Spuk in Hill House: Horror & Familienepos
Posted: October 17, 2018 Filed under: 3 mittwochsporträt 2 Comments
Retrogruselperfektion
Die unfassbar fesselnde Netflix-Serie Spuk in Hill House zeigt, was Streaming-Dienste der linearen Konkurrenz noch immer voraus haben: Horror darf, muss aber nicht unerträglich krass sein, um Nerds wie Normalos zu bedienen. Im Zehnteiler führt das zu einer fesselnden Mischung aus Familiendrama und Gothic-Grusel.
Von Jan Freitag
Der perfekte Moment des Horrorfilms geht aus Sicht des Altmeisters John Carpenter ungefähr so: Wenn man das Grauen besonders erwartet, lässt es garantiert solange auf sich warten, bis eine Entspannung eintritt, die dann umso brutaler zuzuschlagen wird. Den perfekten Moment des Horrorfilms kostet daher kaum jemand so aus wie Sheryl, wenn die Bestatterin der Netlix-Serie The Haunting of Hill House, zu deutsch etwas weniger unheimlich Spuk in Hill House ab heute einen Leichnam fürs Begräbnis im offenen Sarg zurechtmacht.
Sein Gesicht ist aschfahl, das Kellerlicht kühl. Kein Laut durchdringt die Stille, in der Sheryl allein mit sich, ihrer Schwester und der bohrenden Erinnerung ans verfluchte Elternhaus verbringt, das dem Nesthäkchen Nelly am Ende doch das Leben gekostet hat. Dank präziser Rückblenden wissen aufmerksame Zuschauer dieser unfassbar fesselnden Gruselserie nämlich längst: Shelly und Nelly sind zwei von fünf Geschwistern, die das transsylvanisch anmutende Vorstadtchalet der Architektenfamilie Crane einst so derart gespenstisch traumatisiert hat, dass die jüngste Tochter 20 Jahre später nach erfolgreichem Suizid auf dem Einbalsamierungstisch der ältesten liegt.
Gemäß den Regeln des Genres müsste nun also folgendes passieren: die Lebende pinselt an der Toten herum, letztere reißt schlagartig die Augen auf, woraufhin erstere wie am Spieß schreit und entweder den Monsteropfertod stirbt oder schweißgebadet im eigenen Bett erwacht. Doch es geschieht: Nichts. Zwischendurch kriecht zwar ein Käfer aus Nellys Mund, den Sheryl rasch als Trugbild entlarvt. Ansonsten aber dehnt John Carpenters äußerst erfolgreicher Epigone Mike Flanagan (Ouija) den perfekten Moment des Horrorfilms so in die Länge, bis er das Blut gefrieren lässt: Denn auf dem Seziertisch nebenan sitzt plötzlich Sheryls Mutter. Klar, dass die seit Jahren tot ist.
Es sind Szenen wie diese, die das Publikum von Spuk in Hill House genüsslich an den Rand des Erträglichen treiben, ohne es ganz darüber hinweg zu stoßen. Relativ frei nach Shirley Jacksons gleichnamigem, mehrfach adaptiertem Romanschocker von 1959 flößt der Zehnteiler schließlich weder mit der impulsiven Effekthascherei billiger Slasher-Movies noch virtuoser Splatter-Maskeraden zeitgenössischer Zombieserien Furcht ein. Dem Regisseur und Autor Flanagan reichen dafür nadelstichartige Andeutungen einer verborgenen Macht, die das schaurig-schöne Herrenhaus in Gestalt einer geisterhaften Frau besetzt und ihre Bewohner zu psychischen Wrack verschiedenster Art gemacht hat.
Während es die Bestatterin Sheryl (Elizabeth Reaser) ebenso wie ihre bindungsunfähige, aber lebensfrohe Schwester Theo (Kate Siegel) und den erfolgreichen Schriftsteller Steve (Michael Huisman), der für seine Spukgeschichten echte Horrorstorys einsammelt, allerdings noch recht gut getroffen hat, landen die zwei Nesthäkchen wahrhaftig im Wahnsinn. Luke (Oliver Jackson-Cohen) wird zum drogensüchtigen Loser, seine Zwillingsschwester Nelly (Victoria Pedretti) zerbricht gar vollends an der geisterhaften Erscheinung, die ihr einst am eindrücklichsten im Traum erschienen ist.
All dies macht Spuk in Hill House zu weit mehr als nur versiertem Gothic-Horror im Retro-Stil. Dank eines Casts, der bis in die virtuos verkörperten Kindercharaktere viel Erfahrung mit dem Genre hat, erschafft Mike Flanagan dazu noch ein ergreifendes Familienepos, das auch diesseits des Übernatürlichen bestens funktioniert. Da das Drama umgekehrt nicht den Zweck erfüllt, Gruseleffekte zu verkleben, erinnert die Eigenproduktion von Netflix an die besseren Momente von American Horrorstory. Von beidem kommt man kaum los – wie brutal das Grauen auch zuschlägt.
Wie können shelly und nelly 3 von 5 Geschwistern sein
Uups, korrigiert, Danke!