Inventing Anna: Sorokin & Delvey
Posted: February 17, 2022 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentDie Welt will betrogen werden
Im hochinteressanten Biopic Inventing Anna fiktionalisiert Netflix die reale Millionenbetrügerin Anna Sorokin alias Delvey und fragt neun Teile lang mit lipstickfeministischem Trotz: verdienen wir es nicht anders? Tja…
Von Jan Freitag
Kein Profilfoto mit Falten, kein Insta-Post ohne Farbfilter, kein Wort der Wahrheit, kein Lachen von Herzen. Mundus vult decipi, sagten Lateiner lange, bevor Social Media digitalisiert wurde – die Welt will betrogen werden. Ergo decipiatur, folgt darauf bis heute – dann betrügen wir sie! Zwar ist nicht überliefert, ob Anna Delvey zusätzlich zum halben Dutzend lebendiger Sprachen auch tote spricht. Aber wenn jemand das altrömische Sprichwort bis hin zum Pseudonym verinnerlicht hat – dann die Großbetrügerin aus Deutschland, der halb Amerika auf den Leim gegangen ist.
Geboren 1991 in Moskau, als Russland eine Diktatur war, umgezogen 2007 ins Rheinland, als Putins sie grad erneuerte, zog Anna Sorokin, so lautet ihr echter Namen, mit Anfang 20 über Paris nach New York und fand eine Stadt vor, die um Betrug förmlich bettelte. Also gab ihr Anna Sorokin alias Delvey, was sie wollte, flog höher als alle Hochhäuser, fiel tiefer als jeder Metro-Schacht und lieferte den Stoff einer Realfiktion, die Shonda Rhimes zum Auftakt jeder Episode mit „diese Geschichte ist total wahr“ einleitet, „außer alles, was daran total erfunden ist.“
Geht das? Und wie das geht! Zumindest, wenn sich die Schöpferin stilbildender Serien von Grey’s Anatomy bis Bridgerton der total wahr erfundenen Geschichte annimmt. Zusammen mit Jessica Pressler hat sie deren Magazin-Story How Anna Delvey Tricked New York’s Party People für Netflix in ein neunteiliges Biopic übersetzt. Und ließe sich nicht so gut recherchieren, was darin alles stimmt – vieles wäre zu fantastisch, um wahr zu sein. So wahr, dass selbst die Urheberin dran glaubt.
„Bitches, ich arbeite für meinen Erfolg“ sagt sie zu Beginn in die Polizeikamera, pöbelt „fickt euch“ hinterher und zeigt: hier betrügt jede jeden und alle sich selbst, Titelfigur inklusive. Weil die ehrgeizige, aber erfolglose Reporterin Vivian (Anna Chlumsky) eine Story wittert, nimmt sie Kontakt auf zur inhaftierten Anna (Julia Garner), die der ebenso ehrgeizige, aber erfolglose Anwalt Todd (Arian Moayed) lieber öffentlich verteidigen will, als einen Deal anzunehmen – schließlich brächte der spektakuläre Fall Schwung in seine Berufskarriere und der Angeklagten die Aussicht auf noch mehr Publicity.
Schon früh wird deutlich: Inventing Anna handelt nur vordergründig von der manipulativen Hochstaplerin, die sich als Milliardenerbin ausgibt und New Yorks Boheme im Stil von Mark Twains Novelle The Million Pound Bank Note ohne einen Cent im Gucci-Täschchen um Kleider, Kunst, Luxusgüter erleichtert; dahinter geht es um die Aufmerksamkeitsgesellschaft, die Neidgesellschaft, die Statusgesellschaft, die Profilneurosengesellschaft. Eine Klassengesellschaft massenhafter Individuen auf der Jagd nach Distinktion oder wie es Vivians Informantin Neff (Alexis Floyd) ausdrückt: jeder in New York will „Geld, Macht, Image, Liebe“. Nur die Wahrheit, die will hier niemand.
Ob Anna Objekt oder Subjekt ihrer betrügerischen Energie ist, darauf können sich alle nun volle neun Stunden kurzweiliger Fernsehunterhaltung ihre eigenen Reime machen. Doch je tiefer Vivian mithilfe eines Quartetts abgehalfterter Kollegen ins Glamourdasein der Fake-Erbin taucht, desto mehr sagt Netflix über unsere Zeit aus. Eine Zeit unablässig veröffentlichter Privatsphären, die Blender zu Influencern macht, also aus Parias früherer Gemeinwesen angehimmelte Parvenüs. Doch hier, da emanzipiert sich Shonda Rhimes erneut von Frauenrechtlerinnen der Generation Alice Schwarzer, formuliert die Serie einen Feminismus fernab bloßer Gleichstellungsträume.
Annas Freund Chase (Saamer Usmani) und sein Start-up dienen ja allenfalls als Einfallstore der Ambitionen willensstarker Frauen wie ihre Mentorin Nora (Kate Burton). Überhaupt sind Männer wahlweise Helfer oder Hemmnisse weiblicher Selbstermächtigung – verkörpert durch Alphatiere in Prada-Kostümen, die ihre Interessen ähnlich skrupellos verfolgen wie jene in Boss-Anzügen, aber nicht annähernd so erbärmlich aussehen, wenn sie dabei auf Anna reinfallen.
Obwohl Anna Chlumsky ihre Vivian sketchupmäßig überspitzt, macht das die Serie zur lohnenswerten Feldstudie einer autoaggressiven Konsumepoche. „Anna ist alles, was an Amerika schiefläuft“, sagt eine Staatsanwältin. „Und sie ist noch nicht mal Amerika“. Wer Anna Sorokin alias Delvey, der shondaland angeblich 325.000 Dollar Honorar für die Verfilmung ihrer Story zahlte, stattdessen ist – die Frage zieht sich durch neun Teile und gibt doch keine Antwort außer der, dass unsere Welt betrogen werden will. Ergo decipiatur.