Wendlers Intellekt & Europas Stämme
Posted: February 15, 2021 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |Leave a comment
Die Gebrauchtwoche
8. – 14. Februar
Nach der letzten nun die nächste Instanz: Kaum hatte sich die Aufregung über den WDR, gelegt, der zehn Tage zuvor ausschließlich Biodeutsche über rassistische Klischees abstimmen ließ, nutzte Sat1 das quergedachte Eigenmarketing ihrer Frühstücksmoderatorin für eine Diskussion über den Lockdown, bei der Marlene Lufen am Montag ausschließlich Menschen um sich scharte, die voll und ganz ihrer Meinung waren. Dass die Politik Kinder hasst nämlich und vermutlich in geheime Keller sperrt, um ihnen dort irgendwas abzuzapfen.
Diese Verachtung aller journalistischen Standards hat zwar Methode, zahlte sich aber in einer katastrophal niedrigen Einschaltquote aus. Schlechte Zeiten für Populist*innen, könnte man da meinen. Zumal kurz darauf auch noch der Instagram-Account vom Wendler gesperrt wurde. Damit hat die deutsche Verschwörungsideologie ihr akademisch-intellektuelles Aushängeschild verloren. Und als Ersatz taugt nicht mal mehr der Verschwörungspragmatiker Kai Diekmann, nachdem er einräumen musste, sich mit seiner anhaltenden Propaganda für Wirecard geirrt zu haben und damit ja indirekt zugibt, von seinem Fachgebiet visionärer Unternehmensberatung keine Ahnung zu haben. Bliebe als längste Lanze des Populismus noch Andreas Scheuer.
Weil seine Freundin Julia Reuss, nebenbei Büroleiterin von Digitalstaatsministerin Dorothee Bär als zentraleuropäische Public-Policy-Direktorin zu Facebook wechselt, also vom parlamentarischen Kontrollgremium ins kapitalistische Kontrollobjekt, qualifiziert er sich nun auch familiär als politischer Opportunist Nr. 1 im Land. Angesichts solcher rückgratlosen Exzesse macht immerhin eine Institution noch Hoffnung: Die Tagesschau. Deutschlands wichtigste Nachrichtensendung verbuchte im Januar die höchste Sehbeteiligung seit Beginn der Quotenmessung. Aller Mediendiversifizierung zum Trotz, haben pro Tag im Schnitt 14,5 Millionen Zuschauer*innen um acht eingeschaltet, Marktanteil: 42 Prozent.
Die Frischwoche
15. – 21. Februar
Dass die ARD sachlich weiterhin spitze ist, zeigt sie zudem mit Lang-Dokus wie Bhagwan – Die Deutschen und der Guru, heute Abend um 23.20 Uhr. Dass sie auch fiktional ungebrochen Maßstäbe setzt, beweist zudem ihr Mittwochsfilm Meeresleuchten mit Ulrich Tukur als Vater, der den Tod seiner Tochter zum Neuanfang in der mecklenburgischen Provinz nutzt. Das Familiendrama hat, was Unterhaltung braucht: kreative Geschichten und tolle Schauspieler*innen, Schmerz und Freude, Leichtigkeit und Drama, Tragik, Humor, Irrsinn – alles dabei.
Von alledem nichts dabei hat der depperte Netflix-Mumpitz Tribes of Europa. Beim Versuch der Dark-Fabrik Wiedemann & Berg, darstellende Influencer GoT-kostümiert in eine postapokalyptische Zukunft zu schicken, ist von der Handlung übers Schauspiel bis zur Ästhetik ab Freitag alles so unfreiwillig komisch geraten, als hätte Helge Schneider mit Vin Diesel für RTL2 gedreht. Dann doch lieber offen lustig gemeinte Comedy-Thriller wie I Care a Lot auf gleichem Kanal oder wahlweise die 4. Staffel von The Masked Singer, morgen bei Pro7.
Noch besser jedoch, man entscheidet sich für Fernsehen mit mehr Anspruch als Zielgruppenberechnung. Wie das Serien-Remake der Kinder vom Bahnhof Zoo. Was angesichts der profitorientierten Plattform Prime Video per se nach Effekthascherei klingt, entpuppt sich ab morgen vom ersten der acht Teile an als fesselnde Drogenmilieustudie, die Philipp Kadelbach wie das legendäre Buch in den Siebzigern ansiedelt, aber zeitlos aussehen lässt. Weniger zeitlos als epochal war dagegen die deutsche Warhol-Muse Nico 1988, der Arte am Freitag um 22.45 Uhr ein grandioses Biopic widmet.