Dokumentarfilme: Nacht & Nebel

Im Fernsehmeer des Firlefanz

Wer das Programm früherer Tage betrachtet, findet darin nicht nur deutlich mehr, sondern auch weitaus komplexere, leisere, bessere Dokumentationen zur allerbessten Sendezeit. Ein Hilferuf gegen die Banalisierung des Dokumentarischen – mithilfe seiner fortschreitenden Fiktionalisierung.

Von Jan Freitag

Wer Volker Herres von der ARD zuhört, könnte meinen, er sei gar keinem Staatsvertrag verpflichtet, sondern nur den Sehgewohnheiten des Publikums. Die könne man zwar „ein Stück weit prägen“, sagte der Programmdirektor mal zur Kritik am nächtlichen Asyl dokumentarischer Formate, „aber niemanden überlisten, geschweige denn nötigen“. Und weil Fernsehen „in hohem Maße daraus“ bestehe, was die Zuschauer davon erwarten, müsse sich auch seine Planung daran orientieren. Herres‘ Tipp an Sachfilmer, die solcherlei Liebedienerei monieren: „Schuster bleib bei deinen Leisten.“

Klingt forsch, klingt resolut, klingt auch ein wenig arrogant. Wonach es indes weniger klingt, ist realitätsfremd – zumindest, wenn man das Jahr 2020 zugrunde legt, in dem sein gereiftes, Spötter korrigieren: greises Kernpublikum Krimis, Krimis, Krimis und abseits des omnipräsenten Live-Sports noch Heimatfilme plus Volksmusik goutieren. Reist man jedoch zurück in jenes monopolistische Zeitalter, als ARD und ZDF das TV-Programm der Gegenwart kalibrierten, waren die Sehgewohnheiten noch andere als, sagen wir: vorigen Freitag zur besten Sendezeit.

Im Ersten lief da der ortsübliche Alpenkitsch vom Schnulzenhof Degeto, bevor nach den Tagesthemen ein uralter Tatort folgt. Das Zweite öffnet derweil Konserven von Fall für zwei und SOKO Leipzig, weshalb hinter heute-journal und True Crime à la Aufgeklärt erst um 23.15 Uhr Zeit fürs Kulturjournal Aspekte blieb. Und die Dritten? Verfüllten ihre Primetime wie immer mit Standort-PR von Expedition in die Heimat bis 50 Gründe, Südtirol zu lieben. Magazine, Reportagen, Dokus vor zehn? Fehlanzeige! Und übers parallele Angebot der Privatsender hüllen wir an dieser Stelle lieber den Mantel des Schweigens. Ganz anders dagegen ein Freitag, vier Jahrzehnte zuvor.

Als Pro7, Youtube, Netflix allenfalls Illusionen marktradikaler Strategen im erstarrten TV-Betrieb waren, zeigte das Erste um 20.15 Uhr das Dokumentarspiel Manzanar über die Internierung amerikanischer GIs in Pearl Harbour, gefolgt von Plusminus und den Tagesthemen. Das ZDF sendete nach Der Alte ein geistreiches Porträt des Komikers Jerry Lewis, aber stolze 55 Minuten früher als heute Aspekte. Und die Dritten? Adelten ihre Primetime mit Sachfilmen über den NATO-General Gerd Schmückle und ein Schulprojekt in Nizza.

Gewiss, es war die Epoche dreier Kanäle. Den Feierabend diktierte die „Hörzu“ und Rosamunde Pilcher wirkte noch fast so fern wie Stefan Raab, LED-Wände oder Game of Thrones. Trotzdem waren die Zuschauer vorm dualen System, das sie bald darauf lückenlos mit Rot- und Blaulicht versorgte, keineswegs anspruchsvoller, belesener, gar intelligenter als jene von heute, denen Programgestalter wie Volker Herres vorm Anbruch der Müdigkeit fast vollumfänglich leichte Kost meist mit, selten oder Mörder vorsetzt; sie besaßen nur – Obacht – andere Sehgewohnheiten. Fritz Wolf würde womöglich sagen: bessere.

Voriges Jahr hatte der Medienjournalist im Auftrag des Branchenverbandes AG Dok eine Studie zur Lage des Sachfilms am Bildschirm veröffentlicht und beim Deutschlandfunk grollend untermauert. Ganze sieben Prozent der untersuchten Formate, so Wolf, „behandeln gesellschaftspolitisch relevante Themen“, nur drei von 100 nähmen Bezug auf „Wissenschaft und Technik“. Falls sich der Kernbestand informationeller Grundversorgung doch mal ins öffentlich-rechtliche Abendprogramm verirrt, dann bei Nischenkanälen von 3sat bis Arte oder im engen Korsett normierter Reihen wie „Menschen hautnah“ und 37°, wo die goldene Regel form follows function durch universelle Normenkotrolle ad absurdum geführt würde. Weil das Äußere also zusehends wichtiger werde als aller Inhalt, sei die künstlerische, schlimmer noch: die journalistische Freiheit der Kreativen massiv eingeschränkt. Mit Folgen auch fürs Publikum.

Anders als in Zeiten von Alexander Kluge, Edgar Reitz oder Harun Farocki, deren experimenteller Stil bis tief in die Achtzigerjahre hinein trotz sperriger Dramaturgie Topquoten erzielte, müssen sich ihre Nachkommen nicht nur ästhetisch am fiktionalen Film orientieren, um die Aufmerksamkeitsschwelle in Sichtweite zu behalten. Bei Terra X wähnt man sich daher im Actionthriller, während selbst die einst so betulichen Tierfilme meist scheppern wie von Hans Zimmer vertont. Ob Elefanten, Tiger & Co. oder ZDFzoom: Autoren, beklagt Fritz Wolf, seien „kaum mehr als Erfüllungsgehilfen eines Konzepts“, das eher aggressiv ergreifen soll als informativ berühren.

In dieser Art Firlefanz-Fernsehen gehen kompliziertere Dokus, stillere zumal, naturgemäß unter. Immerhin: es gibt sie noch. Das reflexive Medienstück „Wie Holocaust ins Fernsehen kam“ etwa erhielt Anfang des Jahres ebenso den begehrten Grimme-Preis wie die ausgezeichnete Seenotretter-Begleitung SeaWatch3. Bis zum (coronabedingt ohnehin gedimmten) Rampenlicht in Marl allerdings, mussten sich beide mit Erstausstrahlungen nahe Mitternacht begnügen – die Primetime von WDR und NDR war mit standardisiertem Infotainment belegt. Kein Platz also für Berichte mit Irritationspotenzial. Was übrigens selbst dann gilt, wenn Irritation das Grundgefühl einer ganzen Fernsehnation zu sein scheint.

Als Wladimir Putin für die Winterspiele mit tyrannischer Brutalität das subtropische Sotschi skisporttauglich gewalzt hatte, gab es durchaus kritische Abrechnungen mit der Vergewaltigung aller olympischen, demokratischen Werte. Doch während die akribische ARD-Studie „Putins Spiele“ fünf Tage vor der Eröffnungsfeier im Spätprogramm versteckt wurde, lief kurz danach inmitten der einschaltstarken Primetime die süßliche Tierschau „Wilder Kaukasus“. Fernsehen, sagte Volker Herres seinerzeit vorm Beginn der Selbstbeweihräucherung Top of the Docs in Berlin, wo sich die ARD jedes Jahr für monatlich gut 750 Sachfilmstunden aller ARD-Kanäle feiert, Fernsehen bestehe eben „einfach in hohem Maße aus Sehgewohnheiten“. Und der Montag sei halt Naturfilmzeit. Punkt.

Dass ihm die Gäste im prächtigen Meistersaal jeden Applaus verwehrten, während der Regisseur Arne Birkenstock für seine Forderung, „mal 90 Minuten Primetime pro Woche für unformatierte Dokus freizuräumen“, stehende Ovationen bekam, ficht den Hauptverantwortlichen dabei ebenso wenig an wie der gewaltige Bedarf nach seriöser Berichterstattung im Zuge von Covid-19. Über Wochen hinweg perforierten reichenweitenstarke Sondersendungen und Reportagen spielend jedes Programmschema. Dennoch dürfte dieser Bruch aller Sehgewohnheiten folgenlos bleiben. Während der kommerzielle Teil des dualen Systems Wirklichkeit ohnehin nur noch simuliert, sitzen dem bildungsbeauftragten schließlich die Streamingdienste im Nacken, deren Ästhetik global verwertbar sein muss.

Weltmarktführer Netflix zum Beispiel wird aus Sicht des Branchenkritikers Wolf „nur das verwenden, was sich monetarisieren lässt und kommerziell nutzbar ist“. Mit anderen Worten: formatierte Blockbuster-Ästhetik, aufgebaut wie Melodramen, geschnitten wie Thriller, orchestriert wie Musicals, gerne mit Tieren und Mördern oder wie im Fall der sensationell erfolgreichen Netflix-Doku Tiger King mit beiden. Die Fiktionalisierung der Sachlichkeit – wenn Sender wie ARD oder ZDF nicht bald mal gegensteuern, ist sie in Sichtweite der Zuschauer kaum noch aufzuhalten.

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