Jennifer Wilton: Welt-Chefin & Werte-Fan
Posted: February 2, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch |Leave a commentDieter Nuhr würde nicht auf uns zugehen
Seit gut einem Jahr ist Jennifer Wilton (Foto: Paula Winkler/journalist) Chefredakteurin der Welt in Berlin und damit einer konservativen Zeitung auf dem Sprung in die Gegenwart, den also ausgerechnet eine Frau Mitte 40 mitorganisieren soll. Erster Teil eines Gesprächs fürs Medienmagazin journalist über rechten oder linken Publizismus, Frauen an der Spitze und die Debattenkultur im Hause Springer. Der zweite Teil kommt nächste Woche.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Frau Wilton, empfinden Sie es eigentlich als Statement des Springer-Konzerns, dass die gute alte Welt der Wirtschaftswunderjahre im futuristischen Neubau residiert, während freshe, junge, digitale Start-ups wie der Business Insider im leicht angegilbten Stammhaus gegenübersitzen?
Jennifer Wilton: Ich würde „angegilbt“ sofort widersprechen. Und die Welt gehört in ihrem 77. Jahr zu den innovativsten Medienmarken. Es war von Anfang an so geplant, dass wir in den Neubau ziehen, sobald er fertig ist. Auch aus dem einfachen Grund, endlich im gleichen Gebäude mit unserem Fernsehsender arbeiten zu können, die Welt-Redaktionen Print, Digital und TV also auch räumlich miteinander zu verzahnen.
Journalistisch und organisatorisch war das schon vorher der Fall?
Ja, aber nicht in der gleichen Intensität. Nur ein Beispiel aus jüngster Zeit: Das erste Scholz-Interview nach dem G20-Gipfel lief bei Welt TV und wurde parallel bereits digital für die Online-Redaktion aufbereitet und für die Zeitung verschriftlicht. Unsere Reporter und Redakteure sind inzwischen täglich zu Gast im Studio. Da hat sich sehr viel getan.
Ihr Standort hat also nichts mit der konservativen Mischung aus Laptop & Lederhose zu tun, die Edmund Stoiber mal spezifisch bayerisch, also erfolgreich nannte?
Eher nicht (lacht). Als die Planungen begannen, gehörte zum Beispiel der Business Insider noch nicht mal zum Verlag. Mit konservativ oder nicht hat das also nichts zu tun.
Was genau ist im postideologischen, aber ziemlich populistischen Jahr 2022 eigentlich genau noch mal konservativ?
Auf die Welt bezogen würde ich den Begriff „konservativ“ um „liberal“ erweitern. Wir haben ein großes Spektrum an Meinungen im Blatt und auf der Seite. Wir verstehen uns als Portal, auf dem unsere Redakteure und Gastautoren Spielraum haben und ihn sich nehmen. Mit Konservatismus ist vor allem Wertekonservatismus gemeint.
Der heutzutage welche Werte vertritt?
Das ist angesichts aktueller Debatten gar nicht immer einfach zu benennen. In den vergangenen zwei Jahren zum Beispiel stand wegen der vielen Freiheitsbeschränkungen durch Corona das Liberale bei uns oft stark im Vordergrund. Darüber hinaus stehen wir aber immer auch für das, was man „bürgerliche Werte“ nennen könnte, Familie zum Beispiel, verteidigen aber zugleich die Freiheiten des Einzelnen, haben also keine grundsätzlichen Kontrapositionen etwa zur Homoehe.
Aber persönliche?
Es gibt innerhalb unserer Redaktion wie gesagt unterschiedliche Positionen, das macht uns aus. Ich persönlich etwa verteidige gesellschaftliche Kompromisse wie die Streichung des Paragrafen 219a in diesem Jahr, bei anderen wäre die Grenze da überschritten.
Und wo findet innerhalb solcher und ähnlicher Debatten die Abgrenzung nach rechts statt?
Überall und jeden Tag. Rechts und links an den Rändern ist nicht unsere Welt. Wobei ich mich frage, ob Sie die Chefredakteure der Süddeutschen Zeitung auch fragen würden, wie sich ihre Zeitung von ganz links abgrenzen.
Genau das würden wir Judith Wittwer ungefähr zur selben Zeit des Interviews fragen, wie Sie, keine Sorge.
Ich würde mich auf die Position des liberalen Verfassungspatriotismus begeben und sagen: wir grenzen uns immer da von rechts ab, wo die Gültigkeit des Grundgesetzes in Frage gestellt, die freie Entfaltung des Einzelnen beschnitten oder es extrem wird. Darüber hinaus aber versuche ich auch, mich von Begrifflichkeiten wie links und rechts zu lösen, weil sie gerade für jüngere Generationen nicht mehr so entscheidend sind, wie sie es für ältere waren – zumal die Abgrenzung voneinander zusehends unklarer wird. Wir positionieren uns vor allem in der Mitte. Aber: Journalismus muss auch unberechenbar sein.
Wurde die Welt verglichen mit den Vorwendejahrzehnten, als sie politisch oft stramm rechte Kampagnen etwa gegen Palästinenser gefahren hat, da sozusagen von innen heraus entideologisiert?
Da nennen Sie ein eher unglückliches Beispiel, darüber könnten wir jetzt lang diskutieren. Bekanntlich orientierten sich damals wie heute alle Redaktionen von Axel Springer an Grundwerten, unseren Essentials. Die Zeit, die Sie da ansprechen, hat sich lange vor meiner als Journalistin abgespielt und man kann sie nur schwer mit heute vergleichen.
Nicht nur die Welt war damals eine andere, sondern auch Die Welt, meinen Sie?
Genau. Seitdem gab es immer gesellschaftspolitische Wellenbewegungen, auch im Blatt. Ein sehr maßgeblicher Schritt der Liberalisierung war da zum Beispiel, als der heutige Vorstandsvorsitzende…
Matthias Döpfner.
… die Welt Mitte der Neunziger als Chefredakteur übernommen und gleich mal dahingehend geöffnet hatte, mehrere taz-Redakteure zu uns zu holen.
Ihren Vize Robin Alexander zum Beispiel.
Der gehörte nicht zu dieser ersten Gruppe, sondern kam später. . Aber auch andere Chefredakteure haben die Welt von heute mitgeprägt. Und Jan Eric Peters war da natürlich eine ganz andere Führungsfigur als etwa Roger Köppel. .
Hat sich diesbezüglich auch noch mal was geändert, seit sie den Führungsposten von Dagmar Rosenfeld übernommen haben?
Da sind die Unterschiede jetzt nicht so wahnsinnig groß, wir arbeiten ja eng zusammen. Und wichtiger als Ähnlichkeiten oder Differenzen bleibt auch, dass die Welt ein Debatten-Medium mit Führungspersonen unterschiedlich ausgeprägter Meinungen ist. Es gibt die erwähnten Grenzen, aber wir bewegen uns immer in einem definierten Rahmen. Innerhalb dieses Rahmens versuchen wir, Haltungen verschiedenster Art möglichst breiten Raum zu geben. Ich selber kommentiere gern, wenn mir etwas am Herzen liegt, aber wenn ein Kollege die gut durchargumentierte Gegenposition dazu vertreten möchte – nur zu.
Aber wie eng, wie breit sind die Meinungskorridore der Welt – hat wirklich jede Haltung im Rahmen der Gesetze und Verlagsprinzipien Platz oder müssen sie politisch schon ein bisschen auf Linie von Chefredaktion und Stammpublikum liegen?
Natürlich arbeiten wir für unsere Leser und Zuschauer, und die schätzen Welt als Debattenmedium. Und wir haben in der Redaktion sehr, sehr lebendige Diskussionen, da kann es schon hoch her gehen, und das ist auch richtig so. Aber dabei war es bislang nur selten der Fall, dass mal jemand meinte, so geht’s auf keinen Fall. In der Regel betraf das aber Gastbeiträge.
Welche zum Beispiel?
Etwa, als mehrere Wissenschaftler im Juni unterm Titel „Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren“ die öffentlich-rechtliche Berichterstattung zu sexueller Identität und Zweigeschlechtlichkeit kritisiert haben. Meine Positionen sind andere, ich hatte mit dem Stück damals inhaltlich persönlich Schwierigkeiten.
Haben aber nicht ihre Richtlinienkompetenz als Chefredakteurin wahrgenommen und sie im Vorweg unterbunden?
Das Stück war angemessen als Gastbeitragt gekennzeichnet, und in Gastbeiträgen muss und darf mehr möglich sein darf als in einem Leitartikel. Danach erschien unter anderem ein Kommentar unseres CEOs, der eine ganz andere Position vertrat, und ein weiterer kritischer unseres Chefredakteurs Ulf Poschardt. Zur Rolle einer Chefredakteurin gehört, nicht nur zu senden, sondern auch zu empfangen und andere sprechen zu lassen.
Und welche Kontrollinstanzen gibt es abseits vom Grenzschutz der Chefredaktion, damit solche Debatten nicht aus der Mitte des demokratischen Diskurses über deren Rand ins Extreme ausfransen?
Natürlich ist es die Aufgabe von Chefredaktion und Ressortleitungen, genau draufzuschauen, ob solche Debatten im Rahmen unserer Haltungen und Grundwerte bleiben. Aber zugleich ist die Redaktion auch ein Kollektiv, das Themen auch ohne Grenzschutz kontrovers diskutiert. Inhaltlich nehme ich eine Richtlinienkompetenz daher seltener wahr als formell.
Inwiefern formell?
Ich bin zum Beispiel höchst empfindlich, wenn es um die Trennung von Bericht und Meinung geht. Wo beides ineinander übergeht, greife ich schon mal ein. Diese Aufgabe wird allerdings nicht nur bei der Welt wichtiger; ich sehe bei diversen Websites und Zeitungen, dass die klare Trennung immer mehr aufweicht.
Wobei gerade die alte Medienbranche vollredaktionell betreuter, vorwiegend gedruckter Zeitungen doch seit Jahren betont, wie wichtig klare Haltungen gemeinsam mit regionaler Berichterstattung fürs Überleben sind?
Beides ist wichtig, aber gerade klare Haltung muss bleiben, wo sie hingehören – auf die Meinungsseite. Auch digital müssen Kommentare als solche gekennzeichnet werden. Das ist ein wesentlicher Punkt der dritten Überlebensstrategie: unbedingte Glaubwürdigkeit. Dass wir Debatten in den Vordergrund stellen, ändert daran nichts, solange Debatten als Debatten erkennbar bleiben und nicht wie Nachrichten aussehen.
Ist das nur ihre persönliche Haltung zum Qualitätsjournalismus oder objektivierbar, also dahingehend gepanelt, dass es auch Ihr Publikum von der Welt erwartet?
Unabhängig vom Anspruch der Leserinnen und Leser, der definitiv so besteht, unabhängig auch von der Welt als Medium, ist es vor allem eine journalistische Haltung, die nach 1945 ja nicht ohne Grund aus dem angelsächsischen Raum nach Deutschland gebracht wurde.
Damals gab es allerdings auch nicht im heutigen Ausmaß Filterblasen und das, was abwertend Cancel Culture genannt wird. Wie geht ein altes Medium wie die Welt 77 Jahre später mit beidem um?
Filterblase finde ich eher gesamtjournalistisch problematisch, als dass wir als Welt eine wären oder hätten. Aber ich mache keinen Hehl daraus, dass nicht nur wir als Redaktion, sondern ich als Person es extrem problematisch finden, wenn man bestimmte Dinge nicht mehr offen aussprechen darf. Ich empfinde den Begriff der „Cancel Culture“ allerdings oft als zu hart; nur weil man gewissen Sichtweisen oder Autoren kein Forum bieten möchte, wird noch nichts gecancelt.
Würden Sie denn extrem rechten Publizisten wie Götz Kubitschek oder extrem frauenfeindlichen Comedians wie Dieter Nuhr Foren bieten?
Für Kubitschek und seine Phantasien sind wir sicher nicht die richtige Plattform. Dieter Nuhr würde wohl eher nicht auf uns zugehen. Aber ich kann mich jedenfalls an keinen, an Fakten orientierten Text der letzten Monate erinnern, der es wegen persönlicher Vorbehalte gegenüber dem Autor oder der Autorin nicht ins Blatt geschafft hätte. Selbst Sahra Wagenknecht kam bei uns zu Wort, obwohl der Text persönlich an meine Schmerzgrenze ging.
Wie wichtig ist bei Ihrer Themensetzung und Personalpolitik die Provokation, also nicht abzuwarten, wie sich Debatten entwickeln, sondern sie bewusst entfachen, was Welt-Chef Ulf Poschardt ganz offen als quotenförderlich bezeichnet?
Wir sind da sicher unterschiedliche Charaktere. Aber es ist nicht falsch, zu provozieren, um Antworten zu forcieren. Zu einer lebendigen Debatte gehören immer auch pointiertere Standpunkte. Wir berichten über alles zunächst mal neutral, aber wenn wir dann mit einem zugespitzten Statement andere herausfordern, darauf zu reagieren, sehe ich darin nichts Verwerfliches. Im Gegenteil.
Ist es aus Ihrer Sicht denn sogar legitim, eine Debatte anzufachen, bevor sie überhaupt als solche wahrgenommen wird?
Nennen Sie mal ein Beispiel?
Die Hamburger Morgenpost hat mal von der Party einer Schülerin erfahren, zu der sie seinerzeit bei Facebook öffentlich, statt privat eingeladen hatte, und so viele Titelstorys dazu gemacht, bis es tatsächlich mit 2000 Gästen eskalierte. Geht das zu weit?
Ja, das finde ich. Aber da ging es ja nicht um eine Debatte. Es ist gut, gelegentlich Debatten anzuregen, statt ihnen hinterher zu laufen.
Wären Sie persönlich denn streitlustig genug, wie Ihre Vorgängerin Dagmar Rosenfeld mit jemanden wie Markus Feldenkirchen vom Spiegel ins konservativ-liberale Gefecht zu gehen und damit in die Fußstapfen der legendären Streithähne Augstein/Blome oder Kienzle/Hauser zu treten?
Ja, ich fand das super.
Und steht es zur Debatte?
Im Moment nicht, aber vor dieser Form der Auseinandersetzung, sich immer wieder mit Vertretern gegensätzlicher Standpunkte zu batteln, habe ich größten Respekt, das würde mir Spaß machen.
Befinden Sie sich als frische, junge Kraft an der Spitze denn auch innerredaktionell da in diesen Battles?
Ich sehe meine Aufgabe häufiger im Moderieren. Aber es gibt natürlich Themen, bei denen ich andere Positionen einnehme als andere Mitarbeiter – wobei es da keine Rolle spielt, ob es Reporter sind, Redakteure oder Führungskräfte. Für alle ist da Raum zur Meinungsentfaltung