2 Bier – 1 Platte

Marthe-SwissSWISS & Rio Reiser

Es scheint, als hätten SWISS & Die Andern bei der Titelvergabe ihres neuen Albums Missglückte Welt, die Ereignisse rund um den Hafengeburtstag im Mai in möglichst passenden Worten zusammenfassen wollen. Da versucht eine so genannte Alternative für Deutschland zuerst den Punkrock einfach mal gänzlich zu verbieten und bringt SWISS und seiner Band dann auch noch um jede Menge Lob und Anerkennung, indem deren kritische Äußerungen den anderen Hamburger Punkern zugeordnet werden. Frech. Im zugegebenermaßen vor der Hafensause geführten Bierplattengespräch bekommt Frontmann SWISS deshalb nun Gelegenheit sich politisch zu positionieren und dabei noch über seine große musikalische Liebe zu sprechen.

Von Marthe Ruddat

Der Otzentreff in St. Pauli an einem lauen Dienstagabend Anfang Mai. SWISS hat gleich noch Probe und trinkt Kaffee, für Marthe gibt es Dithmarscher

freitagsmedien: Nachdem ich so einiges über dich gelesen habe, bin ich ja sicher, dass du heute Ton Steine Scherben oder die Dreigroschenoper mitgebracht hast.

SWISS: Haha, da liegst du ziemlich richtig! Es gibt so viele Songs von Rio, die mich sehr mitgenommen haben. Kennst du Rios Am Piano?

Nee, kenn’ ich nicht.

Ich glaube das ist auch eher ein Sampler oder so. Auf der Platte hat er Ich sitz an Land am Klavier gespielt. Einfach Wahnsinn! Aber ich soll mich hier ja für eine ganze Platte entscheiden und da müssen es dann die Scherben mit Wenn die Nacht am tiefsten… sein. Magst du das?

Ja, ein sehr emotionales Album!

Wenn die Nacht am tiefsten… erscheint 1975 und ist das dritte Album von Ton Steine Scherben. Im Unterschied zu seinen Vorgängern widmet sich das Album eher persönlichen Gefühlen als revolutionären Zielen.

Ja, find’ ich auch! Bei diesem Album bin ich wie der Pawlow’sche Hund: Du musst die Songs nur anmachen und ich hab sofort Pipi in den Augen, besonders bei Marthe-RioLand in Sicht. Das sind auch so die Songs, die ich Zuhause das erste Mal wahrgenommen habe.

Also haben deine Eltern viel Ton Steine Scherben gehört?

Genau. Im Nachhinein haben die wirklich einen überragenden Musikgeschmack. Das habe ich damals gar nicht so realisiert.

Wo siehst du die Verbindung zwischen den Scherben und der Musik von SWISS & Die Andern?

Musikalisch sind wir natürlich sehr unterschiedlich. Aber ich glaube es gibt schon Parallelen. Die erste Scheibe der Scherben war ja tierisch politisch und darauf wurden sie dann einfach festgenagelt. Als linke Band konnten sie zum Beispiel nie große Gelder für Konzerttickets verlangen, das war eher so eine Art Solispende.

Den musikalischen Wandel auf Wenn die Nacht am tiefsten… begründen die Scherben damals damit, dass sie nicht als Hausband der linken Szene betrachtet und auf politische Texte reduziert werden wollen.

Ich merke, dass wir diesen Weg auch gehen. Unsere Fans sind sehr links und das ist ziemlich cool. Andererseits kann das nerven, wenn es extrem wird und diskutiert werden muss, wer welche Musik hören darf. Ich habe überhaupt keinen Bock mich von solchen Sachen vereinnahmen oder instrumentalisieren zu lassen. Ich bin schon immer ein links denkender Mensch und brauche keinen Credibility-Stempel von irgendwem.

Die Fans, die sich in euren Sippschaften zusammentun, brauchen diesen Stempel aber scheinbar schon.

Naja, ich weiß schon, was du meinst, aber eigentlich geht es dabei um was anderes. Als dieses ganze Missglückte Welt-Ding angefangen hat, haben sich davon total viele Leute angesprochen gefühlt. Viele identifizieren sich mit unseren Texten und den Themen und Problemen, die wir ansprechen. Die Zickzackkinder sind unser engster Kreis. Sie sind in ihren Sippschaften organisiert. Das heißt aber auch, dass sie sich gegenseitig unterstützen. Wenn die Berliner Sippschaft zum Beispiel nach Hamburg kommt, dann müssen die Hamburger denen was zum pennen organisieren und so.

Das Wort Zickzackkinder ist angelehnt an den gleichnamige Roman David Grossmanns. Das Buch erzählt die Geschichte eines 13-jährigen Jungen, der auf einer Reise immer mehr über die Vergangenheit seiner Eltern erfährt. Es geht dabei insbesondere um Beziehungen und das Erwachsenwerden.

Marthe1Das klingt ja mehr nach Politik als nach Musik.

Ja, das ist schon krass. Mittlerweile sind glaube ich über 300 Leute in Sippschaften organisiert. Das ganze ist aber sehr demokratisch und hat auch immer was mit der Band zu tun. Ich habe schon immer sehr provozierende Musik gemacht und war nie ein Künstler der Industrie. Die großen Firmen haben immer gesagt, dass sie mich nicht verkaufen können, weil ich aus dem Raster falle. Wir haben aber gemerkt, dass es davon noch mehr Menschen gibt und die unser Ding feiern. Deshalb haben wir uns die nötigen Strukturen einfach selbst gebaut. Bei dem neuen Album haben die Sippschaften zum Beispiel in jeder Stadt Plakate geklebt und gestickert. Andererseits dürfen die Leute aus einer Sippschaft bei Konzerten auch schon zum Soundcheck rein, kriegen Freibier und dürfen mit uns rumhängen. Das mag ich halt. Man muss nur ein bisschen aufpassen, dass das Ganze nicht zu dogmatisch wird. Bei Neuaufnahmen gab es auch schon mal so stasimäßige Aktionen, wie: „Der hat 2013 das und das Video gepostet, können wir solche Leute dulden?“ So was nenne ich dann gerne mal Punkfaschismus und davon will ich mich lösen.

Ich frage mich gerade, warum du dich heute nicht für Keine Macht für Niemand entschieden hast…

Das ist einfach so, weil mir die Songs auf Wenn die Nacht am tiefsten… so viel bedeuten. Ich weiß jetzt nicht genau, welche Songs auf Keine Macht für Niemand sind, aber so Titel wie König von Deutschland lösen in mir halt nichts aus. Bei Land in Sicht höre ich Rios poetische Schreibe. Rio ist so ein Poet gewesen! Sag mir wer, wenn nicht er! Und besonders seine Sehnsuchtsmusik hat es mir halt angetan und diese Songs haben mich auch beim Schreiben am meisten beeinflusst. Ich glaube auch wir werden auf dem nächsten Album ein bisschen sehnsuchtsmäßiger. Gar nicht, um die Scherben nachzumachen. Aber ich glaube hier gibt es auch in Zukunft Parallelen.

 

Ton Steine Scherben – Land in Sicht

Land in Sicht, singt der Wind in mein Herz.

Die lange Reise ist vorbei.

Morgenlicht weckt meine Seele auf.

Ich lebe wieder und bin frei.

— 

Und die Tränen von gestern wird die Sonne trocknen,

die Spuren der Verzweiflung wird der Wind verweh’n.

Die durstigen Lippen wird der Regen trösten

und die längst verlor’n Geglaubten

werden von den Toten aufersteh’n.

Ich seh die Wälder meiner Sehnsucht,

den weiten sonnengelben Strand.

Der Himmel leuchtet wie Unendlichkeit,

die bösen Träume sind verbannt.

Und die Tränen von gestern wird die Sonne trocknen,

die Spuren der Verzweiflung wird der Wind verweh’n.

Die durstigen Lippen wird der Regen trösten

und die längst verlor’n Geglaubten

werden von den Toten aufersteh’n.

 

In welchen Momenten hörst du Wenn die Nacht am tiefsten…?

Ich höre die Scherben eigentlich meistens, wenn ich nicht so gut drauf bin.

Damit es dir besser geht oder um dich ein bisschen im Unglück zu suhlen?

Ich weiß was du meinst. Aber eigentlich beides nicht. Es ist eher das Gefühl, zu einem alten Kumpel zu gehen, der mich versteht. Ein alter Kumpel, der um meine Schwächen weiß und dem ich deshalb auch nichts vormachen muss.

Ist es eines deiner persönlichen Ziele, dass deine Musik auch so lange erfolgreich und bedeutend bleibt, wie die der Scherben?

Unbedingt! Ich will vor allem Songs hinterlassen, das ist ein großer Gedanke. Ich will nicht sagen, ich hab voll viele Platten verkauft, sondern, dass ein Song die Leute immer noch berührt. Ich war neulich mal im Schauspielhaus, da hat Jan Plewka Rios Songs gesungen. Und du hast bei den ganzen Leuten im Publikum den Glanz in den Augen gesehen und gemerkt, wie viel ihnen diese Musik bedeutet. Das hat mich total bewegt. Wenn ich das mit nur einem Song schaffe, das wär super. Geld ist eh eigentlich nur ein Abfallprodukt von Kunst.

Und wie willst Du das erreichen?

Ich glaube, das läuft auch darüber, wie ich meine Seele ausschütte. Es gibt Songs, die Gefühlsregungen auf einem Kommerzniveau sehr einfach darstellen: „Mein Herz brennt“, „Die Sehnsucht treibt mich“, also all diese institutionalisierten Worthülsen, die bei mir nichts mehr auslösen. Rio hat vermutlich dasselbe beschrieben, aber viel poetischere Worte gefunden. Darum geht es heute auch. Andere Worte zu finden, an denen sich die Menschen reiben. Ich will die Menschen nicht erziehen, sie sollen einfach mal drüber nachdenken, was ich sage. So ein bisschen Alexander Kluge-mäßig.

SWISS & Die Andern spielen im Sommer auf einigen Festivals und starten im Herbst eine große Missglückte Welt-Tour. Infos und Tickets gibt’s auf missglueckte-welt.de oder bei facebook. Wer die Geschichte vom Hafengeburtstag noch nicht kennt, dem sei der Beitrag von Michel Abdollahi empfohlen: https://kommentarrex.wordpress.com/2016/05/10/die-alternative-fuer-deutschland-afd-und-das-internet/.



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