Jochen Wegner: Zeit-Online & Wachstum

In Krisen sind alle online

Jochen Wegner (Foto: Andreas Chudowski/journalist) leitet seit acht Jahren Zeit-Online und zählt auch als Mitglied der Chefredaktion im Hamburger Haupthaus zur publizistischen Entscheidungsklasse im Land. Ein Gespräch mit dem 51-jährigen Berliner aus Karlsruhe über Chaos und Reichweite, Demut und Verlässlichkeit, den Rhythmus von Medien und wie Rezo sein Kolumnist wurde.

Von Jan Freitag

Herr Wegner, Sie haben 1998 ihre Diplomarbeit in Physik über die Chaostheorie des menschlichen Gehirns geschrieben.

Jochen Wegner: Über ein kleines Detail, ja. Der Begriff „Chaostheorie“ wird von Physikern nicht so gerne verwendet. An der Uniklinik in Bonn konnte ich damals in einer tollen Arbeitsgruppe zur so genannten nichtlinearen Dynamik des Gehirns arbeiten. Es geht dabei um Systeme, die zu komplex sind, um ihr Verhalten genau zu berechnen, die aber trotzdem gewisse Regelmäßigkeiten zeigen.

Das wäre eine ganz gute Umschreibung des multipolaren Durcheinanders unserer Tage, das von Covid-19, Donald Trump und der Klimakrise gleichermaßen erzeugt wird. Können Sie als Journalist mithilfe der nichtlinearen Dynamik Strukturen in diesem Chaos erkennen?

Viele Wissenschaftler forschen daran, Regeln in der Wirrnis zu finden, als Journalist habe ich da wenig beizutragen. Das Wissen um die Tücken des Komplexen hilft höchstens, Lagen wie der aktuellen mit einer gewissen Demut zu begegnen. Und diese Demut auch bei anderen wertzuschätzen.

Wessen Demut meinen Sie?

Die Demut der Epidemiologen und Virologen zum Beispiel, die uns erklären, dass eine Pandemie nicht so gut vorhersehbar oder kontrollierbar ist, wie wir uns das wünschen. Aber auch die Demut vieler Politiker, die wissen, dass es keine klaren Ansagen und Regel geben kann, die für alle Zeit gelten, auch wenn wir uns das wünschen.

Und für Sie als Journalist?

Auch da hilft eine gewisse Ergebenheit. Wir können die Zukunft der Medien nicht gut vorhersehen, bis sie über uns kommt. Wir wissen nicht, welches neue Facebook, Google oder Apple gerade irgendwo geboren wird. Schlimmer noch: selbst, wenn das nächste große Ding da ist, fällt es uns schwer, seine zukünftige Auswirkung auf unsere Arbeit zu verstehen, siehe Twitch oder Tiktok. Manchmal dauert es Jahrzehnte, wie bei Podcasts und Newslettern, und plötzlich verändert es die Branche. Deshalb denken wir in möglichst kurzen Zyklen und passen uns der Situation an. Erst recht in Zeiten einer unberechenbaren Pandemie.

Aber diese Demut befindet sich doch im Wettstreit mit den Ansprüchen des Publikums, sich die Welt von Ihnen erklären und Ordnung ins Chaos bringen zu lassen. Wie lösen Sie dieses Dilemma auf?

Indem wir mehr sagen, was ist, und weniger, was wir meinen. Indem wir unseren Lesern und Leserinnen möglichst valide und umfassende Informationen zum Verständnis der Lage geben, aber uns mit Theorien und Spekulationen zurückhalten. Wir versuchen, den Eindruck zu vermeiden, jemand könne genau wissen, was in einer nie dagewesenen Situation zu tun sei. Dieser Versuchung erlagen leider sogar manche Wissenschaftler. Der Physikerin Angela Merkel aber hat man zu Beginn der Pandemie angemerkt, dass sie kommunizieren wollte: Wir wissen es doch auch nicht. Und wir müssen uns dennoch für einen Weg entscheiden, um es herauszufinden.

Das wissenschaftliche Erkenntnisprinzip der Falsifikation, von dem viele in dieser Pandemie erstmals gehört haben…

Ja, Karl Popper trendet. Zeit Online ist normalerweise ein sehr meinungsfreudiges und meinungsstarkes Medium, aber zumindest in den ersten Monaten haben wir uns bemüht, nicht gleich in den Wettstreit der Standpunkte einzutreten, sondern in den um Tatsachen. Deshalb haben wir zunächst in Nachrichten- und Wissenschaftsjournalismus und in Datenvisualisierung investiert.

Ist dieses Investment der Grund für die wirtschaftliche Entwicklung von Zeit und Zeit-Online? Während besonders Printmedien in der Pandemie erhöhten Bedarf, aber sinkende Anzeigenerlöse verbucht haben, sind Ihre Zahlen hervorragend.

So zynisch das klingt: Die Corona-Krise hat auch Gutes bewirkt. Sie hat uns etwa gezeigt, wo unsere Zukunft und die des Qualitätsjournalismus liegen könnte. Die gute Entwicklung von Zeit Online hat gewiss mit dem Ansatz zu tun, aktuelle, evidenzbasierte Berichterstattung zu stärken. Auch die gedruckte Zeit erfährt in einer Krise, in der viele nach verlässlicher Information suchen, einen historischen Aufschwung.

Ausgerechnet in einer Phase größtmöglicher Unwägbarkeit?

Ich erinnere mich noch genau an mein eigenes Befremden und das meiner Kolleginnen und Kollegen in unserer Ressortleiter-Runde einige Wochen vor dem ersten Beinahe-Lockdown. Wir hatten uns – ganz hypothetisch – gefragt, was wir wohl machen würden, wenn dieser extrem unrealistische Fall eintreten würde und wir wie in China alle ins Homeoffice müssten.

Verrückte Idee…

Die von der Wirklichkeit so radikal eingeholt wurde, dass nun auch viele gute Entwicklungen nicht mehr umkehrbar scheinen. Unser Wissen um die wunderbaren Möglichkeiten etwa, uns außerhalb des Newsrooms zu vernetzen. Auch unserem Journalismus hat die Krise eine Richtung gegeben, die wir weiterverfolgen wollen. Ich hätte nicht gedacht, dass wir mal als eine Art Primärquelle für Infektionsdaten, Intensivbetten oder Impfquoten dienen. Das Corona-Dashboard unseres Datenvisualisierungs-Teams, für das wir mehrmals am Tag die Zahlen der 400 Stadt- und Landkreise recherchieren, dient nun, wie wir hören, der Bundesregierung, Behörden, vielen Medien und der Johns-Hopkins-Universität als Quelle. Wir begannen gleich zu Anfang der Pandemie mit dieser aufwändigen Datenrecherche, als klar wurde, dass das Robert-Koch-Institut mit dieser Dienstleistung überfordert war. Leider gilt das zum Teil bis heute, die RKI-Daten könnten präziser sein. Nun haben wir als erste angefangen, die in den Bundesländern verabreichten Impfungen live darzustellen. Da erbringen wir fast institutionelle Leistungen, weil sie gerade wichtig sind für die Gesellschaft.

Und das hat sich auch betriebswirtschaftlich ausgewirkt?

Die Besuche auf unserer Homepage wachsen gegen den Trend, wir erklären uns das auch mit den Menschen, die zum Teil mehrfach täglich das Corona-Dashboard dort besuchen. Die dahinterliegende, detaillierte Grafik verzeichnete im Jahr 2020 mehr als 50 Millionen Abrufe. Insgesamt hat sich 2020 unsere Tagesreichweite in den Spitzen vervierfacht. Dies alles hat dazu beigetragen, dass unsere Erlöse im Vergleich zum Vorjahr um die Hälfte gestiegen sind – mitten in einer globalen Krise. Das hat bei uns niemand erwartet, wir haben im März mit dem Schlimmsten gerechnet.

Lässt sich das auch damit erklären, dass Sie als Online-Medium endemisch sind in dem digitalen Raum, wo sich mittlerweile große Teile der Berufstätigen aufhalten?

In Krisen sind alle online. Wenn wir nerdig werden wollen, können wir jetzt unsere digitalen Erlösmodelle durchgehen, die ganz unterschiedlich zu diesem Wachstum beigetragen haben. Das klassische Displaygeschäft zum Beispiel: Hier haben wir einerseits das Glück, in der gemeinsamen Vermarktung mit anderen – ich mag den Begriff eigentlich nicht so gern: Qualitätsmedien wie Süddeutscher Zeitung, FAZ, Handelsblatt und Tagesspiegel zu sein. Unser Vermarkter iq digital hat in der Krise Marktanteile gewonnen. Offensichtlich suchen auch Werbekunden verstärkt nach seriösen Medien. Hinzu kam, dass zeit.de auch Reichweiten-Marktanteile gewonnen hat. Beides spiegelt sich in den Anzeigenerlösen wider, die bei uns im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent gewachsen sind. Noch erfreulicher hat sich allerdings die zweite Erlössäule entwickelt, die digitalen Abonnements. Sie sind um 80 Prozent gestiegen. Zu unserem Glück hatten wir in Verlag und Redaktion in den vergangenen Jahren viel mit unserem Abomodell experimentiert. Als sich die Zahl der Leser plötzlich vervielfachte, wussten wir so ungefähr, was zu tun ist.

Und was?

Die Print-Artikel der Zeit waren zu Beginn die einzige Säule unseres Abomodells. Das Blatt ist auch sehr umfangreich, trotzdem haben wir festgestellt, dass wir Online-Lesern noch mehr verschlossene Inhalte anbieten können, sie zeigen ungebrochenes Interesse. Zunächst haben wir deshalb in mehreren gemeinsamen Print-Online-Workshops weitere Geschichten ersonnen, mit ermutigendem Erfolg. Inzwischen gibt es einige Kolleginnen und Kollegen, die sich hauptberuflich um kostenpflichtige Digitalinhalte kümmern. In der Krise haben diese nun besonders gut funktioniert – etwa aus den Gebieten Bildung und Erziehung, Familie, Arbeit oder Psychologie. So wurden im Oktober und November zwei Drittel der Digitalabos bereits über Beiträge generiert, die nur online erschienen sind. Und das, obwohl wir jene Themen frei zugänglich gelassen haben, die für die Orientierung in einer Pandemie besonders wichtig sind – die aktuellen Stücke unseres Politik-Ressorts, und die der Wissen- und Medizinredakteurinnen etwa.

Verbuchen Sie die Erlöse der Digital-Abos bei Zeit Online oder im Gesamtverlag?

Sie werden Zeit Online zugerechnet, aber wir führen einen wachsenden Anteil ans gesamte Haus ab. So können wir hoffentlich bald den beträchtlichen Vorschuss zurückzahlen, den wir über zwei Jahrzehnte bekommen haben. Erst seit ein paar Jahren ist Zeit Online profitabel.

Zeit Online hat ein Dreifachangebot verschiedener Zugangsarten: frei zugänglich, kostenpflichtig und für die Gegenleistung der persönlichen Registrierung.

Stimmt. Der Anteil abopflichtiger Artikel, die mit einem roten „Z+“ gekennzeichnet sind, lag Anfang des Jahres vielleicht bei zwei, Ende des Jahrs gerade einmal bei um die zehn Prozent. Für Texte mit grauem „Z+“ benötigen Sie nur einen Login und müssen nicht bezahlen, deren Anteil dürfte heute noch deutlich geringer sein. Wir hatten diese Variante ursprünglich eingeführt, um besonders unsere vielen jungen Leser und Leserinnen mit einem Bezahlmodell nicht vor den Kopf zu stoßen und ihnen einige abgeschlossene, aber kostenlose Inhalte anbieten zu können. Die Sorge aber war wohl unbegründet, es gab und gibt zu unserer Aboschranke nicht sehr viel kritisches Feedback, auch nicht von den Jungen.

Betrachtet das Publikum Inhalte nicht als weniger wertvoll, wenn sie kein Geld kosten?

Das klingt plausibel, ich glaube es aber nicht. Die meisten Leser und Leserinnen kommen schließlich wegen der wertvollen offenen Inhalte zu uns – und bleiben als Abonnenten dank der wertvollen geschlossenen Inhalte. Wir machen keinen Unterschied in der Qualität, das würde unseren Anspruch nicht erfüllen und wäre selbst aus einer zynischen, rein geschäftsmäßigen Sicht nicht rational. Die Abonnenten lesen schließlich auch die offenen Geschichten. Manchmal ist beim Entstehen eines Beitrags auch noch unklar, ob er später einmal „rot“ wird. Viele unserer aufwändigsten Inhalte lassen wir ganz bewusst offen, und wir entscheiden uns auch immer öfter im laufenden Betrieb um.

Wer trifft denn letztlich die Entscheidung, was frei sichtbar bleibt und was nicht?

Es gibt jede Woche eine Runde zwischen Print und Online, in der unsere CvDs die Farbe der Print-Beiträge festlegen. Das hat sich eingespielt, dauert zehn bis zwanzig Minuten, in der Regel besprechen wir nur noch die wenigen Sonderfälle. Die letztgültige Entscheidung treffen im Live-Betrieb dann aber die so genannten Dirigentinnen und Dirigenten, sie sind gleichsam Chefredakteure vom Dienst, stehen noch über den CvDs und steuern den ganzen Newsroom, die Homepage und alle Kanäle. Sie beobachten neben der Nachrichtenlage auch unsere Zahlen und entscheiden gelegentlich noch einmal neu.

Also doch besonders hochwertige Texte?

Oft machen wir eine Geschichte, die journalistisch herausragt, bewusst für möglichst viele zugänglich. Es ist auch nach all den Jahren noch überraschend, welche Beiträge zu vielen Abos führen und welche nicht. Wir haben ein grobes Gefühl dafür entwickelt, mehr aber nicht.

Ließe sich der Prozess auch automatisieren?

Wir können qualifiziert sagen, dass das nicht einfach ist. Nicht nur im Verlag, auch direkt in der Redaktion arbeitet ein größeres Engagement-Team an derlei Fragen, dazu auch eine Mathematikerin und ein Mathematiker. So haben wir mit allen denkbaren statistischen Verfahren versucht, gleichsam Regeln im Chaos zu finden, mit denen wir aus den zahlreichen Eigenschaften eines Beitrags die Zahl der Abos prognostizieren können, wir haben sogar ein Neuronales Netz trainiert. Nichts hat funktioniert. Das erinnert mich ironischerweise ein wenig an meine Diplomarbeit.

Und woran liegt das?

Wir wissen es nicht. Womöglich auch daran, dass sich der gefühlte Wert einer bestimmten Art von Inhalt schnell ändern kann. Themen haben eine zeitlich begrenzte Konjunktur. Vielleicht ist es wie an der Börse, deren einzelne Aktienwerte auch so schwer zu prognostizieren sind, weil sich die Randbedingungen ständig ändern. Da investiert man in erfreulich wachsende Reise-Aktien, und dann kommt eine Pandemie. Ich finde es beruhigend, dass sich das Themengespür von Journalisten nicht so einfach an Maschinen delegieren lässt. Wir haben dafür andere Regeln gefunden.

Nämlich welche?

Wir können mit erstaunlicher Präzision sagen, welche Nutzer auf unserer Website heute ein Abo abschließen werden. Eine so genannte User-Journey weniger Tage reicht aus, um zu sagen, wohin die Reise morgen geht – wenn wir wissen, was jemand auf Zeit Online gelesen hat, wann, wie oft, und so weiter. Natürlich kennen wir die Nutzer nicht, ihre Daten sind konform mit der Datenschutz-Grundverordnung abgeschirmt, aber ihre individuellen Verhaltensmuster sind offensichtlich ein starker Hinweis. Unser Verlag hat über die Zeit eine große Abteilung aufgebaut, die sich nur mit der Analyse von derlei Nutzerdaten beschäftigt. Mit Hilfe von statistischen Maßen kann er zum Beispiel recht genau sagen, welche Leserinnen und Leser ihre Abos verlängern werden und welche eher nicht.

Als klassische Medienhäuser vor drei Jahrzehnten Online-Redaktionen aufgebaut oder abgespalten haben, dienten sie oft als Schaufenster für den Print-Bereich. Dienen Inhalte diesseits der Paywall heute entsprechend als Schaufenster für die jenseits davon?

In einem Haus, in dem sich Print und Online gleichermaßen gut entwickeln, gilt vielleicht eher, dass wir uns wechselseitig ein Schaufenster sind. Dass das Digitale zulegt, ist ja auch den Zeitläuften geschuldet, die Wachstumsraten der gedruckten Zeit aber sind komplett antizyklisch. Ich pendle als Mitglied beider Chefredaktionen zwischen den Welten und habe den Eindruck, dass wir uns gegenseitig inspirieren. Wir arbeiten an vielen Stellen eng zusammen, an anderen sind wir recht autark. Wir können online auch mal ganz gut unser Ding machen.

Ein anderes also als die gedruckte Zeit?

Im Großen nein, im Kleinen schon. Unseren Leserinnen und Lesern ist sehr wichtig, dass ihr Anspruch an ihre Zeit auf Papier und Display gleichermaßen erfüllt wird. Im Detail sind die Erwartungen an ein Medium, dessen Inhalte sekündlich, nicht wöchentlich aktualisierbar sind, natürlich andere, als wenn man sich damit samstags auf die Couch legt und bei einem grünen Tee das Papier ausbreitet oder durch die – soeben aufwändig neu gestaltete – Zeit-App blättert. Besonders Jüngere wissen genau, wie die Mechanik digitaler Medien funktioniert. Das Feedback der Rezipienten zeigt, dass sie uns in unserer Komplexität durchaus wahrnehmen. Es ist nicht mehr so wie früher, als der Online-Traffic donnerstags hochging, wenn die Zeitung erschien.

Höre ich aus dem, was Sie sagen, also heraus, dass Zeit Online nicht den Weg des Spiegel vom vorigen Jahr gehen und mit der Print-Redaktion rückvereinigt werden wird?

Wer kann das wissen? Über Prognosen, besonders, wenn sie die die Zukunft betreffen, haben wir vorhin ja schon gesprochen. Wir werden noch enger zusammenarbeiten und weiter zusammenrücken. Der Weg des Spiegel, der seine Ressorts vollständig vereint hat, scheint mir an vielen Stellen nicht so gut zu unserer Kultur und zu unserem bereits ganz erfreulich funktionierenden Modell zu passen. Im Gegensatz zu manchen anderen Häusern geht es nicht nur Online, sondern auch Print gut, die Einzelverkäufe sind in diesem Jahr sehr deutlich gestiegen, unsere Gesamtauflage ist auf Rekordniveau. Das Print-Anzeigengeschäft hat in der Krise zwar auch einen gewissen Rückgang zu verzeichnen, im Branchenvergleich fällt er aber deutlich geringer aus.

Die Zeit ist seit Jahren verlässlich in den Top 5 der deutschen Leitmedien. Wird Zeit Online dabei einfach mitgedacht oder arbeiten hier aus Sicht der Gesellschaft eher die Geeks und Nerds, die fürs Papier zu jung, zu frech, zu modern sind?

Sie wären erstaunt, wie viele junge Geeks man beim Blatt treffen kann. Falls Zeit Online jemals ein reines Nerd-Projekt war, ist es das heute nicht mehr. Das Versprechen, für das Die Zeit seit nun bald 75 Jahren steht, versuchen wir seit nun bald 25 Jahren auch online einzulösen. Die Zahl der Namen im Impressum hat sich verdreifacht, seit ich dort vor fast acht Jahren meinen ersten Arbeitstag hatte. Alleine die Online-Redaktion zählt heute um die 150 Köpfe.

Gibt es da noch Potenzial nach oben oder eher Spardekrete nach unten?

Zeit Online ist spät gestartet. Das redaktionelle Wachstum war daher eher dem Umstand geschuldet, dass wir zu Beginn schlicht zu wenige waren, um unseren Anspruch an einen 24/7-Journalismus erfüllen zu können, der heute das Fundament für unsere gute Entwicklung ist. Es gibt keine Spardekrete, unser Haus denkt aber traditionell frugal.

Frugal?

Wir werden überall da noch enger zusammenarbeiten, wo es irgend möglich ist. Viele unserer Ressorts haben sich bereits eng verzahnt, was dank der pandemischen Kommunikation per Video und Slack nochmals einfacher geworden ist – die Online-Redaktion sitzt ja zum überwiegenden Teil in Berlin, die Print-Redaktion in Hamburg. Die Investigativ-Teams von Print und Online haben tatsächlich eine gemeinsame Führung, was sinnvoll ist, weil sie in gleichen Rhythmen an gleichen Themen arbeiten. Print und Online können voneinander noch viel lernen.

Mit der Gefahr, sich gegenseitig im Weg zu stehen?

Deshalb ist es wichtig, dass der jeweils eigene Beat erhalten bleibt, und in jeweils angemessenen Zyklen gedacht werden kann. Ich kenne beide Sphären ganz gut und sehe, wie unterschiedlich Geschichten zum Teil entstehen und wie wunderbar es ist, wenn Redaktionen für ihr jeweiliges Medium denken. Nehmen Sie nur den Jahresrückblick der Zeit, der aus historischen Literaturauszügen besteht, die etwas zur aktuellen Lage sagen, grandios gestaltet. So etwas würde einer Online-Redaktion nicht als erstes Projekt einfallen, sie würde schon an der digitalen Rechteklärung verzweifeln. Oder auf der anderen Seite den Aerosol-Simulator von Zeit Online, mit dem Sie Ihr Wohnzimmer, Klassenzimmer oder Restaurants interaktiv nachbauen können, um das konkrete Infektionsrisiko für die Menschen im Raum zu berechnen. Das Tool haben Millionen benutzt. So etwas würde nie entstehen, wenn wir uns zunächst fragen würden, ob man das auch ausdrucken kann.

Bezeichnet der Beat abgesehen von der Frequenz also auch eine andere Art von Rhythmus, Musikalität, Unterhaltung?

Einerseits die Frequenz, andererseits den journalistischen Ansatz. Der Kern eines digitalen General-Interest-Mediums ist fast zwangsweise aktueller Nachrichtenjournalismus. Das Netz lebt im Jetzt. Wenn jetzt die Pressekonferenz des RKI stattfindet oder die US-Wahl, müssen wir auch jetzt darüber berichten, am besten mit Live-Stream. Direkt danach sollten wir die Lage einordnen. Vor allem deswegen kommen Menschen zu uns. Am Tag nach der US-Wahl etwa verzeichneten wir neun Millionen Besuche, so viele wie nie zuvor.

Und was haben die gesucht?

Nach aktuellen Daten unseres Visualisierungs-Teams, Einordnung unseres Politik-Ressorts und unserer Korrespondenten, und vielleicht auch nach einer Art Heimstatt in diesen dramatischen Stunden im Jetzt. Die Moderatoren unseres Nachrichten-Podcasts boten gemeinsam mit der Politik, dem Video- und dem Social-Team einen zwölfstündigen Video-Livestream durch die US-Wahlnacht an, so etwas hatten wir nie zuvor versucht. Und doch war der wohl einer der erfolgreichsten Streams des Jahres, erklärt uns heute Facebook. Solche aktuellen Angebote ziehen neue Rezipienten an. Sie bleiben aber wegen der zusätzlichen, vertiefenden Inhalte, die wir für Abonnenten anbieten.

Mit der entsprechenden personellen Ausstattung?

Wir konnten über die Jahre zum Beispiel eine Magazin-Redaktion aufbauen, die zwar aktuell arbeiten kann, aber unabhängig vom Tagesgeschäft auch vertiefende, ergänzende Geschichten vorbereitet. Mit deren Inhalten generieren wir auch die meisten digitalen Abos.

Welchen Beat schlägt da ein Autor wie Rezo an, der Ende 2019 eine Kolumne bei Ihnen bekam – war das eine journalistische oder betriebswirtschaftliche Entscheidung, weil er nun mal gerade im jungen Publikum unglaublich zieht?

Wir finden ihn als Stimme wichtig und sind beeindruckt, wie präzise so ein Youtuber recherchieren und schreiben kann. Ich fand es auch angemessen, dass er mit einem Nannen-Preis ausgezeichnet wurde. Rezos Kolumnisten-Vertrag endet übrigens, während wir sprechen, er war auf ein Jahr angelegt. Er bleibt uns aber als Autor verbunden. Wir haben ihn damals auch nicht kontaktiert, wir sind eher beiläufig aneinandergeraten

Auf einer Cocktail-Party?

Da sind weder er noch ich besonders oft, aber Rezo war schon vorher unser User. Vielleicht sagt das auch etwas über unsere Zielgruppe aus.

Ende 20.

Wir haben viele junge, oft studentische Leser und Leserinnen. Es gibt das Magazin Zeit Campus Online, unser Verlag bietet umfassende Informationen über Studiengänge bis zum Hochschulranking an, die zum Teil auf exklusiven Daten der Hochschulrektoren-Konferenz beruhen. Wenn man studiert in Deutschland, hat man in aller Regel einmal Kontakt mit unseren Angeboten. Außerdem haben wir Ze.tt

Das Online-Magazin der Zeit für junge Erwachsene.

… das gerade zu Zeit Online umgezogen ist und viele junge Leserinnen anzieht. Rezo war keine kalte Business-Entscheidung.

Man kann auch warme Business-Entscheidungen fällen, aber wie beugt denn ein seriöses Online-Medium wie Ihres der Gefahr vor, Clickbaiting zu betreiben? Schließlich sind auch Sie auf Reichweite angewiesen.

Diese Gefahr besteht im Online-Journalismus seit Gründung, das direkte Feedback und die Live-Daten entfalten nirgendwo sonst einen vergleichbaren Sog. Journalistinnen und Journalisten müssen lernen, mit den Zahlen zu arbeiten, sich ihnen aber nicht zu ergeben. Unterschiedliche Redaktionen gehen damit ganz unterschiedlich um. Ich habe das Gefühl, in jüngster Zeit ist eine Art Zweiteilung des digitalen Journalismus noch stärker hervorgetreten. Ein Teil der Medien hat für sich als Geschäftsmodell entdeckt, auf die Spaltung der Gesellschaft zu zielen und diese zu verstärken.

Sie sprechen von der Bild?

Nicht nur die Medien des Hauses Springer, sondern auch andere nutzen soziale und politische Friktion als Energiequelle. Und wenn es keine Konflikte gibt, inszeniert man eben welche. Eine andere Gruppe von Medien wird eher für lösungsorientierten Journalismus belohnt, für verlässliche Informationen und Einschätzungen, für Dialog und Austausch. In dieser Sphäre sehen wir uns.

Als Moderator sozialer Grenzverläufe?

Zumindest nicht als diejenigen, die Grenzen verstärken und Scheinkonflikte erzeugen. Sondern als diejenigen, die eine vertrauenswürdige Plattform für das Selbstgespräch der Gesellschaft bieten. Streit kann viel Gutes bewirken. Das zeigt das Streit-Ressort der Zeit. Oder unser Online-Projekt „Deutschland spricht“, das wir als „My Country Talks“ in mehr als ein Dutzend Länder exportiert haben. Damit konnten wir weltweit bereits 200.000 Menschen in individuelle politische Streitgespräche vermitteln.

Bedeutet dies im Umkehrschluss, dass Zeit Online durch ihre Mittelposition unanfälliger für die Erregungskultur des Internets ist, also weniger Hass und Shitstorms erntet?

Mal so, mal so. Selbst, wenn wir gar nicht das Ziel verfolgen, zu polarisieren, ernten wir natürlich Widerspruch.

Aber eröffnet sich da nicht ein weiteres Dilemma, dass sich ein haltungsstarkes Medium dennoch positionieren muss, etwa zur wütenden Seite der Querdenker und Verschwörungsideologen?

Im Wort „positionieren“ schwing mit, dass es da verschiedene denkbare Standpunkte gäbe. Aber in diesen Fällen gibt es selten ein Sowohl-als-auch. Man kann schon die Frage stellen und auch recherchieren, ob SARS-CoV-2 in chinesischen Laboren designt wurde. Wenn alles dagegenspricht, können wir diese These aber nicht als Meinung akzeptieren, die gleichberechtigt gehört und verbreitet werden muss. Journalismus strebt danach, die Wahrheit herauszufinden und weiterzuerzählen. Auf manche Populisten muss er schon deshalb wie Aktivismus wirken.

Auch nicht nach dem 6. Januar, als er indirekt zum Putsch aufgerufen hat, dem einige seiner Fans mit dem Sturm aufs Kapitol gefolgt sind?

Selbst Fox hatte sich am Ende emanzipiert, andere füllen nun die Leerstelle, wie OAN oder Newsmax. Auch Facebook und Twitter haben sehr spät reagiert und Trump blockiert. Aber der Trumpismus ist nun einmal viel größer als Trump, die Zustimmungsraten unter Republikanern für die jüngsten Geschehnisse sind besorgniserregend. Ich fürchte, wir haben nicht ein Ende mit Schrecken gesehen, sondern den Anfang von etwas Schrecklichem. Manche Medien tragen daran eine Mitschuld, das Netz spielt eine zentrale Rolle. Aber es sind die Menschen selbst, die den gemeinsamen Diskurs verlassen und sich abspalten. Das kann kein Algorithmus bewirken. Auch Journalisten können da viel weniger ändern, als sie manchmal hoffen. Wichtig ist, dass wir Unsinn nicht unkommentiert als gleichwertige Meinung verbreiten, nur weil er von Meinungsführern geäußert wird.

Ausgewogene Berichterstattung hat also nichts mit Arithmetik zu tun?

Nicht im, zum letzten Mal: Qualitätsjournalismus. Journalismus, der den Namen verdient, ist der Wahrheitssuche verpflichtet, auch wenn das natürlich nur ein Ideal ist, nach dem wir streben. Leider gehört dazu auch die Erkenntnis aus der einschlägigen Forschung, dass das Konfrontieren mit Fakten allein Menschen selten dazu bewegt, ihre Sichtweise zu ändern, das gilt unabhängig von Bildungsgrad und Überzeugung, für Sozialdemokraten ebenso wie für AfD-Wähler, für Sie und mich. Wir ändern ungern unsere Standpunkte.

Was glauben Sie, mal grob in die Glaskugel geblickt weitere acht Jahre als Chefredakteur später: kriegen wir die Gräben wieder zugeschüttet und welche Rolle kann Zeit Online dabei spielen?

Eines der wenigen erprobten Mittel gegen betonierte Weltsichten ist nach Studien der persönliche Austausch mit Menschen, die eine völlig andere Meinung vertreten, hier leistet Zeit Online mit My Country Talks hoffentlich einen sinnvollen Beitrag. Wenn die Daten der Soziologie stimmen, sind Deutschlands Gräben zum Glück auch nicht so tief. Das Fundament der Zivilgesellschaft besteht zu mehr als 80, wenn nicht 90 Prozent aus Menschen, die weiter gesprächsbereit sind. Das ist in vielen der Länder, wo wir mit unseren Projekten aktiv sind, anders. Deswegen bin ich für Deutschland und große Teile Europas zuversichtlich.

Und die Minderheit von zehn Prozent muss eine pluralistische Gesellschaft akzeptieren?

Es muss eine stehende Einladung zum Gespräch geben. Aber man darf sich nicht von einer kleinen Gruppe beirren lassen, die sich dem demokratischen Diskurs verschlossen hat.

Das Interview ist vorab im Medienmagazin journalist erschienen
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