Marteria, Anneli Drecker, LIFE
Posted: May 26, 2017 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik |Leave a comment
Marteria
Der Unterschied zwischen “conscious” und “politisch” ist im Bereich populärer Musik ziemlich simpel: Wenn HipHop zum Beispiel ersteres ist, denkt er kritisch über die Verhältnisse nach, ist er eher letzteres, dann mit ideologischer Stoßrichtung. Die feministische Rapperin Sookee aus Berlin ist demnach bei aller Kampfkraft eher nachdenklich, der antideutsche Rapper Disarstar aus Hamburg bei aller Nachdenklichkeit eher ideologisch. Und dazwischen? Gibt es vor allem einen: Marten Laciny, genannt Marteria. Auf dem traditionell eher dünn besiedelten Terrain dezidiert linken Sprechgesangs füllt der Rostocker die Leerstelle zwischen Poesie und Politik. Und sein neues Album hat sich dafür ein ziemlich interessantes Objekt ausgesucht: Aliens.
Wobei Aliens auf Roswell nicht für Außerirdische, sondern Außenseiter stehen wie er selbst oft einer war in seinen 34 Jahren – als HipHopper unter Glatzen, als Model in Amerika, als Fußballer mit Profi-Ambitionen, jetzt als großes Tier im alten Hood. Zwölf Stücke lang rappt sich Marteria mit düsterem Bass und wenig Chichi durch ein Leben zwischen Plattenbau, Laufsteg, Nationalmannschaft und Starkult. Dabei kritisiert er die Verhältnisse, ohne draufzuhauen. Er singt an gegen Konsumwahn und Bling Bling, aber nicht von oben herab, sondern von innen heraus. Er zieht dabei wie immer hinreißende Punchlines aus dem Ärmel, aber nicht nur um der Punchline Willen. Er ist halt ein Poet unter den Kämpfern des politisch bewussten Rap.
Marteria – Roswell (Four Music)
Anneli Drecker
Ach, ihr Feenwesen des Pop! Ihr Traumtänzerinnen wie Kate Bush! Ihr Folksirenen wie Tori Amos! Mit eurer esoterischen Gefühlsduselei macht ihr es Menschen mit rationalerem Geschmack schon ganz schön schwer, euch ernstzunehmen. All diese Geigen und Zimbeln und Waldgesänge im Pianogeplödder – fraglos harmonisch, aber eben auch ein bisschen nervig. Da tut es ungeheuer gut, wenn der wallende Faltenrock da mal ein bisschen auf dicke Hose macht, wenn etwas Glamour in die Erdverbundenheit hineinrauscht. Wie bei Anneli Drecker.
Schon in den 80ern war der damalige Teenager im Biotop des New Romantic gelandet und über ihre Heimat Norwegen hinaus wahrgenommen worden. Vor zwei Jahren dann folgte das Comeback und jetzt also Revelation For Personal Use, ein Feenwesenfolkpoptraumtanz wie er im Buche steht – wäre da nicht dieser orchestrale Ansatz, den Dreckers Dutzend versierter Mitmusiker über die Emotionalität ihrer Stimme kippen. Das klingt fast nach Big Band, ein Swing-Element im Grünen, gewürzt mit kleinen Electronica-Einsprengseln. Wenn schon Gefühlsduselei – dann so!
Anneli Drecker – Revelation For Personal Use (Rune Grammofon)
LIFE
Mit Gefühlsduselei hat eine neues Quartett aus England so gar nichts am Hut. LIFE, so heißt es proklamatorisch, machen politisch (selbst)bewussten Noiserock aus dem verarmten Industriegürtel rings um Manchester, der recht emotionslos gegen die Verhältnisse angrölt. Wobei Grölen jetzt plumper klingt, als es ist. Mit etwas Hall zerkratzt, klingt Mez Sanders-Greens Stimme wunderbar nach dem Wavepunk der späten Siebziger, wenn er auf dem Debütalbum Popular Music von links gegen rechts anschreit – Donald Trump, Nazis, die Eliten, solche Sachen.
Was die vier Freunde mit den engen Hosen und den tiefhängenden Gitarren dabei allerdings angenehm von vergleichbarem Alternative unterscheidet: Sanders-Green, Mick Sanders, Loz Etheridge und Stewart Baxter definieren ihn strikt als Partysound, der zwar auch schon zum Nachdenken anregen, aber nicht unterwandern soll. Das One-Two-Three-Four-Go-Konzept macht nie Kompromisse, immer volles Rohr. Das erinnert manchmal ein wenig an die jungen Arctic Monkeys, eine schöne Erinnerung.
LIFE – Popular Music (Cargo)