False Balance & Bülents Musik

Die Gebrauchtwoche

4. – 10.  April

False Balance fristete seit dem Durchbruch dieser Umschreibung falsch verstandener Ausgewogenheit feuilletonistisch beachtetes, am Ende aber einflusslose Nischendasein. Querdenkern, Nazis oder querdenkenden Nazis ähnlich viel publizistischer Redezeit zu gewähren wie dem vernunftbegabten Rest der Menschheit, wirkte journalistisch zwar asymmetrisch, aber außer für Jan Böhmermann zumindest im öffentlichen Diskurs nicht weiter schlimm. Und dann kam Butscha

Darf, ja muss man die Leugnung russischer Massaker an der ukrainischen Zivilbevölkerung bei Kiew und anderswo erwähnen, während an Moskaus Verantwortung für dieses Kriegsverbrechen nicht ein seriöser Zweifel besteht? Darf, ja muss man die Opfer zeigen oder darf, ja muss deren Würde durch verpixelnde Pietät, wenn nicht gar Ausblendung gewahrt bleiben? Und wie ist es eigentlich mit Autokorsos Berliner Putin-Versteher – ignorieren, anprangern, verulken? Wer kluge Antworten hat – bitte bei freitagsmedien melden oder besser gleich dem Pulitzerpreis-Komitee.

Nur so viel: Unsere visuell fixierte Gesellschaft verliert zusehends alle Empathie für Dinge, die unsichtbar bleiben. Von daher hat Bild ausnahmsweise was richtig gemacht, als sie Butscha mit dem Foto der Hand einer Toten illustrierte. Julian Reichelt hätte als Chefredakteur schließlich Kinderleichen gestapelt. Von daher darf man durchaus besorgt sein über sein neues Projekt. Rome Medien GmbH soll es heißen, benannt nach der imperialen Plutokratie, nicht der ewigen Stadt, versteht sich. Und ein paar gewissenlose Kolleg*innen aus Springer-Zeiten hat er schon beisammen – Sebastian Vorbach und Willi Haentjes oder die Yellow-Fotografin Ute Oelker.

Ob sich die neuen Römer an Reichelts Hassliebe Bild oder rechten Verlagen von Regin über Kopp bis Antaios orientieren, bleibt offen. In einer Zeit aber, da Karl Lauterbach Ministerbeschlüsse twittert und bei Lanz zurücknimmt oder umgekehrt, scheint alles möglich. So sind mit Ulrike Handel und Niddal Salah-Eldin zwei (teils migrationsgeprägte) Frauen im Springer-Vorstand für die rassistisch-sexistische Agenda mitverantwortlich. Überzeugungsgesteuerter ist da die Entscheidung des ZDF, Bettina Schausten zur Chefredakteurin zu machen und Nadine Bilke zur Programmdirektorin.

Die Frischwoche

11. – 17. April

Die sichtbarste Antwort von Sat1 auf gläserne Decken lautet dagegen Ruth Moschner, die Donnerstag zum zweite Mal Kühlschrank öffne dich moderiert. RTL+ startet derweil echte Attacken auf spätrömische Herrschaftsstrukturen alter weißer Männer. Dienstag laufen dort gleich sechs internationale Serien an. Und jede davon erhebt den hehren Anspruch zukunftsweisender Diversität in Besetzung, Produktion, Dramaturgie. Und die amerikanischen (Un-)Romantic Comedies Starstruck und Cheaters erfüllen ihn mit Personal, das ebenso hart wie heiter vom heteronormativen Mainstream abbiegt, sogar ganz gut.

Auch Josh Thomas ist als Showrunner und schwuler Zappelphilipp der australischen Empowerment-Tragikomödie Everything’s Gonna be Okay fast so hinreißend wie einst als Showrunner und schwuler Zappelphilipp von Please Like Me. Selbst die verschiedenartigen Schüler*innen des Coming-of-Age-Melodrams Generation zeugen von Wahrhaftigkeitsbedürfnis. Die Protagonistinnen der Hochglanzprodukte You Shall Not Lie und Eden allerdings sind trotz ungewohnt weiblicher Produktionen viel zu sexy, um divers zu sein.

Divers, ohne übertrieben sexy sein zu wollen, ist dagegen die die achtteilige Adaption von Cecilia Aherns Kurzgeschichten Roar, in denen die Showrunnerinnen Carly Mensch und Liz Flahive ab Freitag bei AppleTV+ weibliche Rollenmuster mit Stars wie Nicole Kidmann skizzieren. Männer sind ab morgen auch in der ulkigen Netflix-Mockumentary Hard Cell aus einem Frauenknast Mangelware, während Bülent Ceylan als Host von Don’t Stop the Music dienstags (22.15 Uhr, ZDF) benachteiligte Berliner Kids durch die Gründung eines Orchesters aus dem Abseits holt – was überraschend frei von Fremdschampathos funktioniert.

Jenseits aller Emanzipation sichtbar: Die sechsteilige Politbestseller-Verfilmung Anatomy of a Scandal (Freitag, Netflix) und der Konzertfilm Auswärtsspiel in Ostberlin, womit das Erste den Toten Hosen am Mittwoch zum 40. Geburtstag gratuliert. Parallel setzt der NDR den hochinteressanten Doku-Talk Die Narbe von und mit Anja Reschke fort, diesmal nicht über Katastrophen wie das Zugunglück von Eschede, sondern Verbrechen wie den Vernachlässigungsfall Jessica.

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