Report: 100 Jahre Mensch ärgere Dich nicht!
Posted: August 25, 2013 Filed under: 6 wochenendreportage Leave a commentFrohes Ärgern
Vor 100 Jahren kam das beliebteste Spiel der Deutschen auf den Markt. Seither steht „Mensch ärgere Dich nicht!“ für gesellige Schadenfreude. Hommage an eine Institution
Von Jan Freitag
Wer kennt diesen Sketch nicht von zuhause: „Na was is“, sagt Gerhard Polt darin zu seinem Sohn, dem nach zwei rausgeworfenen Figuren die Lust vergeht, „jetzt wird anständig gewürfelt“. Doch Heinz-Rüdiger will nicht, Papa zieht an seiner Stelle, schmeißt ihn dann nochmals raus und schüttelt sich nebst Mama vor Lachen. Was folgt, ist Alltag: Mit einem Wisch fegt der Bub das Brett ab, kriegt was an die Ohren und die Drohung hinein, so lang weiterzuspielen, „bis du den Ernst von dem Spiel amol begreifst“.
www.youtube.com/watch?gl=DE&hl=de&v=9OcuxYlOdGY&feature=related
Das Spiel heißt (natürlich) Mensch ärgere Dich nicht! und es sorgt seit genau 100 Jahren für Freude wie Verdruss. Denn 1912, als der erste Leichtathlet zwei Meter hoch sprang und die Titanic sank, brachte ein Tüftler namens Josef Friedrich Schmidt das Spiel der Spiele zunächst als Versuchsversion, ein Jahr später dann ganz offiziell in den Handel, . Da war es zwar noch ein Prototyp, handgemacht in einer kleinen Münchner Werkstatt, eher für Schmidts Söhne als den Massenbedarf. Doch das sollte sich mit der Serienfertigung ab 2014 ändern.
Denn der Spaß für vier bis sechs Personen, den Schmidt der indischen Urversion Pachisi, mehr aber noch dem britischen Ludo nachempfunden hatte, er kultivierte etwas Ungewohntes, ja Ungehobeltes, also sehr Erfrischendes in der guten Stube: Die Schadenfreude. Anders als bei den Vorläufern wurde das Rausschmeißen von der Variante zum Wesenszug – und damit der Ärger des Gegners. Ein Instinktgefühl wie das Lachen selber. Und irgendwie muss es wohl deutsche Züge tragen – sonst hätten Portugiesen und Polen, Italiener oder Iberer, Franzosen wie Engländer „Schadenfreude“ kaum in den eigenen Sprachschatz integriert. Vielleicht ja auch, weil man nicht nur in diesen Ländern bisweilen denkt, die ersten zwei Silben des Wortes, von dem wir der Welt im Lauf der Geschichte ein bisschen sehr viel zugefügt haben, erzeugt im Ursprungsland fast zwingend die hinteren beiden.
Da kann es doch kein Zufall sein, dass Mensch ärgere Dich nicht! ausgerechnet da zum Durchbruch kam, wo die Schadenfreude irgendwie endemisch ist: Auf dem Schlachtfeld. Bis zum 1. Weltkrieg nämlich wollte es kaum jemand kaufen. Also schickte der Spielproduzent in spe noch vor der Firmengründung 3000 kostenlose Exemplare an die Front. Aus Patriotismus, schreibt die Unternehmenshistorie. Mehr aber noch aus Groll den Misserfolg, der im Schützengraben sein Ende fand: Die heimkehrenden Soldaten spielten zuhause einfach weiter.
Mensch ärgere Dich nicht nun als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln zu sehen, ginge aber doch zu weit. Das „populärste Gesellschaftsspiel der Nation“, wie es der „Spiegel“ zum 75. Geburtstag beschrieb, macht einfach ohne großen Aufwand viel Spaß. Und die Lust am Leid anderer hat seine Ursprünge auch eher in der hierarchischen, später ständischen, bald kapitalistischen Gesellschaft als in einer Art deutschen Wesen. Schadenfreude gab dem Pöbel wenigstens dann ein kurzes Gefühl von Gleichheit vorm Schicksal, wenn die Oberschicht mal in den Dreck stolperte. Sie ist folglich keine Boshaftigkeit, sondern die „kleine Schwester der Niedertracht“, wie die „Zeit“ mal schrieb: verwandt mit dem Neid, gespeist vom Minderwertigkeitsgefühl, evolutionär überlebenswichtig, „weil sie das Gruppenrudel vor Einzelschmarotzern schützt“. Ein sozialer Kitt.
Und er wird in jener Hirnregion angerührt, die Forscher der Universität London dank mehrerer Spielexperimente auch bei Essen, Sex, Drogenkonsum aktiviert sehen. Es geht um Befriedigung. Da das gesellschaftliche Normenkorsett jener Zeit indes nur ein begrenztes Maß an Spott zuließ, kam Schmidts Spiel, von Kennern „Mädini“ abgekürzt, in einer humorlos militärischen Klassengesellschaft wie der wilhelminischen grad recht. Vor der Anleitung waren endlich alle gleich: Eltern und Kinder, Freund und Feind, satt und hungrig, uniformiert und zivil, oben und unten. „Das wohl deutscheste Spiel“, wie es die Spielesammlerin Ulrike Schiefer nennt, muss man so gesehen als Ventil einer Nation im Würgegriff von Anstand und Ordnung sehen.
Umso bemerkenswerter, dass die Berliner Firma mit bayerischen Wurzeln auch in der liberaleren Gegenwart jährlich gut 100.000 der knallroten Kartons mit dem giftgrünen Streitpotenzial verkauft. Das Layout mag optisch dem Zeitgeist gefolgt sein, der genervte Anzugträger überm geschwungenen „M“ mehrfach Krawatte und Frisur gewechselt haben – im Kern blieb das Design ebenso erhalten wie die entwaffnend simplen Regeln. Im Grunde, meint Dirk Hanneforth, der als Verfasser des Buchs „Ärger-Spiele“ zum ausgewiesenen Experten avancierte, „ist nichts dran“. Es erzähle keine Geschichte, urteilt der Schuldirektor aus Bielefeld, „die Idee ist zu einfach, die Aufmachung verglichen mit heutigen Spielen furchtbar“. Ein optisch unterforderndes, haptisch unspektakuläres, ästhetisch primitives Pappquadrat mit Pöppeln genannten Plastiksteinen – und doch gut 70 Millionen Mal verkauft.
Einst für 35 Pfennig, heute zu zehn Euro, längst auch als Bodenspiel oder Reisemini, auf CD-Rom oder Friesisch, mit Automatikwürfel oder Jokerkarten, im Pyramiden- oder Retrolook. Franzosen spielen aufmunternd Mach dir nichts draus, Amerikaner folgebewusst Frustration, Polen kryptisch Chinese, vor allem Deutsche aber sollen sich bloß nicht ärgern, tun es aber doch beständig. Bei Landesmeisterschaften, unter Wasser oder 136 Stunden am Stück.
Das Inventar jedes gut sortierten Elternhaushalts ist derart wichtig für die hiesige Popkultur, dass Gerhard Polt daraus einen brillanten Sketch machte und Sat1 eine weniger brillante Show namens Promi ärgere Dich nicht!. Es ist aber sogar so bedeutsam, dass vor zwei Jahren gar eine Briefmarke herauskam, mit dem üblichen Ablauf als Motiv: Zwei lachen, einer wütet, das Brett fliegt, Spiel aus, alles von vorn. Doch die Post lag mit dem vermeintlichen Jubiläum so daneben wie das allwissende Online-Lexikon Wikipedia. Zumindest offiziell. Selbst der Hersteller hatte sich zunächst auf 1912 festgelegt, als das Spiel erstmals im Handel aufgetaucht war, was Spielforscher Hanneforth bestätigt. Mittlerweile jedoch jubiliert Schmidt-Spiele lieber 2014, im Jahr der Firmengründung. Betriebswirtschaftlich trifft es das sogar besser: Ohne Mensch ärgere Dich nicht! gäbe es da nicht fiel zu feiern.
EPIGONEN
Verliere nicht den Kopf: Dabei muss man auf Eckfeldern, die man genau trifft, auf die diagonal gegenüberliegende Ecke ziehen.
Zoff der Zünfte (2006, 3-Hirn-Verlag): Hier haben die Pöppel Funktionen bzw. Charaktere wie Bursche, Geselle, Meister.
Nichts als Ärger (1999, Heidelberger Spieleverlag): Ergänzungskartenspiel, zu dem man ein Mensch-ärgere-Dich-nicht!-Brett benötigt. Die gezogenen Spielkarten lenken die Pöppel.
Teufelsrad (1938, Ravensburger): Mischung aus Mensch ärgere dich! nicht und Malefiz.