8 Zeugen: Erinnerung & Lügen
Posted: March 25, 2021 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a comment
Worte statt Taten
In der sehenswerten TVNow-Serie 8 Zeugen sucht Alexandra Maria Lara als polizeiliche Gedächtnisforscherin in den Erinnerungen von Beobachtern einer Kindesentführung nach Spuren. Selten zuvor war Krimi konzentrierter auf Sprache und trotzdem aufregend. Was nicht nur, aber auch an grandiosen Darsteller*inn*en liegt.
Von Jan Freitag
Das Gedächtnis ist ein selektiver, unzuverlässiger, trügerischer Ort. „Erinnern“, wusste schon Günter Grass, „heißt auswählen“. Jasmin Braun geht noch einen Schritt weiter. „Jede Erinnerung ist falsch“, sagt die Gedächtnisforscherin zu Beginn der TVNow-Serie 8 Zeugen und erklärt: „Wir erleben etwas, und Sekunden danach beginnt es sich zu verändern.“ Wer seiner Festplatte im Kopf trauen will oder derjenigen anderer, sollte deshalb so wenig Einfluss wie möglich darauf nehmen. Gerade, wenn es um Leben und Tod geht.
Eben noch hat sie als Sachverständige vor Gericht die Befragungstechnik mehrerer Polizisten kritisiert, da trifft Dr. Braun (Alexandra Maria Lara) einige davon dort, wo drei Stunden zuvor die Tochter des Innensenators entführt wurde. Es herrscht also gegenseitige Skepsis im Berliner Naturkundemuseum: Hier der zupackende Einsatzleiter Dietz (Ralph Herforth) und seine Ermittler, da die tastende Psychologin Braun (Alexandra Maria Lara) und ihr Wissen, alle gemeinsam entzweit im Kampf gegen die Uhr.
Während die Polizei ihre Augenzeugen schnell auf den Pfad verdrängter Tathergänge schicken will, möchte die Wissenschaftlerin, „kein Teil des Gedächtnisprozesses werden, deshalb arbeite ich mit Transkripten, nicht mit Menschen.“ Anderseits sei es nicht ihre Art, Hilfsbedürftigen die Hand auszuschlagen. „So funktioniere ich nicht.“ Deshalb vergisst die Expertin das akademische Prinzip methodischer Distanz und fühlt den Anwesenden der Kindesentführung Folge für Folge auf den Zahn ihrer Erinnerungen.
Vom kolumbianischen Kindermädchen oder der profilneurotischen Studentin über den vorbestraften Wachmann und die Exfreundin des Tatverdächtigen bis hin zu dessen Vermieterin oder Jasmin Brauns früherem Professor versucht die fachlich geschulte Vernehmungslaiin also die komplizierte Balance zwischen Distanz und Nähe, Beobachtung und Intervention zu wahren. Es geht daher nicht um Täter und Opfer, es geht auch nicht um Action oder Blaulicht. In achtmal 20 Minuten geht es dieser Anthologie-Serie fast ausschließlich um Worte.
Fürs Videoportal eines strukturell oberflächlichen Privatsenders wie RTL ist das vielleicht ein wenig inhaltlicher als üblich. Beraten und inspiriert von der rechtspsychologischen Bestsellerautorin Julia Shaw bietet Showrunner Jörg Lühdorff folglich ebenso komplexes wie fesselndes Entertainment für Herz, Hirn und Magen. Vergleichbar dem gefeierten Netflix-Experiment Criminal, das Ende 2019 Verhörspezialisten aus Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Spanien im selben Verhörraum auf Mörderjagd schickte, brilliert auch dieses Krimikammerspiel schließlich durch extreme Fokussierung auf verborgene Details, statt blutiger Spuren.
Getragen wird die bildgewaltige Zuspitzung aufs scheinbar Belanglose durchs kollegiale Duell von Alexandra Maria Lara und Ralph Herforth. Während der deutsch-rumänische Weltstar seine Psychologin zwischen fachlicher Kompetenz und fragiler Persönlichkeit zerreibt, lässt der westfälische Abo-Gangster seine Figur vor lauter Testosteron zwar förmlich dampfen; zugleich stellt Kommissar Dietz Misogynie und Mackertum so strikt in den Dienst der Falllösung, als hätte Herforth fünf Jahre in Mordkommissionen hospitiert.
Und so bleibt bei aller Konzentration aufs Wesentliche – nämlich das Mädchen zu finden – noch genug Raum für Nebenschauplätze: den unverwüstlichen Corpsgeist uniformierter Institutionen zum Beispiel. Clan-Kriminalität und wie viel sie mit Rassismus zu tun hat. Die zunehmende Bildungsverachtung einkommensschwächerer Schichten, gepaart mit wachsendem Standesdünkel einkommensstärkerer. Dazu das offene Geheimnis, Reden, Hören, Kommunikation seien noch immer die besten Problemlösungskonzepte. Und manchmal auch noch sensationell unterhaltsam.