Becoming Charlie: Geschlecht & Misgendern

Becoming Charlie

Unterhaltung mit Haltung

Die Neo-Serie Becoming Charlie steckt Lea Drinda als nonbinäre Person im Plattenbau statt Luxusviertel und behandelt das Nischenthema LGBTQ+ auch sonst praktisch klischeefrei. Hier ist meine Originalkritik der Serie auf DWDL. Gleich dahinter veröffentliche ich hiermit aber auch die Reaktion von Lion H. Lau, verantwortlich fürs Drehbuch und mit einer ganzen Reihe von Kritikpunkten an meiner Rezension, die ich im Anschluss beantworte.

Von Jan Freitag

Was wäre, wenn? Ja, was wäre eigentlich, wenn Frauen Männer wären. Wenn sie Schwänze hätten statt Schamlippen und damit vielleicht nicht gleich die ganze Ungerechtigkeit tausender Jahre Patriarchat beseitigt, aber vorerst wenigstens das körperliche Leid hinterm doppelten X-Chromosom von Regelschmerz über Geburtswehen bis Wechseljahre? Was also wäre, wenn Charlie keine Vagina, sondern einen Penis besäße? „Dann könntest du im Stehen pinkeln“, antwortet Alina auf die Frage ihrer besten Freundin und lacht. Noch.

Die Titelfigur der Instant-Dramaserie Becoming Charlie, das merkt Alina nach wenigen der insgesamt kaum 100 Minuten Sendezeit, ist sich nämlich unsicher, welches primäre Geschlechtsmerkmal ihr lieber wäre. Schon der Vorname unterwandert ja die standesamtlich geforderte Abgrenzung zu den richtigen, den Bio-Jungs. Und auch sonst ist Charlie eher burschikos als feminin. Ihr Schlabberlook, der Cowboygang, das kurze Strubbelhaar – habituell passt alles am Twentysomething im Offenbacher Plattenbauviertel zum Faible für die Protzkarren der Block-Babos.

Charlie prollt, Charlie flucht, Charlie rangelt. Charlie hat zwar kindliche Gesichtszüge, aber raue Manieren. Sie schreibt Gangstaraps, fährt für Lieferdienste Lebensmittel durch Häuserschluchten, kommt so natürlich nie aus der Schuldenfalle einer alleinerziehenden Mutter und steht auch noch bei Tante Fabia in der Kreide. Alles Alltagssorgen eines reichen Landes mit wachsendem Armutssockel, die das Gefühlschaos vervielfachen. Charlie, so wirkt es ab heute in der ZDF-Mediathek (24. Mai, 20.15 Uhr: Neo), will Charlotte im Ausweis beerdigen. Wenn es denn so einfach wäre…

Denn in der Realfiktion von Lion H. Lau ist alles noch komplizierter als ohnehin – und somit das Beste, was uns im Steinbruch sexueller Identitätssuche passieren konnte. In Becoming Charlie erzählt die nonbinäre Autorin schließlich ein Stück weit ihr eigenes Leben jenseits von Mann oder Frau in der Lausitz nach. Und was die explizit feministische Regisseurin Kerstin Polte („WIR“) mit der Newcomerin Greta Benkelmann sechs hochpräzise Folgen lang daraus macht, stellt einiges auf den Kopf, was das LGBTQ+-Spektrum am Bildschirm prägt.

Ob nun Queer as Folk oder The L-Word, Transparent oder Will and Grace: Seit ein schwuler Anwalt in Philadelphia an Aids erkrankte, sind Abweichungen vom heteronormativen Mainstream Oberschichtenphänomene, also außerhalb der Frauenknastmauern von Orange is the New Black allenfalls Ausnahmen vom Regelfall. Neue Hauptfiguren subkultureller Fiktionen von Please Like Me bis All you need mögen zwar prekär beschäftig sein, aber immerhin kultiviert, also gut situiert. Dass Lion H. Laus Titelheld:in im 9. Stock eines sozialen Brennpunktes am sozialen Geschlecht verzweifelt, ist da schon mal bemerkenswert.

Noch auffälliger ist allerdings, wie ein vornehmlich weibliches Team Lions Drehbuch in lebensgroße Bilder gießt. Gut ein Jahr nach dem Durchbruch als Junkie im Prime-Remake der Kinder vom Bahnhof Zoo sticht dabei besonders Lea Drinda hervor. Wie die 21-Jährige gegen ihre pilchertaugliche Kulleraugenoptik anspielt, ohne sie zu negieren ist dabei schlicht sensationell. Denn wie ihre Babsi den Berliner Heroinabgrund der späten 1970er, bringt ihre Charlie den Offenbacher Hartz-4-Abgrund der frühen 2020er mit einer Dringlichkeit von fast schon einschüchternder Ambivalenz zum Ausdruck.

Mal angriffslustig, mal lebensmüde, aber meist auf den Punkt einer zerrissenen Selbstreflexion, ringt die vierfachdiskriminierte Transgender-Person um Halt(ung). Als lesbische Frau kämpft sie um die Beziehung zur schwangeren Alina (Aiken-Stretje Andresen). Als arme Frau kämpft sie im Dunkel einer stromlosen Etagenwohnung gegen die Realitätsverweigerung ihrer kaufsüchtigen Mutter (Bärbel Schwarz). Als süße Frau kämpft sie gegen Vorurteile einer männlichen Umgebung (Danilo Kamperidis). Und als Frau, die weder das noch ein Mann sein will, kämpft sie mithilfe der Nachbarin Ronja (Sira Anna Faal) gegen sich selber – was Kerstin Polte in der eindrücklichsten Szene dieser tollen Serie zum Ausdruck bringt.

Im Bad ihrer Tante Fabia (fabelhaft grantig: Katja Bürkle) spielt Charlie mit Schminke Geschlechterstereotypen durch, und Lotta Kilians Kamera hält so ewig drauf, bis alle Persönlichkeiten in Körper, Geist und Seele zur retrofuturistischen Musik von Pelle Paar und Alice Dee am Spiegel kondensieren. Keine fünf Minuten später dann kippt dieser visuelle Ritt ins Durcheinander einer lebenden Normabweichung sogar buchstäblich, als Charlie ihrer liebevollen, aber verständnislosen Mutter „ich bin keine Frau“ zuflüstert und im Splittscreen rechts kopfüber steht.

Statt lauter Wut oft stille Verzweiflung, statt aggressiver Rebellion eher innere Immigration: Becoming Charlie, übersetzbar mit „Charlie werden“, enthält sich vieler Klischees, die filmische Sichtweisen auf alternative Sexualitäten oft so didaktisch machen und damit anstrengend. Hier strengt allenfalls der Wust queerer Lebensentwürfe an, die Lion H. Lau auf engstem Raum einer Betonwüste verdichtet. Tante, Kumpel, Chef, Nachbarn – alle sexuell außergewöhnlich. Weil die Figuren dabei nicht randgruppengerecht überzeichnet sind, sondern im Gegenteil: auf dezente Art gewöhnlich, klärt die Serie jedoch mehr auf als zu unterwandern. Und erschafft so etwas Beachtliches: Unterhaltung mit Haltung.

Reaktion von Lion H. Lau

Hallo liebe dwdl-Redaktion, hallo Jan Freitag,

danke für diesen unglaublich positiven und begeisterten Beitrag zu unserer ZDFneo Serie BECOMING CHARLIE. Ich bin für das Buch und gemeinsam mit Kerstin Polte und Greta Benkelmann für das Konzept der Serie verantwortliche Person. Es geht um folgende Kritik:

https://www.dwdl.de/meinungen/87994/becoming_charlie_bei_zdfneo_unterhaltung_mit_haltung/?utm_source=&utm_medium=&utm_campaign=&utm_term=

Dass die Serie auch Menschen erreicht, die zuvor keine Berührungspunkte mit dem Thema hatten und dass es emotional berührt, freut uns im Team ungemein. Ob so etwas gelingt, weiß ja niemand so richtig vor dem Release. Danke für den Enthusiasmus und die ausführliche Kritik! Das vorweg genommen, gibt es jedoch Punkte, die ich anmerken muss.

Hier geht es ganz klar nicht um die Infragestellung einer Meinung/Haltung und der Kritik. Und nichts ist schwerer, als mit einer Korrektur von einer so überschwänglich positiven Kritik um die Ecke zu kommen. Ich möchte ja nicht undankbar sein. Ich habe mir das Wochenende Zeit genommen, mir zu überlegen, ob, und wenn ja, wie ich reagiere. Erstmal vorweg meine Motivation: Das ist die gleiche, weshalb ich überhaupt BECOMING CHARLIE geschrieben habe. Um aufzuzeigen, zu sensibilisieren und wenn nötig, in Dialog zu kommen. Aufklärung ist ein wichtiger Beitrag zur Inklusion von trans und nicht-binären Menschen. Die Aufklärung dazu ist schrecklich komplex. Aber ich versuch es mal.

Aber ein wichtiger Punkt vorweg: Charlie, unser Hauptcharakter, so wie auch ich, werden im Text misgendert. Kontinuierlich. Das tut mir als trans und nicht-binäre Person, die in der Öffentlichkeit steht, keinen Gefallen. Im Gegenteil. Ich muss nun erneut bei Presseanfragen etc., die sich z.T. auf eben diese Rezension beziehen, erneut Stellung zu meinen Pronomen nehmen. Nicht-binäre Menschen, die sich eine solche Serie herbeigesehnt haben, sind irritiert oder getriggert. Der Kampf um unsere gesellschaftliche Akzeptanz auch in der Sprache, beispielsweise im Rahmen unserer Pronomen statt – etwas, was BECOMING CHARLIE versucht, zu bebildern. Ich habe mir auch den Podcast von Jan Freitag angehört und war schlichtweg begeistert, als er und sein Moderationspartner von mir als Person gesprochen haben. Dafür bin ich sehr dankbar.

Ich benutze keinerlei Pronomen (auch keine Neopronomen) und deswegen wird in meinem Fall tatsächlich von Person gesprochen oder Lion Lau. Genauso verhält es sich bei unserem Hauptcharakter Charlie. Ich bitte hierbei um Korrektur. Jetzt gehe ich mehr ins Detail:

“Was wäre, wenn? Ja, was wäre eigentlich, wenn Frauen Männer wären. Wenn sie Schwänze hätten statt Schamlippen und damit vielleicht nicht gleich die ganze Ungerechtigkeit tausender Jahre Patriarchat beseitigt, aber vorerst wenigstens das körperliche Leid hinterm doppelten X-Chromosom von Regelschmerz über Geburtswehen bis Wechseljahre?”

– Das ist natürlich ein möglicher Einstieg in eine Rezension. Wir behandeln mit BECOMING CHARLIE jedoch keinerlei primäre Geschlechtsmerkmale. Vielmehr geht es um die soziale Rezension von Geschlecht. (Cis) Männer können in der Öffentlichkeit, im Stehen, visuell sichtbar für alle pinkeln. Weiblich gelesene Menschen können das nicht. Wem ist was im öffentlichen Raum erlaubt und wem nicht. Penisse und Vaginen spielen hier keine Rolle – außer man sieht sie als einziges Indiz für Geschlechtszugehörigkeit.

Sprechen wir vom biologischen Geschlecht, werden meist auch nur männlich und weiblich als einzige Spielarten genannt. Frauen haben Vaginen, Männer Penisse. Auch das ist wissenschaftlich veraltet. Nicht nur inter* Personen gelten hier als Beispiele, die aus dieser nicht mehr der wissenschaftlich belegten Norm entsprechen. Mittlerweile haben Wissenschaftler*innen neben zusätzlichen Chromosomen (zusätzlich heißt über die im Bio-Unterricht verankerte Lehre zu XY und XX-Chromosomen hinausgehenden Chromosomen), die zur Geschlechtsbildung beitragen, auch Hormone tiefergehend untersucht. Auch hier gilt: Biologisches Geschlecht ist ein Spektrum.

Heißt: Am Genital eines Menschen kann niemand das Geschlecht ablesen. Heißt konkret für Charlie: Charlie kam als Baby zu Welt, welches Geschlecht Charlie zugeschrieben wurde? We don’t care. Klar, die Charaktere, die Charlie umgeben, referieren auf das Geschlecht, welches Charlie bei der Geburt zugeschrieben wurde. Aber wir (also damit meine ich uns Kreativen hinter BECOMING CHARLIE) tun das nicht. Niemals.

“Die Titelfigur der Instant-Dramaserie „Becoming Charlie“, das merkt Alina nach ein paar der insgesamt kaum 100 Minuten Sendezeit, ist sich nämlich unsicher, welches primäre Geschlechtsmerkmal ihr lieber wäre.” Nein. Das ist kein Thema. Kein einziges Mal. Tatsächlich spielen primäre Geschlechtsmerkmale für die meisten trans und nicht-binären Menschen eine untergeordnete Rolle. Ich glaube, hier könnten eventuell Themenfelder wie gender expression (also Geschlechtsausdruck), biologisches Geschlecht und sexuelles Begehren durcheinander geraten sein. Mit Geschlechtsausdruck ist gemeint: Wie will ich von der Gesellschaft gelesen werden/wie liest die Gesellschaft mich? Männlich? Weiblich? Weder noch? Hier stehen wir vor einem gewaltigen Problem: dem fehlenden nicht-binären visuellen Narrativ, bzw. einem Anspruch, das eine Eindeutigkeit/bzw. eine Uneindeutigkeit Aufschluss geben muss über die Geschlechtsidentität. Das ist nicht der Fall. Menschen, die sich weiblich/männlich präsentieren, können cis/trans männlich bzw. weiblich/nicht-binär sein.

Das Thema, welches sich bei uns in der Serie u.a. durch Kleidung und einem Frischhaltefolien-Binding-Versuch äußert, nennt sich Dysphorie. Dysphorie lässt sich gemeinhin als immenser (teils lebensgefährlicher) Leidensdruck aufgrund der fehlenden Übereinstimmung des Körpers mit der eigenen Geschlechtsidentität beschreiben – natürlich können da primäre Geschlechtsmerkmale eine Rolle spielen. Muss aber nicht.

“Denn Charlie, so wirkt es ab heute in der ZDF-Mediathek (24. Mai, 20.15 Uhr: Neo), will Charlotte im Ausweis beerdigen.” Den Deadname (oder auch Geburtsnamen) unseres Hauptcharakters verraten wir nie. Dass Jan Freitag sich einen möglicherweise passenden weiblich gelesenen Vornamen ausdenkt, verwirrt mich. Weder im Drehbuch noch am Set, noch irgendwo sonst geben wir (Spieler*innen, ZDF-Redaktion, Produktionsfirma) an einer Stelle Charlies weiblich gelesenen Namen preis. Eine klare Entscheidung, denn es geht hier darum, einen nicht-binären Menschen als den zu nehmen, der er ist und nicht auf eine binäre Lesung herunterzubrechen. Also: Es gibt keine Charlotte und selbst wenn, dann wäre eine Nennung des Namens nicht im Sinne des Teams oder der Menschen, die trans und nicht-binär sind.

“Denn in der Realfiktion von Lion H. Lau ist alles noch komplizierter als ohnehin – und somit das Beste, was uns im Steinbruch sexueller Identitätssuche passieren konnte. In „Becoming Charlie“ erzählt die nonbinäre Autorin schließlich ein Stück weit ihr eigenes Leben jenseits von Mann oder Frau in der Lausitz nach.” Erstmal Danke für das Kompliment. Ich glaube, es ist auch faktisch viel komplizierter ;). Hier sind einige komplexe Zusammenhänge durcheinandergeraten.

a) Zum einen beschreibe ich ganz ausdrücklich keine sexuelle Identitätssuche, sondern die Suche nach der geschlechtlichen Identität. Wo ist der Unterschied? Cis Männer, die ausschließlich Männer lieben, sind homosexuell. Homosexualität ist ihr Begehren, ihre Sexualität. Cis ist ihre Geschlechtszuschreibung. Trans Männer, die ausschließlich Männer lieben, sind ebenfalls homosexuell, nur ihre Geschlechtszuschreibung variiert hier.

Häufig wird Transidentität oder auch Nicht-Binarität mit Sexualität gleichgesetzt. Aber: Die Identität eines Menschen gibt keinen Aufschluss über das Begehren. Charlie ist selbst noch auf der Suche nach der eigenen Sexualität. Ob Charlie nur auf weiblich gelesene Personen steht oder ob das Interesse vielleicht unabhängig vom Geschlecht ist, weiß Charlie noch nicht. Und wir wissen es somit auch nicht. Für viele Menschen ist das eine lebenslange Suche. Für manche Menschen öffnet sich ihre Sexualität während ihrer Identitätssuche. Für viele bleibt die gefundene Sexualität auch nach ihrer Transition bzw. Identitätssuche die gleiche, für andere wiederum verändert sich ihre Sexualität mit der Zeit. Wie gesagt: In BECOMING CHARLIE geht es nicht um die sexuelle Selbstfindung (also um das Begehren), sondern darum, in welchem Geschlecht Charlie verortet ist.

b) Sehr persönliche Note, aber im Sinne der korrekten Berichterstattung möchte ich offen legen, dass ich in meiner Kindheit/Jugend/frühem Erwachsenenalter nicht dem ausgesetzt war, dem Charlie sich aussetzen muss. Ganz einfach, weil ich mein Coming Out in meinen Dreißigern hatte. Charlies Lebenswelt ist weit entfernt von meiner eigenen, einzig die Schritte (hier in zeitlich komprimierter Weise) stellen eine Parallele her. Ich wundere mich, woher der Eindruck kommt, es könne sich um eine Nacherzählung meines eigenen Lebens handeln?

c) Also wenn schon, dann “non-binäre Autor*in”. Misgendern ist etwas, was mir – und ich bin keine fiktive Person, sondern ein real verankerter Mensch – böse aufstößt.

“Mal angriffslustig, mal lebensmüde, aber meist auf den Punkt einer zerrissenen Selbstreflexion, ringt die vierfachdiskriminierte Transgender-Person um Halt(ung). Als lesbische Frau kämpft sie um die Beziehung zur schwangeren Alina (Aiken-Stretje Andresen). Als arme Frau kämpft sie im Dunkel einer stromlosen Etagenwohnung gegen die Realitätsverweigerung ihrer kaufsüchtigen Mutter (Bärbel Schwarz). Als süße Frau kämpft sie gegen Vorurteile einer männlichen Umgebung (Danilo Kamperidis). Und als Frau, die weder das noch ein Mann sein will, kämpft sie mithilfe der Nachbarin Ronja (Sira Anna Faal) gegen sich selber – was Kerstin Polte in der eindrücklichsten Szene dieser tollen Serie zum Ausdruck bringt.”

Mich irritiert hier stark, dass unser ausdrücklich nicht-binärer Charakter Charlie – ich mein, es ist das Thema der Serie – hier als Frau geframed und misgendert wird. Mehrfachdiskriminierung: ja. Als queere trans und nicht-binäre Person um eine Beziehung zu kämpfen. Als queere nicht-binäre Person im Prekariat ums Überleben zu kämpfen (übrigens eine sehr queere Perspektive, da die meisten queeren Menschen in Existenznotständen leben). Als Mensch, der außerhalb des binären Spektrums in einer patriarchal geprägten Umwelt aufwächst – ja, das sind alles Marginalisierungen und Diskriminierungsaspekte, hat aber mit der weiblichen Lesbarkeit der Figur wenig zu tun.

“Tante, Kumpel, Chef, Nachbarn – alle sexuell außergewöhnlich.”

Wie gesagt: Charlies Findungsprozess hat nichts mit dem Begehren zu tun. Die queere Diversität hingegen, die wir zeigen, erzählt auch vom Begehren, also von Sexualitäten. Das queere Menschen einander suchen, ist nichts Neues, hat Tradition seit Jahrtausenden. Wir sind einander Schutz und Halt, was wir außerhalb der Schutzzonen selten oder nicht erfahren.

Also, eine lange Mail. Wenn es Rückfragen gibt, bin ich erreichbar. Besten Dank, dass Sie sich dem Thema annehmen!

Ich wünsch Ihnen noch einen guten Resttag und eine gute Woche!

Lion H. Lau

(Pronouns: none or they/them)

Meine Antwort an Lion H. Lau

Hallo Lion H. Lau,

danke für die sehr ausführliche Kritik zu meinem DWDL-Text, die ich sehr ernst nehme, aber auch zu einem Gefühl der Überforderung führt. Ich bewege mich durch meinen Wohnort St. Pauli in einem sehr diversen Umfeld, habe auch im engeren Umfeld viele LGBTQ+-Personen und scheitere trotzdem oft daran, allen sprachlich gerecht zu werden. Einige Formulierungen, das haben Sie womöglich am Podcast gehört, verwende ich bereits organisch, andere muss ich weiterhin kognitiv steuern, was immer noch zu oft, aber zusehends weniger in die Hose geht. Ihre Kritik an meiner Kritik ist demnach praktisch vollumfänglich gerechtfertigt, betrifft aber auch Fragen der Lesbarkeit solcher Texte.

Den Einstieg habe ich deshalb über primäre Geschlechtsmerkmale gewählt, weil es darin ums Pinkeln im Stehen geht, was ihnen, also den Merkmalen zumindest räumlich sehr nahe kommt. Damit negiere ich nicht Charlies Kampf für oder gegen ein soziales Geschlecht, sondern hole die Lesenden bei Bildern ab, die sie schnell verstehen. Unser Publikum hat vermutlich überwiegend heteronormative Denkstrukturen, die leicht zu überfordern sind. Auch, wenn Penisse und Vaginen bei der Definition des sozialen Geschlechts keine Rolle spielen, triggert beides die Vorstellung der meisten Menschen von Geschlecht und hilft daher bei der Einordnung. Meine Hoffnung war, dass die Lesenden das anhand meiner Formulierung, Charlie wolle weder Mann noch Frau, sondern beides oder etwas völlig anderes sein, schon verstehen. Auch die Verwendung des Begriffes “sexuell” im Zusammenhang mit “Identität” sollte hier nicht der Einengung aufs biologische Geschlecht dienen, sondern der leichteren Verständlichkeit.

Weil Charlies Entwicklungsprozess in diesem Zusammenhang meiner Deutung nach zudem noch in einem recht frühen Stadium ist, habe ich in einigen Formulierungen von ihr als Frau gesprochen, die sie aus Perspektive der meisten Menschen noch ist, aber nicht sein möchte. Als fiktionale Person kann ich ihr damit zwar keine sprachliche Gewalt antun, aber das muss ich in Zukunft dringend diverser formulieren – zumal sie als reale Person durch meine Formulierungen sehr wohl davon betroffen sind, wofür ich um Entschuldigung bitte. Nonbinäre Autorin statt Autor:in war allerdings keine Zuschreibung, sondern schlicht nachlässig.

Ein Satz noch zu Charlies Namen: Charlotte wird zwar nie erwähnt, die Wahrscheinlichkeit allerdings, dass ihre nicht grad gender fluide Mutter sie so genannt hat und daraus der Spitzname Charly entstand, würde ich mal so ungefähr bei 1 einordnen. Das war auch der einzige Punkt, an dem Ihre Kritik an meinem Text ein bisschen spitzfindig ist. Macht aber nix, wie ich finde – der Rest ist unbedingt dazu geeignet, mich und damit am Ende auch meine Lesenden weiterzubringen auf dem Weg zu einer vorurteils- und diskriminierungsfreien (ich sage bewusst nicht “toleranten”, da ich den Begriff kritisch sehe) Gesellschaft.

Nur eine Bitte noch, ohne damit irgendwas zu relativieren: Seien Sie bitte nicht so streng mit mir und meinesgleichen. Ich bin ein straighter, weißer, pass- und biodeutscher Mann, der in seinem Leben noch nie Diskriminierung erfahren hat und für ein Publikum schreibt, das mir vermutlich von diesen Voraussetzungen her (abgesehen vom Geschlecht) nicht unähnlich ist. Auf dieser Grundlage gebe ich mir alle Mühe, mich für diversere Personen gut und richtig und verletzungs- und gewaltfrei auszudrücken, ohne dass meine Texte Proseminare in Sachen Gender Studies werden. So wie Gas auf dem Weg zur grünen Wirtschaft ist meine Sprache eine Art Brückentechnologie, um LGBTQ+-Personen einzubinden, ohne den heteronormativen Mainstream zu überfordern. Der Weg dorthin ist mühsam, aber er lohnt sich. Wenn ich Fehler mache, mache ich Fehler, weil Menschen Fehler machen, nicht weil es mir an Willen oder Überzeugung mangelt, dass es der richtige Weg ist.

In diesem Sinne schönen Gruß und Glückauf aus Hamburg,

Jan Freitag

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5 Comments on “Becoming Charlie: Geschlecht & Misgendern”

  1. nouseforislam says:

    1. Guckt keiner, wie an den Quoten festzustellen ist. 2. Kostet den Gebührenzahler nur Geld. Wer diese Art von Agitprop-TV bzw. “Haltungsfernsehen” möchte, soll doch dafür bezahlen.

  2. nouseforislam says:

    Aber schön, dass Sie so viele “Diverse” kennen. Ich kenne keinen, aber vielleicht wohnen die ja auch alle in St. Pauli. Liegt vielleicht auch daran, dass ich mich täglich eher in einem Umfeld bewege, das sich durch einen grösseren Ausländeranteil auszeichnet. Und denen sind (LGB)Dingsbumse eigentlich wurscht, solange sie sich nicht exponieren. Aber von jemandem, der Deutsch nicht als Muttersprache erlernt hat, zu erwarten, dass er dutzende von imaginierten “Geschlechtern” sprachlich richtig unterbringen kann, ist ja wohl sehr gewagt. Was auch damit zu tun hat, dass die TQsonstwas-Gemeinde ja fast täglich neue Begrifflichkeiten kreiert und auch noch erwartet, dass jeder darauf eingeht. Ich tue es nicht, ich lehne es auch ab, weil ich mich nicht jeder Grille einer Winzminderheit beuge. Übrigens sehen das inzw. auch viele LGBs so, die beginnen, sich von den Identitätsgestörten zu distanzieren. Für wen wird also so ein Kram produziert? Für die “woke” Gemeinde? Dann müssten es ja mindestens ein paar Millionen Grünenwähler sein, aber die würden vielleicht lieber “Unser Charly” gucken, weil ein Affe ihnen sympathischer als ein Identitätsgestörter ist. In diesem Sinne….

    • Frieder says:

      Meine Erfahrung: von Personen zu sprechen oder einen : oder einen * einfügen um alle mitzumeinen, geht eigentlich ganz leicht. Dann ist auch (zumindest technisch) egal, ob LGBTQI in der Zwischenzeit erweitert wurde…

  3. Frieder says:

    Ich liebe den Briefwechsel. Er bringt mich (als mehrfach privilegierten Mittdreißiger) wirklich weiter. Ich habe das Gefühl, ich lerne was. Werde mir Charlie anschauen.

    • Jan Freitag says:

      Hey Frieder, freut mich. Mich hätte der Briefwechsel allerdings noch mehr gefreut, wenn Lion auf meine Antwort nochmals irgendwie reagiert hätte. Hat sie (die Person) allerdings nicht. Schade eigentlich, freitagsmedien wäre offen für weiteren Austausch gewesen.


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