András Arató: Klubrádio & Viktor Orbán

Ich bin publizistischer Aktivist

arato

Als das „Klubrádió“ Mitte Februar seine Lizenz verlor, schien eine der letzten unabhängigen Stimmen Ungarns zu verstummen. Ein Gespräch – vorab erschienen im Medienmagazin journalist – mit Senderchef András Arató (Foto: Laszlo Balogh) über Journalismus in der Autokratie, Kontroversen in seiner Redaktion, Spenden statt Werbung und warum er trotz aller Repression keine Angst vor russischen Verhältnissen hat.

Von Jan Freitag

Freitagsmedien: András Arató, Ihr Klubrádió galt als letzter unabhängiger Radiosender Ungarns.

András Arató: Er gilt nicht nur als letzter unabhängige Radiosender, Klubrádió ist auch. Leider. Zumindest unter den redaktionell geführten. Es gibt zwar noch ein paar Online-Stationen mit jeweils ein paar Dutzend Zuhörern, aber das sind eher Radioprojekte als richtige -sender. Ich benutze übrigens nicht die Vergangenheitsform.

Also Indikativ, Klubrádió ist der letzte unabhängige Radiosender Ungarns!

Und nicht nur das. Ich betrachte unseren politisch erzwungenen Wechsel ins Internet sogar als echte Herausforderung. Zumal wir zwar durchaus klassische Radiohörer verloren haben, aber auch neue, vor allem jüngere hinzugewonnen. Und die sind sogar überaus einsatzfreudig. Wir haben gerade die erste von zwei Spendenaktionen im Jahr beendet und dabei mehr Geld als je zuvor verdient. Das Klubrádió ist also keinesfalls verstummt, im Gegenteil. Die unabhängige Stimme unseres Senders ist lauter denn je.

Aber was heißt denn „unabhängig“ in einer Autokratie?

Zunächst mal sind wir institutionell unabhängig, gehören uns demnach selbst und keiner Partei oder sonstigen Einrichtung. Das gilt also auch für George Soros (lacht), weswegen weder wir ihn unterstützen noch umgekehrt – obwohl uns das finanziell bestimmt sehr helfen würde. Zum anderen gibt es aber auch keinen Großsponsor oder Mäzen, der Wünsche über Inhalt und Ausrichtung äußern könnte. Da sich die Zahl der aktiven Unterstützter zwischen 10.000 und 20.000 bewegt, verteilet sich die Abhängigkeit daher auf viele, statt nur wenigen. Und drittens sagt auch unter den Mitarbeitern niemand dem anderen, was er zu denken oder zu sagen habe.

Trotzdem gibt es aber redaktionelle Linien.

Die sich allerdings von selbst ergeben. Denn natürlich sind alle im Team liberale Demokraten, also das genaue Gegenteil der aktuellen Regierung, die beide Begriffe missbräuchlich für sich vereinnahmt. Über diese Linien herrscht bei uns absoluter Konsens, auch wenn wir übers Programm im Einzelnen durchaus unterschiedlicher Meinung sind.

An welchem Punkt zum Beispiel?

Ein guter wäre Jobbik.

Einer Oppositionspartei, die einst sogar noch rechts von Viktor Orbans Fidesz stand.

Auch wenn sie behauptet, sich diesbezüglich verändert zu haben, fehlt mir bis heute der Beweis, dass sie politisch woanders stehen als 2014. Als es unlängst eine regionale Nachwahl gab, kam der einzige Gegenkandidat zur Fidesz-Partei von Jobbik, vertreten durch einen Politiker, der kurz zuvor noch heftig gegen Juden, Sinti, Flüchtlinge gehetzt hatte. Obwohl das alle Mitglieder unserer Redaktion scharf verurteilen, gab es einige, die ihn dennoch zu einer Diskussion beim Klubrádió einladen wollten. Ich dagegen gehörte eher zur Gruppe jener, die solche Antisemiten nicht im Haus dulden – auch, wenn er die Möglichkeit hatte, Viktor Orbán eine Wahlniederlage beibringen. Das zeigt: es gibt durchaus kontroverse Ansichten über unseren Unabhängigkeitskurs.

Bedeutet der denn automatisch, sich in Opposition zur aktuellen Regierung zu befinden?

Das ist eine gute Frage. Denn natürlich sollten unabhängige Medien als Teile des Systems der Checks & Balances auch einer schlechten Regierung gegenüber genauso neutral und objektiv bleiben wie der Opposition gegenüber. Aber als die Fidesz 2002 zuletzt abgewählt wurde, haben auch wir uns acht Jahre lang so neutral und objektiv verhalten, dass die radikalisierte Partei vor elf Jahren die Wahl gewann und seine Vormachtstellung seither massiv ausbaut. Wir versuchen also wie zuvor das Gleichgewicht zwischen journalistischer Kritik und Fundamentalopposition zu wahren, aber Viktor Orbáns Regime regiert mittlerweile derart absolutistisch, dass es zur Fundamentalopposition faktisch keine Alternative mehr gibt.

Aber wie vermeidet man in so einer Situation, unkritisch gegenüber der Opposition zu sein, also selbst zur politischen Partei zu werden?

Indem wir es einfach nicht sind (lacht). Das Klubrádió ist und bleibt jeder undemokratischen, illiberalen Tendenz gegenüber kritisch und tut das auch lautstark kund. Und weil das undemokratische, illiberale Verhalten der Fidesz längst selbst das der offen rechtsextremistischen Jobbik übertrifft, fällt es uns ungemein leicht, die meiste Kritik aufs Orbán-Regime zu konzentrieren.

Sie sagen konsequent „Regime“. Zeugt das nicht bereits von einer journalistischen Voreingenommenheit, die Viktor Orbán nur in die Karten spielt?

Nein, es drückt eine Tatsache aus. Punkt.

Aber auch wegen dieser Abwehrhaltung bezeichnet die Fidesz Sie und ihr Radio nicht als journalistisches Medium, sondern im Sinne des Gesetzes über Nichtregierungsorganisationen von 2017 als feindliche Agenten, die ihrerseits Demokratie und Rechtstaat unterwandern, ja Ungarn als Feind betrachten.

Muss ich das wirklich kommentieren? Ich bin Ungar, in Budapest geboren, leiste meinen Beitrag zum Gemeinwohl, zahle Steuern und kann das guten Gewissens für all meine Kollegen behaupten. Es ist doch offensichtlich, wie konstruiert die Vorwürfe sind, um sich damit kritischer Stimmen zu entledigen. Nur deshalb hat uns der politisch besetzte Medienrat ja die Frequenz entzogen.

Als einzigem Bewerber, wohlgemerkt.

Sehen Sie!

Sind Sie überrascht, dass mit Spirit FM stattdessen nun ein religiöser Sender, der sich vorher gar nicht beworben hatte, die Frequenz erhält?

Wenn man sieht, wie über die Verweigerung oder Verlängerung von Frequenzen entschieden wird, überrascht mich das überhaupt nicht. Die Rücknahme der zunächst verfügten Ablehnung von Spirit FM wegen formeller Mängel, das voreingenommene Verhalten der zuständigen Kammer und nicht zuletzt Gesetzesänderungen im Medienrecht, das vorläufige Frequenzvergaben erleichtern – all dies belegt doch, dass die Entscheidung für Spirit oder den Propaganda-Kanal Kvarc FM, der eine zweite vergebene Frequenz erhält, lange im Voraus getroffen wurde.

Aber verstoßen die Vergabekriterien nur gegen Gebote der Fairness oder auch gegen geltendes Recht?

Aus meiner Sicht ist der gesamte Ablauf ebenso wie das Medienrecht insgesamt illegal. Unseren Fall betrifft das schon deshalb, weil die Entscheidung für Spirit FM noch während des ungeklärten Rechtsstreits um die Rücknahme unserer Frequenz gefallen ist. Das war weder juristisch noch moralisch korrekt.

Können Sie dagegen juristisch vorgehen?

Schwierig. Weil wir nicht mehr Teil des offiziellen Vergabeprozesses sind, können wir keine einstweilige Verfügung mehr erwirken. Und da es in Ungarn mittlerweile keine unabhängigen Gerichte mehr gibt, machen wir uns auch über andere Rechtswege kaum noch Illusionen. Der Ablehnungsgrund, unser Geschäftsmodel sei inhaltlich und formell widerrechtlich, diente ja vor allem dazu, unsere Reputation auch international zu zerstören.

Mit Erfolg?

Nein, das Gegenteil ist eingetreten. Auch Ihr Interesse an einem Budapester Lokalradio, als dessen Leiter ich kürzlich sogar zu einem Gastkommentar der Süddeutschen Zeitung eingeladen wurde, zeigt aber doch, dass das Gegenteil eingetreten ist. Während das Renommee von Orbáns Regime dank solcher Rechtsbeugungen international weiter leidet, haben wir an Unterstützung, Zuhörern, sogar Einnahmen gewonnen.

In welchem Verhältnis setzen die sich aus Spenden, Werbung und Beiträgen zusammen?

Bis 2010 existierte für ungarische Medien ein konsolidierter Werbemarkt, auf dem auch wir uns finanziert haben. Weil unser Publikum mit 500.000 Zuhörern, die uns mindestens einmal pro Woche hörten – zumindest für ungarische Verhältnisse – ziemlich groß war, hatten wir entsprechende Einnahmen von rund 60 Millionen Forint im Monat.

Umgerechnet annähernd 200.000 Euro.

Innerhalb eines Jahres brach die Zahl allerdings auf gerade mal ein Zehntel dieser Summe ein. Gleich nach seiner Machtübernahme erklärte das Orbán-Regime nämlich nach und nach allen demokratischen Institutionen erst inoffiziell, später dann auch offen den Krieg. Unabhängige Medien jedoch standen von Beginn an am stärksten unter Beschuss. Und die wichtigste Waffe dafür war schon frühzeitig ökonomischer Natur. Nach kürzester Zeit wurden staatliche Stellen und ihre Wirtschaftsverbündeten die wichtigsten Akteure des Werbemarktes und trockneten oppositionelle Stimmen somit finanziell aus. Abgesehen vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk, den das Regime bald und sehr konsequent mit Gefolgsleuten besetzte, traf es 2016 die linksliberale Népszabadság, seinerzeit Ungarns auflagenstärkste überregionale Tageszeitung.

Die kurz zuvor von einer dubiosen Holding mit Sitz auf den Seychellen und Nigeria übernommen und Richtung Pleite getrieben worden war.

Das gehört zum Prinzip. Oppositionelle Medien wurden und werden so geschwächt, dass sie leichte Ziele für Übernahmen durch Strohmänner und Mitglieder des Orbán-Clans sind, der durch staatliche Aufträge so reich geworden ist, dass er die Branche förmlich aufkaufen kann. Mit der Presse- und Medienstiftung Kesma kontrolliert Orbán mittlerweile mehr als 500 Medienunternehmen und damit praktisch die gesamte Presse.

Aber wieso ist das Klubrádió angesichts dieser politischen und wirtschaftlichen Übermacht dann noch – und sei nur digital – auf Sendung?

Ohne mich selbst loben zu wollen, habe ich einfach schon relativ früh geahnt, was nach einem Machtwechsel passieren würde. Schon vor Orbáns Wiederwahl war sein künftiges Verhalten nämlich absehbar. Ende 2009 habe ich deshalb eine Stiftungsstruktur zur Finanzierung durch Spenden ins Leben gerufen, um uns von Werbeeinnahmen unabhängiger zu machen. In einem Land, dessen zivilgesellschaftliche Tradition bis heute eher geringer ausgeprägt ist als in anderen europäischen Ländern, war das zwar eine Lotterie, von der selbst hochgeschätzte Kollegen meinten, ich würde sie verlieren.

Aber Sie haben trotz allem gewonnen.

Mehr noch, es war fast ein Wunder! In den zehn Jahren seit Viktor Orbáns Wahlsieg, haben wir mehr als fünf Millionen Euro eingesammelt, die vollständig in Programm und Infrastruktur geflossen sind. Wir schalten zwar ab und zu noch mal Reklame, aber die meisten unserer Ausgaben sind durch Spenden gedeckt.

Und das reicht, um Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen so zu bezahlen, wie vorm Verlust der Sendefrequenz?

Natürlich. Seit 2015 schreiben wir wieder einigermaßen schwarze Zahlen. Bis dahin hatten wir große finanzielle Probleme, die wir mit Krediten überbrückt haben. Aber zum Glück war der wichtigste Gläubiger ich selbst, weswegen die Vorwürfe bei der Finanzierung im Prozess der Frequenzvergabe, wir seien von irgendwelchen Banken finanziert und deshalb in Abhängigkeit fremder Mächte geraten, völliger Unsinn.

Aber was hat sich am 14. Februar, dem Tag des Frequenzentzugs, denn dann für die alltägliche Arbeit beim Klubradio geändert?

Nicht allzu viel, wir tun dasselbe wie immer. Aus zwei Gründen: zum einen, weil wir unsere Arbeit so lieben, dass wir sie unter jeder erdenklichen Bedingung ausüben würden. Zum anderen, weil wir das unseren Spendern und vor allem: dem Publikum schuldig sind. Selbst im Internet ist es schließlich so groß, dass wir zehnmal mehr Hörer haben als der Zweite unter den Top ten.

Aber spricht das nicht weniger für Sie als gegen die Medienvielfalt in Ungarn?

Absolut, und die Arbeitsbedingungen für unabhängige Recherche werden auch für uns mit jedem Tag schwieriger. Umso erstaunlicher ist es, dass sich am 15. Februar zwar unser Verbreitungsmedium, aber nicht die Reichweite geändert hat – schon, weil wir unsere Homepage in weiser Voraussicht schon 2018 so überarbeitet haben, dass sie modernen Anforderungen entspricht und dennoch dem alten Medium Radio Genüge leistet. Denn was ist Radio?

Ja was?

Ein möglichst gewissenhaft kuratiertes Informations- und Unterhaltungsmedium, das man nebenbei beim Autofahren, Essenmachen, Wäschebügeln hört und dennoch informativ unterhalten wird. Deshalb wird gutes Radio wider alle Prognosen fortbestehen. Als das Kino erfunden wurde, hieß es ja auch schon, das Theater werde sterben. Als das Fernsehen erfunden wurde, hieß es, das Kino werde sterben. Seit das Streaming erfunden wurde, heißt es nun, das Fernsehen wird sterben. Wir werden sehen, welchen Einfluss die Pandemie darauf nimmt, aber bislang ist keine Befürchtung eingetreten.

Aber trotzdem haben sich doch die Arbeitsbedingungen in dem, was Viktor Orbán „illiberale Demokratie“ nennt, geändert.

Das stimmt. Aber Klubrádió war zu jeder Zeit seit 2001 so unübersehbar und definitiv liberal, dass uns kein Vertreter des Regimes bislang nahekommen wollte. Trotzdem ist es natürlich eine Illusion, zu glauben, wir könnten einfach so nur unsere Arbeit machen. Staatliche Stellen zum Beispiel, von Regierungsvertretern ganz zu schweigen. Umso zynischer ist es, dass sich ein Fidesz-Minister kürzlich damit rühmte, in Ungarn sei noch kein Journalist wegen seiner Tätigkeit in Haft oder gar getötet worden. Aber obwohl ich selbst das bei genauerer Prüfung bezweifeln würde, sehe ich in den Augen meiner Kollegen beim Klubradio, aber auch bei unseren Zuhörern keine Angst. Im Gegenteil.

Sie befürchten also keine russischen Verhältnisse, in denen Journalistinnen und Journalisten zusehends in Lebensgefahr schweben?

Auch, wenn ich ein unverbesserlicher Idealist bin, würde ich mich nicht trauen, das Gegenteil zu behaupten. Solange Ungarn allerdings wie bisher am Tropf der Europäischen Union hängt, wird es sich diesbezüglich zurückhalten. Und es gibt auch erste Anzeichen dafür, dass die EU von ihrer Zurückhaltung in der Sanktionierung Ungarns – aber auch Polens – für die permanenten Rechtsverstöße beider Regimes langsam, aber stetig abweicht. Als ich 2012 zu einer ARD-Konferenz in Brüssel zum Thema Pressefreiheit in Europa eingeladen war, gab es dort noch praktisch keinerlei offizielle Kritik an Viktor Orbán. Mittlerweile ändert sich das langsam, obwohl es schon fast ein bisschen zu spät ist.

Nächstes Jahr finden Parlamentswahlen statt, in die Ungarns Opposition ungewohnt vereinigt zu gehen scheint. Sind Sie optimistisch, dass Viktor Orbán verlieren könnte?

Ja, das bin ich. Obwohl die Hoffnung den Glauben manchmal leicht übersteigt. Ich werde öfter gefragt, ob ich bezüglich der Zukunft Ungarns und seiner Medien optimistisch oder pessimistisch bin. Meine Antwort: weder noch. Als Pessimist verliert man nämlich schnell den Antrieb, als Optimist den Realismus. Ich bin Aktivist. Publizistischer Aktivist.

Und was macht dem nun mehr Hoffnung als Glauben?

Mehrere Regionalwahlen im Oktober 2019 zum Beispiel. Damals wurden abgesehen von Budapest gleich mehrere – nach ungarischem Maßstab – größere Städte von Oppositionellen gewonnen. Seit dieser Überraschung kann man die wachsenden Angst von Fidesz vor der nächsten Wahl förmlich riechen, andererseits aber auch den Mut ihrer Gegner, die Viktor Orbáns aggressive Politik eben nicht gespalten, sondern vereinigt und mit einer echten Chance auf Veränderung versehen hat. Das war vor drei, vier Jahren noch absolut unvorstellbar.

Das klingt so, als seien sie zuversichtlich, es könne einen politischen Regimewechsel geben. Aber sind Sie es auch bezüglich eines soziokulturellen Systemwechsels? Viktor Orbán hat Ungarns demokratische Institutionen schließlich so geschleift, dass sie auch nach seiner möglichen Abwahl rechte, reaktionäre Politik begünstigen.

Das ist eine extrem wichtige, für unsere Zukunft in Ungarn, Europa und der Welt absolut entscheidende Frage. Wenn ich diesbezüglich von einer Revolution spreche, meine ich also keine brennenden Barrikaden, die ich mir auf keinen Fall wünschen möchte. Das ungarische System ist jedoch so verkrustet, dass es schon ein revolutionärer Ansatz ist, die Medien- und Steuergesetze so zu reformieren, dass sie nicht ausschließlich den Macht- und Finanzinteressen einer korrupten Clique dienen. Insofern vergleiche ich diesen Prozess mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Länder wie Ungarn, aber auch Deutschland kein Fundament mehr hatten, auf dem sich ein Reformprozess hätte ereignen können. Das System musste also vollständig geändert werden.

Ungarns Situation 2021 gleicht aus Ihrer Sicht der von 1945?

In abgeschwächter Form natürlich, aber ja. Erst kürzlich hat unser Außenminister allen Ernstes die gesamte europäische Presse ohne Ausnahme als Lügner bezeichnet. Also nicht irgendwer, sondern der Führer des diplomatischen Corps! Das gab es nicht mal in den Dreißigerjahren. Oder nehmen Sie den ungarischen Oberstaatsanwalt, ein treuer Orbán-Soldat. Seine Entscheidungen können nur mit Zweidrittelmehrheit im Parlament überstimmt werden. Eine demokratisch nicht legitimierte, rein exekutive Machtfülle wie diese muss jede Opposition auf legalem Wege beseitigen, sonst würde sie dafür sorgen, dass sich der Horror des Orbán-Regimes auch nach einer Wahlniederlage in kürzester Zeit wiederholt. Von daher zurück zu Ihrer Frage: ja, das System muss sich grundlegend ändern, sondern ist ein Regierungswechsel nicht von Dauer.

Glauben Sie daran, dass ein Regierungswechsel in absehbarer Zeit auch die verloren gegangene Pressefreiheit wiederherstellen könnte?

Wenn ich es nicht täte, wäre ich hier am falschen Platz, oder? Aber machen wir uns nichts vor: es wird ein harter, ein langer Weg. Denn ich weiß nicht, wie viele Ungarn sich darüber noch im Klaren sind, wie wichtig die Freiheit der Presse für die Freiheit der Menschen ist. Diese Unwissenheit gefördert zu haben, ist einer der großen, langfristigen Erfolge von Viktor Orbáns Politik. Deshalb hat er die freie Presse schon so früh attackiert. Und deshalb braucht sie so viel Solidarität und Hilfe und Expertise von außen – auch aus Deutschland.

Wie lautet da dann Ihre Prognose fürs Klubrádó: Werden Sie irgendwann wieder ein gewöhnlicher Sender mit regulärer Frequenz und Werbeeinnahmen zur Finanzierung sein?

Diese Hoffnung haben wir nie aufgegeben. Nie. Genau deshalb klagen wir ab Freitag schließlich vorm Verfassungsgericht dagegen, dass unsere Lizenz – und zwar erkennbar rechtswidrig – aufgehoben wurde. Weil selbst Ungarns höchste Gerichte mittlerweile von Orbáns Leuten besetzt sind, machen wir uns zwar nicht allzu viele Hoffnungen auf Gerechtigkeit. Aber wir gehen diesen Weg weiter und klagen eine Woche später auch gegen die Entscheidung eines Budapester Gerichtes, das den Lizenzentzug bestätigt hat. Und wenn es sein muss, gehen wir vor den Europäischen Gerichtshof – koste es, was es wolle. Aber wichtiger als der juristische Kampf ist und bleibt für uns der journalistische.

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