen konnte, eher Nichts als Nena also.

42 Jahre später haben Sie sich ins Studio von Bureau B gesetzt und 13 vergessene Minimal-Tracks von damals nicht nur digitalisiert, sondern maximalisiert. Das Ergebnis von Modern Leben 2025 ist ein fett aufgebrezeltes Modern Leben 1983. Es öffnet Spätgeborenen ein großes Fenster in die vielleicht kreativste Epoche deutschsprachiger Popmusik und könnte schon deshalb 2035 auf jeder Eighties-Party laufen.

Vono – Modern Leben (Bureau B)

bdrmm

Und damit aber endlich mal zu etwas viel Jüngerem, was allerdings auch wiederum frühreif klingt, Tendenz altmodisch, dabei aber durchaus frisch: bdrmm, vier englische Shoegazer, deren gitarrenlastiger Emopop auf ihrer dritten Platte ein bisschen Richtung Alternativepop abschweift, und das ist auch gut so. Stimmlich gehabt cheezy, ist der Sound endlich ein bisschen sperriger, kantiger, bisweilen verschrobener.

Ein wirklich origineller Kontrast, den Stücke wie John on the Ceiling oder Snares mit fast schon breakbeat-beschleunigter, synthiegesättigter, flächig zerfasernder Diskodynamik über Ryan und Jordan Smiths Britpop-Gesang legen, der dadurch zum Glück viel seiner Käsigkeit verliert. Auf Microtonic zeigen bdrmm endgültig, wie gut man sich verändern und dennoch treu bleiben kann.

bdrmm – Microtonic (Rock Action)


Tocotronic: Arne Zank & Dirk v. Lowtzow

Vorfreude aufs Rentendasein

Ob Tocotronic (Foto: Noel Richter) wollen oder nicht: Mit 14 Platten in 30 Jahren zählen sie zum Kanon der deutschsprachigen Popkultur wie Grönemeyer, Rammstein, Herr Lehmann. Vielleicht klingt ihr neues Album Golden Years deshalb so nostalgisch. Ein falscher Eindruck, meinen Sänger Dirk von Lowtzow und Drummer Arne Zank. Bestenfalls nach vorauseilender Wehmut dreier Mittfünziger auf dem Zenit ihrer Schaffenskraft.

Von Jan Freitag

Der Titel eurer neuen Platte „Golden Years“ klingt irgendwie nostalgischer als man es von Tocotronic erwartet hätte. Habt Ihr Heimweh nach früher?

Dirk: Ich würde ihn eher als offenes System bezeichnen, das man sarkastisch aufs Gestern gerichtet deuten darf, apokalyptisch auf die leuchtenden Brände von L.A. grad oder des Golden Age, das Donald Trump ausgerufen hat. Es funktioniert aber auch als Hoffnungsschimmer einer Momentaufnahme absolut reiner Gegenwart, die der Protagonist im Titelstück als etwas ansieht, das vielleicht nicht mehr besser wird. Ich würde es daher als vorauseilende Wehmut bezeichnen, aber nicht als Nostalgie.

Arne: Weil man den Titel im Englischen auch mit „Ruhestand“ übersetzen kann, verstehe ich ihn auch als Sehnsucht nach vorne, als Vorfreude aufs Rentendasein.

Dirk: Ach! (lacht)

Das habt ihr mit Anfang 50 schon im Hinterkopf?

Arne: Mit etwas Humor schon. Der hat übrigens auch mit unserem ersten Label L’Age D’Or zu in Hamburg tun hat, das ständig mit dem Gold-Begriff gespielt hat.

Dirk: Gold ist ja auch immer ein bisschen tacky, wie man heute sagt, ein billiger Glanz, nicht ganz echt. Aber wie auch immer: alle dürfen den Titel deuten, wie sie wollen. Das Schöne am Pop ist ja, dass die Kommunikation beim Hören entsteht. Aber wenn du uns fragst, war Nostalgie definitiv nicht der erste Impuls.

Wobei man nach 14 Platten in 30 Jahren durchaus nostalgisch zurückblicken darf, oder?

Dirk: Klar, aber unsere Entwicklung ging innerhalb eines fortlaufenden Prozesses relativ geradlinig von Punkt zu Punkt bis heute. Genau aus diesem Grund waren wir stets eine Album-Band, die mit sich, der Welt und den Zeitläuften in Dialog treten. Unser Ansinnen war immer, in dem Sinne großzügig zu sein, viel von uns persönlich mitzuteilen.

Arne: Geradezu geschwätzig sogar.

Dirk: Heute würde man es wohl „oversharing“ nennen, wie wir uns als Personen und Band mitgeteilt haben. Tocotronic war immer öffentlich Tagebuch führen.

Aber waren die Ich-Botschaften wirklich Veräußerungen eures Innersten oder nicht doch einfach Kunstgriffe, von sich zu singen, aber alles zu meinen?

Dirk: Natürlich, denn es waren am Ende ja Songtexte, keine Tagebücher, also objektive Tatbestände mit der Möglichkeit, sie subjektiv zu deuten. Dennoch waren gerade die frühen Platten stark von unserem echten Leben geprägt. Liebe, Freundschaft, Jugend…

Arne: Oder die ständige Erklärung, warum wir überhaupt eine Band geworden sind.

In einer Zeit, die verglichen mit unserer Dauerkatastrophe als sorgloses Jahrzehnt gilt, der Francis Fukuyama das Label Ende der Geschichte verpasst hatte. Konnte man darin lockerer aus dem Bauch denken, während die Gegenwart verkopfter ist?

Arne: Ich finde ja, wir waren schon mal verkopfter als heute, haben mittlerweile aber zur Unmittelbarkeit zurückgefunden, einem direkteren Ausdruck in der Sprache wie früher.

Dirk: Und ich habe aber auch die Neunziger nie als so unbeschwert empfunden, dass alles aus dem Bauch heraus war. Wir hatten halt andere Interessen und wollten den Alltag darstellungsrealistischer aufsaugen. Von 1999 bis Mitte der Zehner ungefähr war unser Songwriting zwar stärker von Theorien als Praxis geprägt, hat aber immer noch unseren Alltag verdaut. Damals war uns Theorie zum Verständnis der Verhältnisse halt wichtiger. Danach sind die Songs dann wieder ins Autofiktionale gerutscht. Da ist dieses Album eine Mischform all unserer Epochen.

Arne: Wenn ich an die Neunziger zurückdenke, kommt mir weniger Hedonismus in den Sinn als die Baseballschlägerjahre, die Nationalisierung der Popkultur, die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, dieses ganze Das-Boot-ist-voll-Rhetorik. Politisch war da vieles grauslich und persönlich verklemmt, vergrübelt. Soziologisch kann man der Zeit vielleicht Sorglosigkeit attestieren, aber jetzt hier im Rückblick fällt mir das schwer.

Dirk: Ich empfinde uns bisweilen heute sogar als freigeistiger. Wenn man wie wir so Ende der Achtziger in den Indie-Hardcore-Punk hinein sozialisiert wurde, gab viele extrem einengende Regeln, Gebräuche, Codices bis hin zur Frage, ob man auf Major-Labels publizieren dürfe.

Arne: Ich persönlich habe das gar nicht als einengend empfunden. Weil politische Korrektheit oder wie sie heute heißt: Wokeness meist einen ernsten Hintergrund hat, nähern wir uns beidem sprachlich und stilistisch halt seit jeher spielerisch, also weder explizit politisch noch unpolitisch.

Auf der neuen Platte klingt immerhin ein Lied explizit politisch: Denn sie wissen, was sie tun, was nach einer direkten Ansprach an AfD und Identitäre klingt.

Dirk: Es geht eher um die Hegemonie der Niedertracht zur Durchsetzung politischer und persönlicher Zwecke. Dass diese Hegemonie hauptsächlich von rechtspopulistischen oder -extremen Politker*innen und ihrer gewaltbereiten Gefolgschaft betrieben wird, liegt auf der Hand. Aber unsere Lieder sind eher biografische als politische Mikrolebensdramen. Deshalb würde ich dieses hier als Protestsong beschreiben. Ein Genre, das uns schon immer interessiert.

Arne: Besonders ihr radikales Image, die eigentlich das Gegenteil gesellschaftlicher Sichtweisen beinhaltet, sondern radikal subjektiv ist.

Dirk: Im Pop ist Politik für mich immer eher Werden als Sein. Das sieht man zum Beispiel an Bye Bye Berlin – eine Art Vogelperspektive, aus der das Berghain brennt, beeinflusst von einem amerikanischen Maler, also gar nicht explizit politisch. Durch die Kürzungsorgie des Berliner Senats und seine Austeritätspolitik ist es das aber geworden.

Spürt ihr diese Austeritätspolitik an eurer künstlerischen Arbeit in dort?

Dirk: Klar. Aber umso mehr gilt, dass die politischen Momente unserer Songs nicht gesetzt sind, sondern entstehen. Denn sie wissen, was sie tun ist demzufolge eine Beschäftigung mit Protestsongs.

Es heißt darin, ihre wollt die Rechten nicht mit Gewalt bekämpfen, sondern auf die Münder küssen. Scheitert diese Umarmungstaktik nicht gerade krachend?

Dirk: Deshalb empfehle ich den Kuss ja als Umarmung, bei der man den Geküssten die Luft zum Atmen nimmt. Der Todeskuss als Tötungsfantasie im poetischen Sinne, gewaltsames Abschwören von der Gewalt gewissermaßen. Durchaus ironisch.

Arne: Und hoffentlich ein bisschen komisch.


The Vices, Alex Wilcox, Arliston

The Vices

Wenn Männergruppen der 2020er aussehen wie Boygroups der 1990er, ist immer Obacht geboten: Ist das nur ein billiger Abguss hedonistischer Säuseligkeit am Ende der Geschichte, den Optimisten vor 30 Jahren mal proklamiert hatten? Im Fall der niederländischen Männergruppenboyband The Vice wird die Antwort zweigespalten. Einerseits sehen sie aus wie Ein-Euro-Shop-Versionen von Oasis, stellen deren Britpop aber ins Regel zeitgenössischer Designshops.

Ihr drittes Album Before It Might Be Gone klingt zwar manchmal leicht nostalgisch nach den Feel-Good-Oberflächen irgendwie ja unbestreitbar besserer Zeiten. Aber wenn sie fuzzige Offbeat-Riffs mit schrillen Grungebeats zerdeppern und engelsgleich Guess We’re All the Same singen, kriegt der Retrofuturismus irgendwie Substanz zwischen Beach Boys und Fountaines. Man kann das gut weghören. Wie damals. Auch mal schön.

The Vices – Before It Might Be Gone (V2 Records)

Alex Wilcox

Mindestens ebenso retrofuturistisch, ohne den allergeringsten Hauch öliger Nostalgie zu versprühen, ist und bleibt der amerikanische Exilberliner Alex Wilcox auf seiner neuen Platte Take Me to Lake Ta Ta. Wie deren aberwitziger Titel andeutet, mixt er technoiden House darin mit einer Dröhnung Punk der frühen Nuller, als hätte Fat Boy Slim mit den Chemical Brothers in einer Wanne Pep gebadet.

Das Tempo der sechs entfesselten Tracks überholt sich permanent selbst, wenn er Gaga-Lyrics unter fast schon gabberigen Big Beat mischt, bis die Sequencer glühen. Funky Dubstep gewissermaßen, den man sich besser nicht zuhause auf dem Sofa anhört. Davor allerdings macht diese Überdosis beats per minute Druck auf dem Dancefloor, der jeder Nacht den Trott gleichförmiger Tage aus den Poren quetscht.

Alex Wilcox – Take Me to Lake Ta Ta (Ufo Inc)

Arliston

Und damit man am Ende so einer Nacht auch wieder zu Kräften kommt, wären mehr Alben wie jenes von Arliston angebracht. Vom Instrumentarium her ist das britische Duo gar nicht so weit von Alex Wilcox entfernt. Was Sänger Jack Ratcliffe und sein Producer George Hasbury aus ihrer digital-analogen Paartherapie machen, bringt auf der ganzen Platte jedoch nicht mal die Beats eines halben Wilcox-Songs zusammen.

Disappointment Machine ist schließlich eher Kammerspiel-Electronica mit getupfter Gitarre und gesampeltem Piano, verwehenden Lyrics und einer Aura, die das Studio im Wald errichtet und sich darin verliert. Eher Singer/Songwriting also, aber mit pfiffiger Ironie voller Autotune im Celloregen. Nichts davon ist für die Ewigkeit, aber den Moment kann man damit wundervoll genießen.

Arliston – Disappointment Machine (Sob Story Records)


Cafe Türk, Milk Carton Kids, Innocence Mission

Cafe Türk

Was lange währt – nein, das wird weder endlich noch unendlich gut. Aber manchmal braucht es halt Jahrzehnte, bis Dinge aus dem Untergrund an die Oberfläche geraten. Cafe Türk zum Beispiel. Ein Quartett aus Schaffhausen, das im Sog des jungen HipHop und älteren Funk Anfang der Achtziger einen ganz eigenen Sound kreierte. Orientalisch angehauchten Schweizer Ethnopop zwischen Kreuzberg, Bronx und Istanbul.

Genau daraus hat Gründer Metin Demirel ein halbes Leben später sein Debütalbum gemacht. Und auf Doğu Ekspresi gewartet zu haben, war absolut lohnenswert. Schon der Opener Çakmağı Çak, Cover eines Sixties-Schlagers, stiefelt zeitlos durch aseptischen New Wave und verschwitzten Club. Auch der Rest klingt hinreißend gegenwärtig, achtet allerdings zugleich seine Wurzeln und bietet damit ein zeitgeistiges Porträt dessen, was früher Mal Weltmusik hieß.

Cafe TürkDoğu Ekspresi (Sound Concept)

Milk Carton Kids

Die Quintessenz der Weltmusik findet sich übrigens, je nach Definition, in dem, was die christianisierte Welt sich Weihnachten um die Ohren haut. Der Stock hat sich da seit Jahrhunderten kaum verändert. Alle trällern dasselbe. Und schlimmer noch: alle trällern es irgendwann nach, um dem überkommenden Genre ein paar Tonträger abzutrotzen. Deshalb hier mal ein kleiner Tipp, der das uralte Liedgut ein bisschen erträglicher macht.

The Milk Carton Kids, ein amerikanisches Folkduo in der Grassroots-Tradition eines Woody Guthrie, haben zehn Klassiker von Silent Night bis I’ll Be Home For Christmas neu interpretiert. Und neu heißt hier, ihrer leicht schroffen Harmonielehre unterzogen, die nichts rocken oder funken oder schlagern oder metaln will, sondern einfach nur ein bisschen Besinnlichkeit verbreiten. Christmas in a Minor Key kann das – Ruhe stiften.

The Milk Carton Kids – Christmas in a Minor Key (Far Cry Records)

The Innocence Mission

Und wo die Stimmung gerade so ein bisschen andächtig wird, unterfüttern wir sie doch mal mit noch mehr andächtiger Musik ohne Spiritualität und Konsumismus. The Innocence Mission haben erstmals seit vier Jahren ein Album gemacht, und Midwinter Swimmers enthält alles, was das Trio aus Pennsylvania kennzeichnet: elegische Folk-Harmonien vor allem, die Karen Peris’ filterlos angeraute Engelsstimme Eigensinn verleiht.

Er klingt weder angestrengt lieblich noch angestrengter robust, sondern nach der perfekten Untermalung von Don Peris und Mike Bitts, die den Schwermut dunkler Winternächte in beschwingte Melancholie zwischen Hippie und Alternative verwandeln. Dafür muss man sich nur mal an zehn Popcorn-Picks vorbei unter die Geigen von The Camera Divides the Coast of Maine wühlen. Klingt wie der Soundtrack eines Lieblingsfilms der Sixties, an den man sich partout nicht mehr erinnert.

The Innocence Mission – Midwinter Swimming (Bella Union)


Das Format, Warhaus, Rogê

Das Format

Referenzen mögen ja Orientierung geben, womöglich gar schmeichelhaft sein – aber was bitte soll die Augsburger Gitartenkrach-Band Das Format mit Vergleichsgrößen wie Idles, Die Nerven, Fountaines DC anfangen, außer Messlatten höher zu legen als nötig. Dieses Format, ziemlich noisiger Alternativerock, dem Labels wie Postpunk auch nicht aus der schlechten Laune helfen, ist sein eigenes Referenzgrößen-Irgendwas.

Und das klingt nicht neu, aber schon individuell nach No-Future-Attitüde, wenn sich emotional ergriffene Schredder-Riffs von Sänger Bruno Teschert durch Liebesquälereien wie “Du bist wie Urlaub / Ich will in Ferien / Du hältst dich raus / und ich halte mich aus” drängeln. Bässe wie Bauchweh, stinksaure Drums, alles nicht Idles oder sonstwas, sondern das fatalistische (Über)Lebensgefühl der GenZ in trostloser Zeit.

Das Format – Das Format (paulpaulplatten)

Warhaus

So richtig gut gelaunt klingt auch Balthazar Maarten Devoldere zwei Jahre, nachdem das Solodebüt den Belgier als Warhaus in ein trübe flackerndes Rampenlicht brachte. Aber das täuscht. Wenn er im Opener des Nachfolgers Karaoke Moon von seiner Kindheit singt, klingen Zeilen wie “I can still remember the number they pinned to my shirt / it was a talent show for kids and I was an introvert” zwar bestenfalls melancholisch.

Das liegt allerdings eher an der Stimme als deren Aussage. Denn eigentlich darf der Mann aus Brügge, das man bekanntlich sieht und dann sterben möchte, bester Laune sein. Sein Gesang atmet zwar ein Art-Gainsbourg-Aura, mogelt sich aber so beschwingt unter den sixtieslastigen, elektronisch angehauchten LoFi-Pop hindurch, dass man sich dabei eher am Meer als am Trauern wähnt. Gute Laune muss ja nicht immer auf dicke Hose machen.

Warhaus – Karaoke Moon (Play it Again Sam)

Rogê

Und wem selbst das noch zu subtil amüsiert, kann sich schön auf die Seite unzweideutiger Offenherzigkeit schlagen und das neue Album des brasilianischen Sängers Rogê hören, der vor zwei Jahren die komische Idee hatte, vorm rechtsradikalen Irrsinn seiner Heimat in die USA zu fliehen, wo der rechtsradikale Wahnsinn nun expandiert. Wie gut, dass er sich (und uns) mit Samba-Interpretationen bei Laune hält.

Die Coverversionen seiner Ahnen João Donato and Caetano Veloso, denen er auf Curryman II die Ehre erweist, sind von einer intrinsischen Fröhlichkeit, die niemanden kalt lässt. Ihre Neubearbeitung mithilfe von Drummachine oder Synthesizer untergräbt sie allerdings mit einer eleganten Verschrobenheit, die ungleich tiefer geht als ihre Originale. Trotzdem gut zu tanzen natürlich. Samba eben.

Rogê – Curryman II (Cargo Records)


Toni Kater, Warmduscher, Homer, Fazerdaze

Toni Kater

Singer/Songwriting aka Liedermachen – schwieriges Terrain. Allzu oft gehen mit jungen Männern dabei die white tears durch und zwingen uns zur Anteilnahme. Meist nervt das, bei Toni Kater strahlt es. Auch, weil es gar kein Mann ist, sondern Anett Ecklebe, die seit 20 Jahren unterm Radar der Öffentlichkeit singt, was weder Radar noch Öffentlichkeit schmeichelt. Denn ihr achtes Album ist wie die sieben zuvor ein umwerfendes Plädoyer fürs Überwältigungsunderstatement.

Wenn sie im zweiten Track übers Scheitern an Bürokratie, Alltag, sich selbst zehnmal Fuck you singt und ein episches Fu-u-u-u-u-u-u-uuuck obendrauf setzt, ist alles über uns und die Welt da draußen gesagt – nur hier eben mit einer wundervoll zerkratzten Gitarre und Toni Katers lieblichem Trotz in der Stimme, dem man sich zwölf seelenschwarzen, hoffnungsfrohen, selbstverlegten Singer/Songwritings nicht entziehen kann.

Toni Kater – Jemals (Toni Kater Records)

Warmduscher

Gut anderthalb Jahre sind vergangen, furchtbare 19 Monate, seit Warmduscher ein Album veröffentlicht haben. Und wer das neue hört, darf sagen: es war viel zu lang, es ist wunderbar! Denn erneut zerdeppern Clams Baker Jr., Benjamin Romans Hopcraft, Adam J. Harmer, Marley Mackey, Quinn Whalley, Bleu Ottis Wright in ihrer bizarren Mischung, die man am ehesten vielleicht als Swimmingpool-Noise bezeichnen könnte, alle Kategorien und ein paar darüber hinaus.

Elf tiefenentspannt hektische Tracks für sedierte Zitteraale, passt hier oft ohrenscheinlich nichts zusammen und bleibt doch seltsam kongruent, ja zwingend. Denn psychedelischer Trashpop gibt theatralischem Punkwave hier elektrisch geladene Klinken in die Hand, hinter deren Tür nur immer neue Türen ins Unterbewusstsein verschrobener Bigband-HipHop-Speedfolk-Bedroom-Metal Parodien führen. Verstörend. Und grandios.

Too Cold to Hold (Strap Originals)

Homer & Fazerdaze

Und damit zu zwei Platten, die dem Begriff der Harmonie unabhängig voneinander ungeahnte Facetten verleihen. Der Schlagzeugvirtuose Homer Steinweiss definiert auf seinem Solo-Debüt Ensatina (Big Crown Records) die Grenzen, vor allem aber Stichwege von Soul, Pop und HipHop neu aus und klingt dabei dank seiner Engelsstimme der Earthgang auf einer Überdosis Andersen .paak, also einfach hingebungsvoll toll.

Amelia Murrey alias Fazerdaze hat uns seit Morningside ewig zappeln lassen. Volle sieben Jahre, also fast dreieinhalb quälende Minuten, danach ist jetzt Soft Power (Partisan Records) erschienen und macht ihrem Titel alle Ehre. Denn wie damals singt sie ihren Westcoast-Pop durch Wände aus Watte ins Gemüt und klingt dabei nach Lust auf Chillen oder doch lieber Feiern, also Feierchillen, falls das geht. Und ja: es geht!