Ulrich Noethen: Himmler, Helden, gute Nazis
Posted: October 24, 2019 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch |Leave a comment
Bin ich ein Klimaverbrecher?
Ulrich Noethen (Foto: David Dollmann/ARD) spielt von Sympathieträger bis Bösewicht alles. Als Schiffskapitän, der vor 80 Jahren Hunderten von Juden das Leben gerettet hat, steht er irgendwie dazwischen. Ein Interview über Helden und Mitläufer, den ARD-Film Die Irrfahrt der St. Louis und was er mit den Flüchtlingen von heute zu tun hat.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Noethen, Sie spielen vom netten Sympathieträger bis zum schlimmsten Bösewicht, von Herrn Taschenbier bis Heinrich Himmler alles mit großer Glaubwürdigkeit. Was qualifiziert Sie für diese Bandbreite?
Ulrich Noethen: Keine Ahnung. Sagen Sie’s mir!
Vielleicht Ihr, pardon, eher durchschnittliches Gesicht?
Finden Sie? Vielleicht, könnte sein: weder Kindchenschema noch strahlender Held noch dunkler Antagonist. Andererseits gibt es sehr viele Kollegen mit äußerst ausgeprägten Gesichtszügen, die ebenfalls alles glaubhaft machen, aber eben Präferenzen herausbilden.
Haben Sie keine?
Nicht unbedingt. Allerdings ist es für das seelische Gleichgewicht gesünder, positive Charaktere zu spielen, bei den negativen bleibt immer etwas in einem hängen, von dem man im Anschluss mühsam Abstand gewinnen muss. Bei positiveren muss man dagegen nach Drehende versuchen, wieder festen Boden unter die Füße zu kriegen.
Was ist anstrengender?
Das Böse. Man blickt in Abgründe, die sich unter dem dünnen Firnis von Zivilisation und Kultiviertheit in jedem von uns auftun können; das zu erkennen, ist oft schmerzhaft. Am liebsten sind mir daher Figuren wie Ferdinand Sauerbruch, die beides in sich vereinigen.
Oder Ihr Kapitän Schröder, der in Die Irrfahrt der St. Louis mit Hakenkreuz-Anstecker Hunderte von Juden rettet.
Der trägt zwar, weil es bei der Hapag zum guten Ton gehörte, das Parteiabzeichen der NSDAP am Revers. Trotzdem ist er ein Guter. Spätestens in dem Moment, wo er sich als Vater eines behinderten Sohnes persönlich mit der menschenverachtenden Nazi-Ideologie konfrontiert sieht, beginnt er es innerlich abzulehnen. Jetzt könnte man sagen: Dennoch, ein Mitläufer!
In der Tat.
Und so gesehen haben sich natürlich sehr viele schuldig gemacht. Aber als Schauspieler fühle ich mich herausgefordert, Charaktere in ihrer ganzen Vielfalt darzustellen, so weit es das Drehbuch zulässt. Wer da zu eindimensional bleibt, landet zwangsläufig in Hollywood oder dem sowjetischen Propagandafilm, wo der Nazi schlicht die Personifizierung des Bösen ist. Punkt.
Langweilig…
Weil so vorhersehbar.
Haben Sie sich selbst je die Frage gestellt, wie Sie damals gehandelt hätten?
Deswegen machen wir doch solche Filme. Nur wenn es mir gelingt, über den Film die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen, kann daraus etwas Sinnvolles entstehen – und nimmt mir nebenbei die Angst, in die schon angesprochenen Abgründe zu schauen.
Zumal die Frage, wie man damals reagiert hätte, aktueller denn je ist.
Genau, wir können uns jetzt ja sehr aktuell selber fragen, was wir machen, wenn Flüchtlinge auf dem Meer treiben und niemand will sie aufnehmen.Wie1938 die Passagiere der St. Louis von Kapitän Schröder. Das Gleiche gilt für den Klimawandel. Werden spätere Generationen mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: du warst schuld? Bin ich da Klimaverbrecher oder bloß Mitläufer?
Reicht gewissenhafte Mülltrennung oder nur radikale Müllvermeidung?
Ich glaube nicht an die Eigenverantwortung des Einzelnen als Allheilmittel; Freiwilligkeit allein wird nicht funktionieren, wir werden um klare Regeln nicht herumkommen. Und dagegen wird es auch viel Widerstand geben. Der Egoismus des Menschen ist stark.
Haben Filme wie dieser, der die Flüchtlingskrise von 2019 auf jene von 1938 überträgt, da so etwas wie Appellcharakter?
Es musste im Film gar nicht auf die heutige Situation hingewiesen werden. Die Parallelität ist so evident, dass beim Zuschauen automatisch Kopfkino entsteht. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, Menschen nicht in den Tod gehen zu lassen. Flüchtlinge dürfen nicht ertrinken. Was Die Irrfahrt der St. Louis vielleicht vermitteln kann, ist, dass der Menschungeahnte Höhen der Selbstlosigkeit erreichen kann, wenn er nur die einfachsten Gebote der Mitmenschlichkeit befolgt.
Ist Ihnen auch als Schauspieler an dieser Art Botschaft gelegen?
Wenn ich dazu beitragen kann, nachdenklich zu machen, freue ich mich.
Aber als Prominenter, dessen Meinung in der Öffentlichkeit gehört wird, hätten Sie die Möglichkeit, Dinge zu verändern, die Ihnen am Herzen sind.
Ich glaube, da überschätzen Sie meine Möglichkeiten. Aber sollte man mich dennoch fragen, macht es mir überhaupt nichts aus, Stellung zu beziehen. Und obwohl ich vielleicht eher Pessimist bin, möchte ich mit meiner Arbeit ein Trotzdem-Optimist sein und Hoffnung machen.
Darüber hinaus nicht?
Wenig.
So wenig wie möglich?
So viel wie nötig. Echtes Engagement finde ich gut und muss von PR in eigener Sache deutlich zu unterscheiden sein.
Was an Bord der St. Louis auffällt, ist dass es dort zwar einen Helden gibt, aber auch nur einen richtigen Nazi, während die meisten an Bord Opfer sind. Verklärt das wie so oft im Historienmelodram nicht die Realität, in der es vor Tätern nur so wimmelte?
Nein. Die Vorgänge an Bord der St. Louis haben stattgefunden. Es handelt sich bei „Die Ungewollten“ nicht um ein Historienmelodram. Und die Menschen an Bord des Schiffes sind auch kein statistisches Äquivalent zur Bevölkerung Deutschlands im Jahr 1939.