Ulrich Meyer: 60 & kein bisschen leiser

MeyerImmer ein praktischer Ansatz

Ulrich Meyer (Foto@Sat1), war das nicht ein leicht geleckter Jüngling, der die Seriosität öffentlich-rechtlicher Nachrichten für private Zwecke verbog? Seit er 1995 vom Heißen RTL-Stuhl zum damals noch ambitionierten Kanzler-Sender Sat1 wechselte, ist der gescheiterte Medizinstudent aus Köln zwar nicht unbedingt anspruchsvoller geworden, aber älter. Viel älter. Zum 60. Geburtstag würdigt freitagsmedien den ergrauten Moderator 60 mit einem Gespräch zum 10. Geburtstag seiner Sendung Akte über Boulevard, Personalisierung, Neugierde und seine brachiale Vergangenheit.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Meyer, haben es politische Journalisten der Privatsender schwerer?

Ulrich Meyer: Natürlich. Es gibt offensichtlich den ehernen Grundansatz unter Kritikern, an dem, was wir so machen, aber auch kein gutes Haar zu lassen. Eine Wadenbeißerei, die sogar noch härter geworden ist.

In alle Richtungen?

Nein, andere werden da schonender behandelt. Wenn ich aus Akte-Stücken die Musik herausschneide und O-Töne von drei Bundestagsabgeordneten dazugebe, kannst du etliche unserer Beiträge bei Monitor laufen lassen.

Etliche heißt?

Nicht alle. Bei uns muss schließlich auch die Mischung der Themen stimmen. Wir haben bestimmte Notwendigkeiten, um den Zuschauern über die Werbung zu helfen. Aber wie manche Beiträge unterschätzt werden, ist bedauernswert.

Was sich die Privaten mit Sendungen wie Der Heiße Stuhl selbst eingebrockt haben.

Wenn wir uns etwas vorwerfen sollten, dann dass wir zu sehr auf die Abstraktionsfähigkeit unserer medialen Richter gesetzt haben. „Der Heiße Stuhl“ hat genauso sehr ernsthaft über Terroristen, Ladenschluss, Tierversuche, Schalck-Golodkowski debattiert. Immer mit viel Vorbereitungsarbeit, Kraft, Wahrhaftigkeit und Redlichkeit. Aber gut – alles, was ich heute erfahre, ist auch die Folge meiner TV-Frühzeit. Friedrich Nowotny hat mal zu mir gesagt: Junger Mann, Sie haben Talent, aber Sie haben es völlig falsch angefangen.

Sehen Sie das ähnlich?

Nee. Ich mag von meinem Berufsleben nicht denken, ab 1989 alles falsch gemacht zu haben. Ich bin damals auf ein Karussell gesprungen. Das war bunt, mit vielen Lichtern, drehte sich und verlieh das Gefühl: Hier hast du Spaß, hier kannst du jede Menge machen. Aber das Karussell dreht und dreht sich und bewegt sich dabei nicht von der Stelle. Die Frage lautet jetzt: Ist das, was ich in der Vergangenheit gemacht habe, in seiner feuilletonistischen Wahrnehmung überwindbar? Der Zuschauer jedenfalls hat mir ein bestimmtes Label verliehen und sucht bei mir immer noch eine bestimmte Art der Performance. Die Grenze dessen, was ich mit dieser Einschätzung ergo Festlegung durch den Zuschauer machen kann, war die Ultimative Ostshow mit Axel Schulz. Komischer etwa kann ich nicht zu sein versuchen. Sonst wird die Marke verwässert. Und etwas Schlimmeres können Sie im Fernsehen nicht machen.

Worin unterscheiden sich öffentlich-rechtliche und private Magazine?

Nehmen Sie zwei beliebige Magazin-Beiträge, und ich brauch‘ fünf Sekunden, um zu erkennen, welcher öffentlich-rechtlich ist.

Woran?

Ganz einfach: Es ist keine Musik drauf. Optische und akustische Effekte, Musikuntermalung – sobald das fehlt, weiß ich, das ist öffentlich-rechtlich. Der Privat-TV-Zuschauer ist Reize gewohnt. Wenn Sie ihn über zwei Werbeinseln hieven wollen – das ist echt Arbeit. Gerade um die späte Uhrzeit. In der Akte müssen wir ihn sogar bisweilen über vier Blöcke leiten. Um die auszutarieren, muss ich gewaltig in den Orgelkasten greifen. Deshalb lassen wir nicht allein die feinen Zwischentöne auf den Zuschauer wirken wie etwa die Formulierungen von Firmenchefs oder Behördenleitern, sondern zeigen Auseinandersetzung: Den Kampf für unser Opfer, für unseren Protagonisten, den tragen die Akte-Reporter in der freien Wildbahn aus. Da braucht‘s schon Mannesmut vor Fürstenthronen. Die kesse Lippe, die andere Magazine nur in der Sprecherkabine riskieren lassen, ist für die Akte zu wenig.

Geht der Primat der Visualisierung nicht zulasten der Informationen?

Ich würde mich nie an ein Thema setzen, das mit unseren Mitteln nicht darstellbar ist. Schon bei der Themenauswahl lautet die Frage: Auf welche formalen Mittel, die ich habe und brauche, um dem Zuschauer letztlich Produktsicherheit zu garantieren, kann ich zurückgreifen? Insofern halte ich ihre Frage für theoretisch.

Dann stelle ich sie anders: Beraubt es den Zuschauer seiner Chance, Hintergründe zu erfassen, wenn Schnitte, Action, Musik im Vordergrund stehen?

Bleiben Sie nicht an den Hilfsmitteln der Attraktion hängen. Wir versuchen permanent, hinter verschlossene Türen zu blicken, um Ursache und Wirkung, Verantwortung, gerne Wahrheit herauszufinden. Der Zuschauer hat in Deutschland 30 Free-TV-Kanäle. Wenn ich da die journalistischen Leistungen betrachte, habe ich von platt bis exaltiert alles. Deswegen muss ich mir aus 83 Millionen Deutschen die drei Millionen Zuschauer heraussuchen, die unsere Art mögen. Und denen bereite ich wiederum ein Potpourri, das ihre Existenz wiederspiegelt. Wenn ein Zuschauer sagt, er möchte tiefer in die politische Welt blicken, muss er sich eine andere Sendung wählen.

Hat ihr Journalismus eine andere Neugierde als der öffentlich-rechtliche?

Eine stärker gepolte. Meine Neugierde rührt daher, was den Zuschauer interessiert. Es ist seine Welt, was können wir da rausholen? Das lässt mich vibrieren. Sie holen mich nie von der Theorie in die Praxis, immer umgekehrt: Was ist die Auswirkung von Politik, real auf einzelne Menschen. Wir fragen: Wenn Otto Schulze arbeitslos wird, was passiert mit ihm? Und wenn er dann bereit ist, seine Hosentaschen auszuleeren und von uns durchrechnen zu lassen, was er ab Januar für Leistungen bekommt, dann ist das unsere Geschichte. Immer ein praktischer, praktischer, praktischer Ansatz.

Und immer an die Leser denken…

Es ist ja die eigentliche Revolution des Privatfernsehens, dass wir Politik, öffentliches Geschehen, personalisiert haben. Das hat sich längst auf die Kollegen vom Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen – es gibt ja einen regen Austausch der Köpfe – übertragen. Der Personalisierung wird irgendwann ein Denkmal gesetzt. Auf einmal haben alle gemerkt: Es geht im Grunde nicht um Gesetze, um graue Theorie, sondern um Menschen. Die wissen oft nicht mehr ein noch aus, weil das, was über sie hereinbricht, so kompliziert wird, dass du drei Anwälte brauchst, um es zu klären.

Stammt diese Fürsorge aus dem verhinderten Humanmediziner Meyer?

Sensibel gefragt, herzlichen Dank. Kann sogar sein. Ich wurde im Volontariat so gepolt. Ein Ausbilder sagte: Wenn du auf eine Pressekonferenz gehst, nimmst du nicht mal einen Kaffee an. Das würde man heute von keinem Volontär mehr verlangen, aber es steckt tief in mir drin: Wir nehmen nichts, dann haben wir die Freiheit, alles zu schreiben. Ich bin auf Neugier gepolt, ich will verstehen und möchte, dass die Leute das auch tun. Denn das größte Problem unserer Gesellschaft ist der knowledge gap – die einen werden immer schlauer, die anderen wissen gar nicht mehr, wo sie stehen geblieben sind.

Was im Vergleich zu den USA noch ganz gut aussieht.

Was aber zu wenig ist. Wir leben in einer Informationsgesellschaft; im Prinzip ist jede Information zu jeder Zeit fast überall verfügbar. Und doch gibt es reichlich Menschen, die sagen: Ich weiß nicht, nie gehört.

Weil es zu viele Informationen gibt.

Ergo musst du sortieren. Für Journalisten gibt’s eine Menge zu tun.

Sie tun das bei Akte mit einer Themenauswahl wie dieser: Ich-AG, Blick hinter eine sat1-Gewinnshow, also Eigenwerbung, Sexsüchtig Frauen im Internet, Brennpunkt Neukölln – ist das Bild oder Stern?

Das Label, das Sie uns aufkleben, steht Ihnen frei. Wir wollen die Leute dazu bringen, uns zu gucken. Sie sollen sagen: Das bringt mich weiter, ich kapiere was, ich hab ein Schaufenster in die Welt. Und schalte nächste Woche wieder ein.

Sie bezeichnen sich als neugierig bis zur Peinlichkeit. Wo beginnt die?

Peinlichkeit ist schwer zu definieren. Das ist so ein Backfisch-Ausdruck. Mädchen von 13 Jahren ist alles peinlich, aber als Journalist darf ich die Kategorie für mich nicht in Anspruch nehmen. Hinter jeder Ecke wartet das große Abenteuer, sagte Kisch. Jede Frage muss stellbar sein. Mir persönlich ist einiges peinlich. Das liegt an meiner konservativen Erziehung. Ich bin aber berührt davon, was Menschen machen und will mehr herausfinden. Schließlich gibt’s drei Grundbedingungen in meinem Beruf: Neugierde, Querdenken und wenn einer Nein sagt, dreimal nachfragen.

Und viermal ist peinlich?

Irgendwann muss auch mal gut sein, sonst kommt man sich ja blöd vor.

Treibt Sie ihre Neugierde noch woanders hin – zu ARD oder ZDF?

Ich bin eine treue Seele. Aber ich habe mich für den Beruf des selbständigen TV-Produzenten entschieden. Und der kann überall aufspielen – sogar unerkannt.

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