Reise: Island/Westfjorde
Posted: August 3, 2013 Filed under: 6 wochenendreportage Leave a commentOde ans Wasser
Ein Geheimtipp ist Island mit seiner Mischung aus Naturereignis und Kulturregion nicht mehr. Dennoch lässt sich die Insel im Nordatlantik neu entdecken – vom Wasser her. In den Westfjorden entwickelt das zentrale Element des vulkanischen Eilands seine größte Kraft.
Von Jan Freitag
Der Soundtrack Islands klingt wie ein Fluss. Mal rauscht er durch die Ebene, plätschert ruhig weiter, stürzt tosend in die Tiefe, um bald sachte ins Meer zu gleiten. Wenn der Musikverleger Lárus Johannesson seine Heimat beschreiben soll, nimmt er am liebsten Hilmar Örn Hilmarssons CD zum bekanntesten aller Island-Filme, „Kinder der Natur“, aus dem Regal und legt sie ein. Der geigenlastige Sound ist so voller Fläche, Melancholie, Reinheit und Bewegung, dass man fast glaubt, ihn trinken zu können. Denn der Rhythmus des Landes und seiner Bewohner, sagt Lárus, der Plattenhändler aus Reykjavik, „ist wie der Rhythmus des Wassers“.
Wie Wasser, ausgerechnet Isengard, die Feuerinsel am Polarkreis. Aber sie gleicht mehr einer Seenplatte als einem Vulkan, auch wenn es stets aus der Erde dampft. Das Wasser ist allgegenwärtig. Im Frühjahr schmilzt es, im Sommer steht es, im Herbst gefriert es, im Winter schluckt es jeden Schall und für Lárus Johannesson, dem trendigen Mittvierziger aus dem Szeneviertel 101, bewirkt es in jedem Zustand mehr, als nur die Oberfläche der Insel zu formen. Wasser, er nippt am Espresso, „lässt unsere Gedanken schweifen“. Hier, in der pulsierenden Kulturmetropole ebenso wie oben, in den Westfjorden, dem karstigen, unentdeckten, lautlosen Gebiet im äußersten Eck des Landes.
Mit der Propellermaschine geht es von Reykjavik aus in den Norden, gleich durch drei Wolkendecken hindurch, ein unruhiger Flug. Island, so heißt es, zahlt für jeden Sonnentag mit einer Woche Regen. Das scheint noch untertrieben – es ist Mitte Mai und schneit auf Meereshöhe. Wer dieses Land verstehen will, seinen Takt und seine Launen, der sollte zu den Westfjorden fliegen und sich wetterfest kleiden. Von der Hauptstadt in den entlegensten Winkel, knapp eine Stunde dauerte es von der Zivilisation bis zur Einöde, wo die Ansiedlung schwerer Industrie verboten ist und jede Straße ein Abenteuer. Hier besitzt das Wasser seine größte Kraft, denn das Meer zerklüftet seit 16 Millionen Jahren die Küste.
Island, zumal den Westen, ohne blumige Metaphern zu schildern, fällt Reisenden oft schwer. Vom wachsenden Gletscher Drangajökull, fast in Sichtweite Grönlands, ist schon mal als träges Faultier die Rede, von Straßen als Kratzern im Geröll oder von Hügeln, die an hockende Trolle erinnern. Das mag am Hang zur Sage liegen, dem uralten Glauben an Kobolde, Elfen und versteckte Menschen, der die Insel noch heute prägt. Sie mögen an Einfluss verloren haben, doch wo kochendes Wasser unvermittelt aus dem Boden schießt und der Schnee auch im Sommer nur wenige Meter weiter noch in den Ebenen klebt, wo das Wetter gern minütlich umschlägt und fünf Grad kalter Ozean an lange Sandstrände von karibisch goldener Farbe brandet, da ist ein bisschen Pathos unvermeidlich.
Björn und Helgas Farm ist ein Schmelztiegel dieses Wechselbads. Sie liegt unweit des malerischen Städtchens Ísafjörður, gesäumt von jenen Bergen, die alle Fjorde trennen, mit flachen Kuppen, baumlos wie das ganze Land und weiß geädert wie ein Zebra. Vom Wohnzimmer aus blickt man vorbei an kitschigen Plastikblumen auf ein Fischerdorf im Nordwesten, wo der Fjord sich zum Meer öffnet. Isländer sind auf fast erdrückende Art gastfreundlich. Es gibt getrockneten Fisch, frittiertes Brot, Skyrkaka, eine Art Joghurt auf Biskuit, fast alle landestypischen Knabbereien auf einem Tisch. Und natürlich Kaffee. Isländer trinken ihn literweise. Ein Wunder, dass sie so alt werden. Der Polkappe näher als die sechsköpfige Familie, deren Nachnamen wegen der Kombinationen elterlicher Vornamen mit dem eigenen Geschlecht variieren, leben nur wenige. Und kaum jemand hängt mehr am Tropf des Wassers als diese Sippe.
Helga Kristjansdòttir und ihr Mann züchten Lachse in der Bucht, schöpfen ihr eigenes Süßwasser, tränken ihr Vieh mit kanalisierter Schneeschmelze und betreuen Angler im Dorf. Sie versorgen sich dank eigenen Wasserkraftwerks selbst mit Energie und liefern mit einem zweiten Strom an die Stadt, wie überhaupt die ganze Insel nur mit der Wärme und der Kraft des Wassers betrieben wird. Helga, Mitte Vierzig und wie in Island üblich tonangebend in der Ehe, lächelt breit: „Wenn es ginge, würden wir das Wasser auch noch essen.“ Alles eine Frage eigener Ansprüche. Die Powerfrau mit den rauen Händen lebt wie die Hälfte der Bevölkerung außerhalb Reykjaviks, auf dem Land also, und weiß, was es heißt, der Natur zu trotzen.
Allein, dass sie hier wohnt, ist den Unwägbarkeiten der Natur geschuldet. Zum Lawinengebiet erklärt, musste die Familie ihren Hof ein paar Fjorde weiter vor neun Jahren räumen, schnitt das Haus kurzerhand in drei Teile und transportierte es per Lkw an sein neues Zuhause. „Man muss in Bewegung bleiben“, sagt Helga und lacht. Was das auf den Straßen abseits der inselumrundenden „Nationalstraße Nr. 1“, Islands längstem und fast ganz asphaltiertem Ring heißt, zeigt sich zu Beginn der Fahrt durch die Fjorde. Schotter knirscht unter den Rädern, doch es bleibt das einzige Geräusch weit und breit. Die Gegend hat noch weniger Verkehr als der Rest Islands, dessen Bevölkerungszahl vierstellig ist und deren Infrastruktur daher aufs Nötigste begrenzt. Und ohne Menschen glänzt das sommerliche Grün noch kräftiger in der Mitternachtssonne, die Gewässer wirken blauer, der Dampf heißer Quellen dichter.
Doch der Weg ist mühsam; kein Wunder, dass Island nicht nur die höchste Dichte an Schwimmbädern und Badewannen hat, sondern auch an Geländewagen. In Ermangelung großer Verbindungsstraßen müssen Dutzende Fjorde einzeln abgefahren werden, vorbei an imposanten Klippen, schneebedeckten Gipfeln, abgelegenen Buchten und geschwungenen Tälern. Durch Orte wie Þingeyri, wo das Klima den Müll auf einem Schrottplatz zum sepiafarbenen Kunstwerk verrosten ließ. Oder Haukaladur zwei Siedlungen weiter, das sich seit 70 Jahren eine Theaterbühne leistet, vier Vorstellungen im Sommer, ein Festival für Monologe, „sonst spielen wir bei Bedarf“, sagt der Betreiber. Die Westfjorde sind nichts für Eilige.
Und wenn die Kommunen doch mal einen Tunnel graben, kommt wieder das Wasser ins Spiel. Um das Fischerdorf Suðureyri nach Ewigkeiten isolierter Wintermonate anzubinden, grub man sich vor zehn Jahren durch den Berg und stach auf halber Strecke in ein verborgenes Wassernetz, das den Tunnel sogleich flutete. Was aber andernorts zum Baustopp führt, gilt in den Westfjords als Chance. Mit ohrenbetäubendem Lärm macht sich die Quelle hinter einer Stahltür am Straßenrand bemerkbar. Dahinter, mitten im Berg, rauscht aus 200 Metern Höhe ein Wasserfall nieder und versorgt die Nachbarstadt mit Strom. Noch liegen viele Schönheiten der Gegend im Verborgenen.
Michael Jaks sucht zum ersten Mal nach solchen Schönheiten. Bislang fuhr der Pfälzer nach Norwegen zum Hochseeangeln. Jetzt versucht er es erstmals eine Woche in den Westfjords. Und auch wenn der 51-Jährige mit seinen drei Freunden wegen Sturms an diesem Tag nicht raus aufs Meer darf, gefällt ihm das kühle Klima. „Warmes Wasser lässt mich kalt“, sagt er und seine wettergegerbte Haut pflichtet ihm bei, „da spürt man den Fisch nicht richtig“. Nicht alles sei perfekt, seinem Ferienhaus fehle es etwa an Komfort, doch in ein paar Jahren, so glaubt er, sei die Gegend ein Paradies für Natursuchende.
Nur langsam beginnen die Westfjords, Gäste wie ihn zu bedienen. Noch verdient der Fremdenverkehr hier seinen altbackenen Namen und am verwaisten Flughafen steht der Kontrast zwischen Vergangenheit und Zukunft dicht an dicht. Am Ufer eine Fischfabrik, die heute Kabeljau für Nigeria trocknet, am Hang darüber bunte Bungalows für den wachsenden Strom anreisender Angler und Wanderer. Vielleicht ist es aber auch angenehmer, erdnäher, schöner, Komfort nicht über Hotelsterne oder Entertainment zu bemessen, sondern an der Möglichkeit, zur Ruhe zur kommen. Im Zelt, das man fast überall aufschlagen darf. Oder in jener schlichten Herberge bei Flókalundur, wo die Fähre zurück in den Süden abfährt: Ein Flachbau mit Hot Pot direkt am Meer, die prächtigsten Wasserfälle in Wanderweite. Nach einem Ausflug zu den Klippen von Látrabjarg samt ihrer Unmengen zutraulicher Papageientaucher kann man darin den Tag im Sonnenuntergang ausklingen lassen. Hier hat Hilmar Örn Hilmarsson seinen Soundtrack erdacht. Die Symphonie auf Island, eine Ode ans Wasser.