Menschenverachtung & Tankstellenträume
Posted: May 16, 2016 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |Leave a comment
Die Gebrauchtwoche
9. – 15. Mai
Für seine Art Publizistik wünscht man Mathias Döpfner ja manchmal zwei, drei Jahre Einzelhaft bei Lidl-Bier und RTL2 im CSU-Ortsbüro Wolfratshausen, aber das hat er dann doch nicht verdient: die volle Aufmerksamkeit von Reccep Tayyip Erdoğan , dessen globaler Amoklauf gegen alles, was freier Meinungsäußerung nahe kommt, beim Springer-Chef gelandet ist. Für seine unangefordert zugesandte Solidaritätsadresse an Jan Böhmermann soll auch der oberste Dienstherr einschlägig bekannter Türkenhasser-Periodia aus Sicht des Sultans an den Gal…, ach nee, das geht ja gar nicht, bei uns postheroischen Kuscheleuropäern.
Von denen sich einige trotz schmaler Krawatte einfach nicht unterkriegen lassen vom Furor machtgeiler Despoten, mit deren Hilfe ein CDU-Hinterbänkler durch empörtes Verlesen eines gewissen Schmähgedichtes ins Schlaglicht einer Bundestagsdebatte rückte. Anders ausgedrückt: seit voriger Woche ist Neo Magazin Royale zurück und mit ihm ein Moderator, der sich partout weigerte, die von Angela Merkel geforderte Bußhaltung einzunehmen, der vielmehr alles tat, um die Majestätsbeleidigung am Köcheln zu halten.
Zum Glück ging‘s aber auch noch um erdoğanfernes Zeugs wie Gregor Gysi oder zwei Schauspieler, die Böhmermanns Team in Vera int-Veens Dokusoap Schwiegertochter gesucht schleuste, um das Format und damit RTL insgesamt als das zu entlarven, was beide sind: zynisch, menschenverachtend, debil. Da kann der Sender im Anschluss noch so verlogen Fehler einräumen und die Redaktion feuern.
Angesichts solcher Auswüchse sehnt man sich fast schon nach dem arglosen Privatfernsehen früherer Tage zurück, das RTL im Herbst recycelt. Dann wird nicht nur das Familien Duell mit Inka Bause als Werner Schulze-Erdel aus der Kiste gezerrt; auch Glücksrad und Jeopardy! kehren mitsamt dem Spielshowfossil Ruck Zuck zurück, das natürlich Oliver Geissen exhumiert, der bei Bedarf wohl auch den Hütchenspieler Salvatore gäbe. Ob das Mies von einst so zum Gut von jetzt wird?
Die Frischwoche
16. – 22. Mai
Das Gut von gestern jedenfalls ist seit einiger Zeit ziemlich oft fürs aktuelle Besser zuständig. Wann immer Comedians der dualen Frühphase auftreten, wird es derzeit ansehnlich: Bastian Pastewka, Matthias Matschke, Anke Engelke und immer häufiger Michael Kessler. Vorige Woche ist das Switch-Gewächs beim ZDF als Ottonormaldeutscher Thomas Müller ins Jahrhunderthaus gezogen, um Sitten und Gebräuche der 20er, 50er, 70er Jahre in einem schönen Altbau nachzuspielen. Dienstag (20.15 Uhr) geht‘s dann um die Liebe. Oder was die spießbürgerliche Norm dafür hielt: Konventionen, Zwang im Übermaß, also eher kein Gefühl.
Dank Kesslers Spielfreude wird daraus ein ansehnliches Stück Infotainement. Dass ein viel besseres zwei Tage später um 22.15 Uhr gefolgt von Schulz und Böhmermann im Spartenableger Neo läuft – geschenkt. Im einst als ebensolcher geplanten, längst vollprogrammatisch tätigen Kulturkanal Arte läuft gleich heute die Perle der Woche: ein ganzer Tag ums Thema Tanke, an der Thomas Müller aus dem Jahrhunderthaus einen spürbaren Teil seines Lebens verbringt. Ab 11.30 Uhr reist der polyglotte Lebenskünstler Friedrich Liechtenstein zehn Tankstellen-Träume in ganz Europa ab. Anschließend folgen fünf wesensverwandte Filme mit Zapfsäulenfokus wie der schwarzweiße Evergreen Die Drei von der Tankstelle (17.35 Uhr) oder um 20.15 Uhr der Nicholson-Klassiker Wenn der Postmann zweimal klingelt.
Andernorts steht der Pfingstmontag im Zeichen weniger erbaulicher Wiederholungen, und falls doch mal was Neues dabei ist, wird es wie Steve McQueens oscarprämiertes Sklaven-Epos 12 Years a Slave auf Pro7 von einer halben Stunde Werbung entwürdigt, was angesichts des Themas noch schwerer verständlich ist als ein Jubiläum, das RTL am Mittwoch drauf mit viel Trara feiert: die 6000. Folge Gute Zeiten, schlechte Zeiten um 20.15 Uhr, gefolgt von Die große GZSZ Erfolgsstory. Natürlich ohne Bindestrich – Dinge wie Orthografie finden ebenso wie Bildung, Niveau oder Verantwortungsbewusstsein weder in der ewigen Soap noch dem Sender ringsum Platz.
Ein kluger, gehaltvoller, ausgewogener Schwerpunkt zur Männlichkeit, wie ihn 3sat parallel zeigt, fände sich im Privatfernsehen hingegen nur, wenn Til Matthias Schweig(höf)er sie ulkig-brachial definieren darf. Was schräg vorbei am neuen, leicht verworrenen, aber angenehm unaufgeregten Franken-Tatort am Sonntag eine Überleitung zur schwarzweißen Wiederholung der Woche förmlich aufdrängt: Seilergasse 8, ein Defa-Klassiker von 1960, der am Dienstag um 22.50 Uhr (MDR) im Kontext eines Giftmordes subversive, geschlechterrollenkritische Töne anschlägt und damit gut zur vorangehenden Doku Kalaschnikow und Doppelkorn passt, die um 22.05 Uhr das Männerbild realsozialistischer Filme seziert. RTL stellt das tradierte Denken von schwacher Frau an starker Schulter dann in der Farbwiederholung von 1987 aber wieder einigermaßen her, wenngleich auf unvergleichlich romantische Art und Weise: Dirty Dancing (Samstag, 20.15 Uhr, RTL) mit dem wohl tollsten Johnny der Filmgeschichte und zwei Melonen in tragender Nebenrolle.