Gelassenheiten & Totentänze

Die Gebrauchtwoche

30. Oktober – 5. November

Klassische Medien, das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse einer neuen Woche mit terroristischem Ereignis, haben aus ihren Fehlern gelernt. Die Berichterstattung über den Anschlag von New York war vorwiegend angemessen, also eher nachrichtlich als reißerisch. Selbst kommerzielle News-Redaktionen von Pro7 bis in die Aufmerksamkeitsstaubsauger des Internets ordneten die Attacke da ein, wo sie hingehört: In den Alltag, zu dem ein Islamist, der wahllos Menschen aus dem Leben radiert, mittlerweile nun mal gehört wie herbstliche Sturmfluten und Donald Trumps Twitter-Exzesse. Was unbedingt berichtenswert ist, muss schließlich keinesfalls sensationslüstern aufgeblasen werden.

Die Tagesschau hat sich den üblichen Brennpunkt also verkniffen. Auch seriöse Tageszeitungen sahen von seitenlangen Analysen dessen ab, was sich zusehends von allein erklärt und überdies kaum zu verhindern ist. So blieb genügend Zeit und Muße, eine andere Art von Horror zu debattieren: Den Grusel-Tatort vom vorvergangenen Sonntag. Dramaturgisch, ästhetisch, künstlerisch war der hessische Extremfall Fürchte dich zwar ungewöhnlich mysteriös, aber alles andere als außergewöhnlich gut. Deshalb fühlte sich die ARD womöglich bemüßigt, derlei Experimente fortan streng zu limitieren.

„Grenzüberschreitende“ Produktionen sollen künftig vorab gemeldet werden, damit sich ein Desaster wie der saftig missratene Improvisationsfall Babbeldasch vom Februar nicht wiederholt und lieb gewonnene Sehgewohnheiten unangetastet bleiben. Der Reihenkoordinator Gebhard Henke vom WDR erklärte das klassische Ermittler-Szenario jedenfalls zur „DNA des Tatorts“. Es wird also auch weiterhin fleißig gefragt, wo Tatverdächtige denn vorgestern Abend gegen halb zehn gewesen sind. Für Ausbrüche bleibt also auch weiterhin vor allem Felix Murot zuständig.

Die Frischwoche

6. – 12. November

Ab heute kriegt er allerdings Unterstützung im Internet. Dort liefert Tatort-Plus sechs Kurzfilme, in denen ein biederer Pathologe mit Schnauz (Peter Trabert) im Dialog mit den Toten auf dem Seziertisch die Abgründe des Lebens erörtert. Dank Ralf Husmann (Buch und Regie) gerät Lammerts Leichen dabei allerdings nicht bloß zum digitalen Spin-off der Dresdner Kommissarinnen, sondern entwickelt in aller Kürze große Wahrhaftigkeit mit viel Aberwitz. Unbedingt mal ansehen!

So wie den aberwitzig wahrhaftigsten Film dieser Woche. In Einer nach dem anderen (Montag, 22.15 Uhr, ZDF) übt ein norwegischer Schneepflug-Pilot (Stellan Skarsgård) erstaunlich kreativ und sehr effektiv Rache an jenem Drogenclan, der seinen Sohn auf dem Gewissen hat. Irgendwie kein Wunder, dass so etwas aus Skandinavien stammt. Wobei man diesbezüglich die Kirche schon auch mal im Fjord lassen muss. Denn der schwedische Fünfteiler Springflut mag ab Sonntag im ZDF atmosphärisch so dicht sein, wie man es auf diesem Sendeplatz aus Nordeuropa kennt. Die Aufklärung eines uralten Mordes, der sich zu einer gewaltigen Verschwörung entwickelt, ist im Kern unglaublich berechenbar und damit leicht öde. Na ja, vielleicht liegt es auch daran, dass er vom ZDF koproduziert wurde…

So richtig rasend toll sind demgegenüber zwar auch die zwei Serienempfehlungen aus der Welt des Streamings nicht; sowohl White Famous als auch The Sinner stechen allerdings schon deshalb aus den Importen heraus, weil man sie gut im Original sehen kann, statt in der grauslichen Synchronisation von Springflut. Im Sky-Format geht es ab Dienstag um den schwarzen Comedian Floyd (Jay Pharoah), dessen Erfolg beim weißen Publikum ein sehr interessantes Panoptikum sämtlicher Rassismen der amerikanischen Gesellschaft entfaltet. Im Netflix-Pendent geht es zeitgleich um eine junge Mutter, die ohne ersichtlichen Grund einen Fremden ersticht, was von einem ungewöhnlich mitfühlenden Detective bearbeitet wird.

Wem all dies zu fiktional ist, der hat zwei wirklich seltsame Alternativen aus der Welt des Live-Ereignisses zur Auswahl: Am Montag zeigt Eurosport ab 18.30 Uhr die Polo-WM, bei der man sich mal nach Herzenslust über den Jet Set amüsieren darf. Und tags drauf läuft um 23.20 Uhr MTV unplugged nicht nur bei Kabel1, sondern auch noch mit einem Künstler, den man auf dieser einst lässigen Plattform wohl weniger erwartet hätte: Peter Maffay. Das Showbiz ist schon ein merkwürdiger Zirkus. Den man am besten ein paar erlesene Wiederholungen der Woche entgegensetzt: Am Montag etwa um 20.15 Uhr auf One: Christian Petzolds episches Frühwerk Die innere Sicherheit von 2000 mit Julia Hummer als Teenager-Tochter, die ausgerechnet auf der Flucht mit ihren RAF-Eltern erwachsen werden muss.

Zehn Jahre jünger, thematisch ganz woanders, ebenso gelungen: The Social Network (Mittwoch, 22.55 Uhr, Pro7) von David Fincher mit Jesse Eisenberg als Mark Zuckerberg. Bisschen älter (1966), inhaltlich noch weiter weg und mal wirklich auf unvergleichliche Art, nun ja, besonders: Die toten Augen des Dr. Dracula von Quentin Tarantinos großem Vorbild Mario Bava (Donnerstag, 23.25 Uhr, Arte). An gleicher Stelle dreht sich der schwarzweiße Hinweis um einen der größten Regisseure dieser Epoche: Sergei M. Eisenstein. Sein Durchhalteklassiker Panzerkreuzer Potemkin von 1925 läuft am Mittwoch im Anschluss an den Dokumentarfilm Die Russische Revolution und ihr Kino (21.45 Uhr). 64 Jahre älter ist der Tatort-Tipp mit Horst Schimanksi (Dienstag, 23.40 Uhr, WDR) und dem passenden Titel Der Pott.

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We Are Aust, Bootsy Collins, Baxter Dury

We Are Aust

Wer hinter Masken steckt, hat gemeinhin was zu verbergen oder macht furchtbar einen auf dicke Hose. Drei Viertel der Berliner Band Aust, die vor ihren Namen offenbar kürzlich We Are gesetzt haben, um sich von ein paar Schweizer Kollegen zu unterscheiden, treten nur seltsam vermummt auf. Ob das nun mit Geheimnistuerei zu tun hat oder doch eher mit dem Drang zur Effekthascherei sei mal dahingestellt. Aber was die Hauptstadtkarnevalisten im Hintergrund der unverkleideten Sängerin Olivia Gruschczyk musikalisch veranstalten, ist zugleich mysteriös und aufdringlich, aber sehr sehr unterhaltsam. Masken hin, Masken her. Wobei schwer zu sagen ist, was genau auf dem selbstbetitelten Debütalbum eigentlich genau zu hören ist.

Im Kern ist We Are Aust waviger TripHop, der allerdings anders als im Genre üblich mit diversen, oft funkensprühenden Spielereien aufgepumpt wird, bis es fast platzt. Bläser und Grandezza, Technoflächen und Popgedaddel, viel Bass, noch mehr Synthieraunen und im grandiosen Titelstück sogar mal eine Sechzigerjahre-Hammondorgel – andauernd passiert irgendwas Unerwartetes im Downbeat. Gut, manchmal passiert sogar ein bisschen viel und das dunkle Timbre von Olivia klingt nach Shakira. Oft aber ist es einfach so angemessen überfüllt, dass We Are Aust zu einer der tanzbarsten Erscheinungen zeitgenössischen Wave-Sounds werden.

We Are Aust – We Are Aust (RAR)

Bootsy Collins

Es gibt drei Sorten Popstar, die auch im Rentenalter noch den Fummel ihrer wilden Jahre tragen dürfen, ohne dass es peinlich wird. Kompromisslose Freaks, stilsichere Nostalgiker und beider Quintessenz: Bootsy Collins. Der markenbewusste Exzentriker aus Ohio hat den Soul schließlich schon als Bassist von James Brown mit schrillem Glamour zum Funk veredelt und in seiner Formation Funkadelic sodann zum Durchdrehen gebracht. Heute ist der Plateausohlenträger mit dem Sonnenbrillentick weiter dort, wo er vor gut vier Jahrzehnten begann. Und so viril, virtuos, so hingebungsvoll irre wie er seinen Funk mit – Happy Birthday! – exakt 66 noch zubereitet, sei ihm die überdrehte Aufmachung verziehen.

Auf seiner mittlerweile zwölften Soloplatte schafft es dieser Bootsy Collins mit zwei Dutzend Kollaborateuren verschieden großer Prominenz, eine Art Glossar sämtlicher Spielarten des Word Wide Funk – so lautet der Titel – zusammenzustellen. Und da bleibt definitiv kein Auge trocken, kein Bass ungeslappt, kein Genre unkommentiert. Alles für alle und zwar auf einmal. Allein das mitreißende Hot Saucer vereint HipHop feat. Big Daddy Kane mit Zackengitarrensoli und saftigem R’n’B zu einer kleinen Zeitrafferreise durchs halbe Metier. Ein Album wie der Funk selbst – tosend, fröhlich, grell, Bootsy.

Bootsy Collins – World Wide Funk (Mascot Records)

Baxter Dury

Wenn hingegen Baxter Dury eines nicht ist, dann tosend, fröhlich, grell oder sonst irgendetwas in Richtung funky. Daran ändert auch herzlich wenig, dass er seine verstiegen schönen Cockney-Erzählungen auf der neuesten Platte erstmals in ein unverhofft orchestrales Gewand hüllt. Hatte sich der Songwriter zuvor meist mit relativ wenig Brimborium umgeben, entfaltet Prince of Tears daher manchmal fast sinfonische Wucht. Dichte Schwaden windschiefer Geigen wehen durch viele der zehn Spoken-Word-Konstrukte. Geisterhafte Orgeln umnebeln die getragene Langsamkeit. Und so geht es immer und immer weiter auf diesem erstaunlichen Album.

Ständig durchstechen flatterhafte Gitarren den Backgroundgesang von Madelaine Hart. Und wenn der Sleaford Mod Jason Williamson dem Sohn der Siebziger-Ikone Ian Dury in Almond Milk mit ein paar Brocken Entrüstung seine Referenz erweist, wird der Freakpop des 45-Jährigen  noch ein bisschen reicher an Aberwitz. Er übersättigt das Album jedoch nicht mit Selbstgefälligkeit, gar Redundanz, sondern sorgt für große Spannung mit ein bisschen Spaß. Trotz der todessehnsüchtigen Stimme lungert Baxter Dury also wieder sehr lässig zwischen den Stühlen von Post Punk und New Wave herum.

Baxter Dury – Prince of Tears (PIAS)

 


Clemens Schick: bondböse & barcelonacool

Ich liebe es radikal

Zehn Jahre schwamm Clemens Schick (Foto: ARD/Lucia Faraig) sehr sicher durchs Fahrwasser des deutschen Theaters. Dann war er Bonds Gegenspieler und alles plötzlich anders. Zur Weltkarriere reichte es zwar nicht, aber für den Barcelona-Krimi (2. November, 20.15 Uhr, ARD) allemal. Der Mittvierziger über Städtekrimis im Ersten, den katalanischen Nationalismus am Drehort und was 007 so grandios macht.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Clemens Schick, Sie sind ein politischer Künstler, der sich über seine Arbeit hinaus gesellschaftspolitisch engagiert und voriges Jahr gar in die SPD eingetreten ist. Welchen Einfluss hat das auf die Auswahl Ihrer Rollen?

Clemens Schick: Wenn Sie jetzt hören wollen, dass ich nur Filme machen will, die diesem Engagement auch inhaltlich entsprechen, muss ich Sie enttäuschen. Solange darin nicht gerade zu Gewalt, Hass oder Rassismus aufgerufen wird, mache ich, was mir Spaß macht, mich fordert oder eben Geld einbringt. Ich muss ja auch leben von dem Beruf. Deshalb drehe ich vom kleinen Debütfilm über internationale Blockbuster bis hin zum Fernsehen eigentlich alles, sofern mir die Geschichte und meine Rolle darin gefällt. Und was im Grunde an erster Stelle kommt sind die Kollegen und die Regie. Bestimmte Botschaften sind dafür nicht vonnöten.

Gibt es trotzdem welche, die den Barcelona-Krimi für Sie interessant machen?

Schon. Wir thematisieren darin zum Beispiel das, was auch meinen eigenen Wohnort Berlin zurzeit auf schmerzhafte Art prägt: diesen komplett ausufernden Massentourismus, der alles überflutet. In Barcelona kommt allerdings, wie man grad sieht, dieser grassierende Nationalismus hinzu. Dass sich eine Region wie die katalanische im 21. Jahrhundert von Spanien abspalten will, finde ich schlicht unfassbar. Denn wenn etwas im Verlauf der Geschichte zielsicher zu Krieg und anderen Katastrophen geführt hat, dann war es schließlich zum Nationalismus gesteigerte Heimatliebe. Dieses Thema kommt allerdings erst im dritten und vierten Teil zur Sprache.

Bis dahin firmiert Barcelona indes vor allem als etwas, das den ARD-Krimis auf diesem Sendeplatz häufiger mal vorgeworfen wird: vor allem ein touristisch verwertbares Postkartenambiente zu zeigen.

Finden Sie? Barcelona ist wirklich traumhaft schön. Und ich weiß da, wovon ich rede; ein Teil meiner eigenen Familie lebt dort. Anderseits zeigen wir von der Stadt ja keineswegs nur die schönen, also die Postkarten-Seiten, im Gegenteil. Es kommen auch viele der schmutzigen Ecken vor. Andererseits finde ich es überhaupt nicht verwerflich, Filme als Angebote ans Publikum zu inszenieren, etwas zu tun, das vielen im Alltag unmöglich ist: um die Welt zu reisen, andere Länder zu sehen, fremde Kulturen. Das macht Fernsehen im Übrigen ebenso wie das Kino schon immer so; auch James-Bond-Filme sind seit jeher Hochglanzprospekte der jeweiligen Drehorte.

Hat sich für Ihre Arbeit als Schauspieler eigentlich grundlegend etwas geändert, nachdem Sie im ersten Einsatz von Daniel Craig als 007 einen Bösewicht spielen durften?

Das war damals ja eine ziemlich kleine Rolle. Die Aufmerksamkeit dafür war in Deutschland zwar groß. Schauspielerisch allerdings war mein Einsatz darin schlicht zu unbedeutend, um mir international einen Namen zu machen. Trotzdem war es eine unglaubliche Erfahrung, in diesen riesigen Produktionsprozess geraten zu sein. Handwerklich geschieht dort alles, wirklich alles am oberen Limit dessen, was möglich und machbar ist. Die kriegen für jede Arbeit die allerbesten Leute der gesamten Branche weltweit. Und das spürt man nicht nur beim Drehen, sondern im Ergebnis. Man darf auch nicht vergessen, dass ich zuvor zehn Jahre fast nur Theater gemacht hatte. Diese Welt zu verlassen und plötzlich sechs Monate mit einer solchen Produktion unterwegs zu sein, war ein großes Abenteuer.

Haben sie damals Blut geleckt, mehr solcher Großproduktionen zu drehen?

Was heißt Blut geleckt – es hat in mir den Wunsch entfacht, mobiler zu werden, mich nicht mehr an einen Ort zu binden. Deshalb hab ich damals auch mein Engagement am Schauspielhaus Hannover gekündigt, so gerne ich dort gearbeitet habe. Ich wollte freier sein in meinen Entscheidungen.

Fällt es nach so einem Schnupperkurs im ganz großen Kino, den Sie da 2006 absolviert haben, nicht ein bisschen schwer, dann wieder für den kleinen deutschsprachigen Markt zu arbeiten, also sich gewissermaßen zu erden?

Überhaupt nicht. Ich habe gleich danach einen kleinen deutschen Debütfilm gemacht, verglichen mit Bond ein fast lächerliches Budget, umgesetzt von Neulingen im Fach. Aber er war mir zu dem Zeitpunkt genauso wichtig wie der Bond-Film oder so wie jetzt mein Kommissar Xavi Bonet.

Was unterscheidet den eigentlich von all den Kommissaren, die jetzt bereits im Fernsehen ermitteln?

Das kann ich nicht sagen, weil ich nicht alle Kommissare im Fernsehen kenne. Aber mir gefällt es sehr, wie ruhig und zurückhaltend, fast ein bisschen eigenbrötlerisch er ist. Außerdem finde ich seine Bisexualität spannend. Xavi Bonet ist schweigend, beobachtend aber eben auch lebenshungrig und angetrieben von einer Wut die Welt gerechter zu machen.

Haben Sie die Figur unter diesem Gesichtspunkt mitentwickelt?

Auch. Ich war schon sehr früh im Entwicklungsprozess mit eingebunden. Was ein Geschenk ist, aber auch eine Herausforderung. Fernsehen zu machen bedeutet sich mit sehr viel mehr Mitwirkenden auseinander zusetzen als beim Kino oder Theater. Solange die Kinoproduktion nicht zu groß ist. Ich liebe es radikal. Andere weniger. Da gilt es dann sich irgendwo zu treffen. Was ein absolut normaler Prozess ist.

Sie haben vor ein paar Jahren öffentlich gemacht, selber schwul zu sein. Ohne jetzt über Privates reden zu wollen…

Danke!

… glauben Sie, dass man das Thema Homosexualität durch die Präsenz massentauglicher Charaktere wie diesen Fernsehkommissar so weit normalisieren kann, dass es irgendwann keiner Erwähnung mehr wert ist?

Meine Erfahrung ist so.


Julia Jentsch: Glücksset & Das Verschwinden

Ich hab auch keine 27 Katzen

Julia Jentsch ist der unscheinbarste Superstar des deutschen Films. Seit ihrem Durchbruch in Die fetten Jahre sind vorbei vor 13 Jahren steigt die Berlinerin selten von der Bühne vor die Kamera. Falls doch, kommt dabei allerdings großes Kino wie Sophie Scholl, Hannah Arendt oder 24 Wochen heraus. Nur Fernsehen macht die 39-Jährige kaum. Was ihm dadurch entgeht, zeigte sie gerade in Andreas Schmids erster TV-Arbeit Das Verschwinden (noch in der Mediathek). Jentsch spielt darin eine Mutter, die ihre verschwundene Tochter im Drogensumpf des bayerisch-tschechischen Grenzgebiets sucht. Ein Gespräch über deprimierende Rollen, Spaß am Set und was ein Stadtmensch wie sie auf dem Land zu suchen hat.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Jentsch, haben Sie in fast 20 Jahren vor der Kamera je eine so deprimierende Filmfigur gespielt?

Julia Jentsch: In Einzelfällen schon, aber nicht auf einer Strecke von sechs Stunden Laufzeit. Die Aussicht, über so viele Drehtage eine derart emotionale Anspannung aufrechtzuerhalten, hat mir schon im Vorfeld ungeheuren Respekt eingeflößt.

Und während des Drehens?

Da arbeitet man detailliert an jeder Szene und da gibt es auch viel starke, hoffnungsvolle oder auch sehr erschöpfende Momente, die zu spielen sind. Es gibt also gar nicht diese eine lange Anspannung sondern sehr viel mehr Abwechslung. Außerdem hat die Zusammenarbeit mit dem Team viele schöne Momente hervorgebracht. Ich fühlte mich von der  positiven Grundstimmung und der Lust am Filmen selbst durch schwerste Stoffe getragen. Zumal ich viele frühere Kollegen der Münchner Kammerspiele getroffen habe und schon immer mal mit Hans-Christian Schmid arbeiten wollte, dessen Filme mich seit langem begleiten.

Wenn schon vor der Kamera nie gelacht wird, dann wenigstens daneben…

Ach, es gab auch in der Serie abgesehen von den Partys meiner Filmtochter und ihrer Freundinnen ja schon auch ein paar fröhliche Momente, etwa mit Michelles kleiner Tochter. Aber stimmt schon – die Stimmung am Set war deutlich besser als in der Handlung.

Färbt diese Tristesse des Charakters eigentlich auch mal auf die Darstellerin ab?

Überhaupt nicht. Schon, weil ich in jeder noch so traurigen Figur immer auf der Suche nach Kraft und Hoffnung bin, die das überlagern könnte.

Ist es leichter für eine Schauspielerin, aus einer traurigen Grundstimmung heraus etwas Heiteres zu spielen oder aus einer heiteren Grundstimmung etwas Trauriges?

Inwiefern meine Emotionen auf die der Rolle abfärben? Es ist meine Aufgabe, dagegen an zu arbeiten, wenn ich vor einer Szene was Blödes oder Schönes erlebt habe; auf die Rolle darf weder das eine noch das andere abfärben. Umso besser ist es, wenn ich so offen und aufnahmefähig bin, dass die Emotionen einer aufgewühlten Figur wie Michelle ebenso wenig auf mich abfärben wie umgekehrt meine auf sie.

Ist diese Frau, deren drogensüchtiges Kind spurlos verschwindet, eine reine Kunstfigur oder stecken darin auch Bezüge von Ihnen?

Es ist eine Kunstfigur, aber keine reine. Dafür ist sie zu realistisch. Als Schauspielerin interessiert mich aber grundsätzlich das andere, in diesem Fall: alleinerziehend, Altenpflegerin, Drogenumfeld; darauf habe ich schon in der Vorbereitung den Fokus gerichtet. Was dann von mir persönlich einfließt, kommt ganz automatisch.

Wenn das interessante Andere so radikal und krass ist wie in diesem Fall – denkt ein Großstadtgewächs wie Sie da, das könne ja gar nicht sein, in der heilen Provinzwelt?

Nein, das habe ich nicht gedacht, weil Kleinstädte oder Dörfer im Film so oft als radikale, krasse Lebensräume beschrieben werden und natürlich auch ihre Probleme haben. Aber in Großstädten gibt es diese Geschichten genauso.

Womöglich auch, weil Sie zurzeit selbst auf dem Land leben?

Na ja, verglichen mit Berlin mag das ländlich sein, aber es ist doch eher ein kleinstädtisches Umfeld nahe Zürich. Und ich habe auch keine 27 Katzen, wie eine Kollegin von Ihnen offenbar auf Wikipedia gelesen hat (lacht).

Ist es dennoch womöglich doch noch ein bisschen heiler als in der Großstadt?

Mein Eindruck ist, dass es dort genauso viele gebrochene und glückliche Seelen wie in Berlin.

Haben Sie trotzdem ein bisschen Frieden und Ruhe gesucht?

Als absoluter Stadtmensch und Berlin-Fan bin ich eher hineingestolpert, weil ich mich in einen Schweizer verliebt habe. Zu der Zeit war es einfach leichter für mich in die Schweiz zu ziehen als er umgekehrt er nach Deutschland. Da steckte also kein Plan hinter.

Und stört nicht weiter bei der Arbeit?

Wenn ich ein festes Theater-Engagement in Deutschland hätte, womöglich schon. So aber muss ich gegebenenfalls einfach ein bisschen weiter zu den üblichen Drehorten reisen. Es ist also höchstens ein Zeit-Faktor.

Hatten Sie vor Das Verschwinden je so viel Zeit während eines Drehs, eine Figur zu entwickeln?

Nein. Ich hatte einmal eine Serienerfahrung als Kirsten Höpfner im Kommissar Marthaler aber das waren wenige Folgen und keine so große Rolle. Hans-Christian Schmid bindet seine Darsteller mehr noch als viele andere Regisseure intensiv mit ein, um die Figuren auszugestalten – auch während des Drehens.

Führt das dazu, dass Sie dieser Rolle auch persönlich näher sind als denen zuvor?

(überlegt lange) Wie nahe mir eine Figur kommt, ist von weit mehr Faktoren als Zeit und Einfluss abhängig. Aber ich würde es so oder so eher Gewöhnung als Nähe nennen. Und die hat auch viel mit den Menschen am Set zu tun hat, mit denen ich über Monate beisammen bin. Da fiel der Abschied schwerer als sonst.

Nehmen Sie Ihre Rollen nach Drehschluss mit nach Hause oder bleiben die vor Ort?

Nach Hause nicht, ins Hotel schon mal. Wenn ich heimkehre, muss ich sofort umschalten. Das klappt aber ganz gut und bin es auch der Familie, vor allem meiner Tochter schuldig.

Wie alt ist die?

Sechs.

Obwohl sie damit viel zu jung für den Drogensumpf ist, in dem Michelles Tochter Janine landet – nehmen Sie aus dieser Serie etwas für die Erziehung Ihrer eigene Tochter mit, um sie vor solch einem Schicksal zu bewahren?

Die Verantwortung, welche Auswirkungen das eigene Verhalten und Handeln auf mein Kind haben, war mir schon vorher bewusst. Gerade in dem Alter saugen die ja alles von den Eltern auf und spiegeln einem ständig das eigene Verhalten. Das wird einem durch solch einen Film – in dem ja auch alle Eltern nur das Beste für ihre Kinder wollen und dennoch überhaupt nicht erreichen – aber schon nochmals bewusster. Was in der Serie zum Beispiel allen Eltern klar wird, ist der Irrglaube, man könne seinem Kind irgendetwas Gravierendes verheimlichen.

Am Ende fällt einem jedes Geheimnis auf die Füße.

Jedes! Was in der Erziehung wirklich zählt, sind Offenheit und Kommunikation. Das war mir auch vor diesem Film schon klar, aber er hat mich noch mal neu dafür sensibilisiert.