Techno House, Jamie T, Chemical Brothers

Jamie T

Als ein unscheinbarer Shoegazer 2007 Londons Bühnen erobert und dabei gar nicht auf sein Schuhwerk, sondern beherzt, offen und angstfrei ins Publikum davor gesehen hat – da ahnten wohl nur wenige, dass Jamie Treays, kurz T 15 Jahre und fünf Platten später die unbekannteste Ikone des Britpop aller Zeiten werden würde. Sein neues Album zeigt warum er es ist: Atmosphärisch ungefähr mittig zwischen Maximo Park und Billy Bragg ist jedes der 13 Stücke darauf ein Manifest virtuoser Imperfektion.

Mal durchgeschüttelt verschroben wie der Punkpopsong The Old Style Raiders gleich zu Beginn, mal windschief schön wie das Singer/Songwriting 50.000 Unmarked Bullets zum Schluss, schlendert Jamie T angenehm beschwipst durch den Alltag seiner britischen Heimat, kommentiert hier alle Ungerechtigkeit der Welt ringsum, lacht sich da über die eigene Verbissenheit schlapp und ist dabei in einer Gelassenheit zappelig, die The Theory of Whatever zum nächsten Meisterwerk jenseits der Wahrnehmung macht.

Jamie T – The Theory of Whatever (Universal)

Der Fernsehtipp

Techno House Deutschland

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Die achtteilige ARD-Doku erzählt vollständig in der Mediathek vom Siegeszug der Clubkultur und bleibt trotz aller Hingabe neutral. Schließlich schwärmen die Pioniere der Achtziger bis Nullerjahre schon genug.

Im Rückblick war vieles bekanntlich besser. Die Neunziger zum Beispiel, als Sammelsurium stilistischer Irrungen verpönt: aus heutiger Sicht höllischer Krisen ein himmlisches Jahrzehnt. Selbst den Kalten Krieg zuvor verklärt unser Hang zur Nostalgie trotz SS-20 im sauren Regen zur Friedensepoche; daran ändert auch dieses monotone Stampfen wenig, das die Zeit vor und nach dem Mauerfall wie ein Stechschritt untermalt, besser noch: untergraben hat. Techno.

Nüchtern betrachtet ein elektronischer Viervierteltakt, marschierte das repetitive Stakkato vor bald 40 Jahren aus Detroit und Chicago über Frankfurt und Berlin so lautstark durchs geteilte Land auf dem Weg zur Vereinigung, als wäre es der Soundtrack des Mauerfalls. BRD und DDR vor und nach 1989 klangen folglich weniger nach David Hasselhoff als Sven Väth – einst visionärster DJ am Mischpult einer Subkultur, die eigentlich keiner Erklärung mehr bedarf. Das Erste liefert sie trotzdem. Zum Glück!

Denn wenn sich Wero Jägersberg und Mariska Lief in der ARD-Mediathek und Sonntagnacht linear auf Zeitreise zur letzten musikalischen Revolution abseits vom HipHop begeben, gehen auf Dancefloors unter Tage der Republik zwar die Lichter aus – dem Publikum allerdings gehen sie auf. Anders als ähnliche Jugendkulturstudien ihrer Zeit nämlich wie das fabelhafte Hauptstadtporträt B-Movie erstarren die Autorinnen nicht in Ehrfurcht vor der entfesselten Kraft einer neuen Zeitrechnung; sie graben sich mit leidenschaftlicher Akribie durch zu den Wendepunkten und ihrem Personal.

Womit Jägersberg & Lief wieder bei Sven Väth und einem Archivfundus von ihm und seinesgleichen wären, das schier unerschöpflich zu sein scheint. Geboren 1964 in Hessen, hat der „Schamane, Vater, Zeremonienmeister des deutschen Techno“ den aseptischen Sound mit Gleichgesinnten aus Amerikas Industriebrachen nach Mainhattan geholt und von da aus in die heimische Popkultur gedengelt. Kein Wunder, das er achtmal 30 Minuten ständig im Bild ist – auf grisseligen Videos seiner frühen Auftritte ebenso wie als Interview-Partner zwei bis vier Jahrzehnte später.

Mit Weggefährten jener popkulturellen Pioniertage erzählt er zwar sichtlicht gealtert, aber im Herzen blutjung von der Zeit, als Techno zwischen Disco, Punk und NDW groß werden konnte. Wie die Keimzelle elektronischer Musik nach dem Ende seines legendären Parkhaus-Clubs „Omen“ von der Frankfurter Keimzelle ostwärts wanderte. Wie ihr der ähnlich legendäre „Tresor“ im Keller eines verwaisten Kaufhauses in Mitte Asyl gewährte, was dessen Betreiber – auch er: Legende! – als Spätfolge der deutschen Teilung beschreibt.

Nachdem sich die alte Frontstadt über Nacht quasi verdoppelt hatte, meint Dimitri Hegemann mit seiner Gutenachtgeschichten-Stimme, „da knallte dieses Zeug nach Berlin“, und wurde dort nicht nur von der schwarzen zur weißen Musik; sie eroberte sich auch viele Treuhandbrachen, auf denen statt geregelter Besitzverhältnisse nun Anarchie herrschte. Und weil die künftige Weltstadt im Überbietungswettbewerb globaler Investoren bald betonvergoldet wurde, zog der Techno eben weiter. Nach Jena, Chemnitz, Leipzig, wo branchenintern klingende Namen wie Thomas Sperling, Mathias Kaden, Ronny Seifert mit 90 Beats per Minute aufwärts die Wende zur musikalischen Freiheit vollendeten.

All das erzählt Techno House Deutschland mit solch einer Hingabe zur Materie, als wären Jägersberg & Lief eher Fans als Filmemacherinnen. Sind sie ja auch, weshalb beide zuvor schon Wie HipHop nach Deutschland kam gedreht haben, auch das eine dokumentarische Liebesbeziehung. Umso wichtiger ist da, dass sie nicht nur schwärmen, sondern den Sexismus der frühen Technojahre erwähnen, das Gefälle zwischen Stars und Sternchen, die bürgerlichen Vorbehalte gegen Drogenkonsum und Kontrollverluste, unter denen der Underground auch dann noch litt, als er längst in den Mainstream gemündet war.

Aber gut – das Schwärmen abseits journalistischer Distanz übernehmen ja all die Zeitzeugen. Es ist zum Heulen schön, wie Clubbesitzer und Türsteherinnen, Festivalbetreiber und Plattendreherinnen bis zur Selbstaufgabe ihren Traum von Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit auf der Tanzfläche leben oder wie es die Berliner DJ-Institution Monika Kruse nennt: „Techno ist die positivste Jugendkultur, die es jemals gab“. Das allein ist 240 Minuten Nostalgie im repetitiven Viervierteltaktstakkato wert.

Re-Issue

Dig Your Own Hole

Und dann muss hier unbedingt noch an die vielleicht bedeutendste Re-Issue unserer lasterhaften Tage erinnert werden, ein episches Werk aus Zeiten, da bedingungsloses Abdrehen noch keine Weltflucht sein musste und von einem Elektroduo aus – woher sonst? – Manchester mit einem Sound planiert wurde, den es in dieser verschwitzten Dringlichkeit nie wieder geben sollte: die Chemical Brothers, Co-Founder des Big Beat. Genau 25 Jahre nach Dig Your Own Hole bringt Universal nun ein dreiteiliges Vinyl aus der Hochphase des CD-Irrsinns heraus und liefert damit eine haptische Überdosis Block Rockin’ Beats. Endlich.

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