Jennifer Wilton: Welt-Chefin & Werte-Fan
Posted: February 9, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch |1 CommentSo wäre ich auch als Mann
Seit gut einem Jahr ist Jennifer Wilton (Foto: Paula Winkler/journalist) Chefredakteurin der Welt in Berlin und damit einer konservativen Zeitung auf dem Sprung in die Gegenwart, den also ausgerechnet eine Frau Mitte 40 mitorganisieren soll. Erster Teil eines Gesprächs fürs Medienmagazin journalist über rechten oder linken Publizismus, Frauen an der Spitze und die Debattenkultur im Hause Springer, zweiter Teil.
Von Jan Freitag
Pflegen – auch wenn die Frage allein schon wieder sexismusanfällig ist – Frauen an der Spitze eine andere Streit-, Debatten- und Führungskultur?
Ich glaube schon, dass es in Hinblick auf flache Hierarchien und Teamfähigkeit etwas gibt, das man als weibliche Führungskultur bezeichnen könnte Aber selbst, wenn es geschlechtsspezifische Herangehensweisen gibt – das heißt ja nicht, dass nicht auch Männer eine solche Führungskultur verfolgen, oder einige Frauen „männlich“ führen. Letztlich ist es eine Frage der Machtdefinition und -ausübung, weibliche Führung ist oft dialogorientierter.
Beschreiben Sie damit auch ein wenig die eigene Führungspersönlichkeit?
Ich bin jetzt schon weit über zehn Jahre Teil der Welt und damit auch Teil des Teams, das hat sich durch die neue Position gar nicht so großartig geändert und funktioniert so besser als hierarchisch. Ich habe aber auch kein Problem damit, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. So wäre ich vermutlich auch als Mann.
Selbst, wenn Sie sie nicht als solche empfinden: Verändert so eine Machtposition den Menschen dahinter?
Das habe ich mich schon gefragt. Und auch da bin ich dankbar, all die Schritte nach oben hintereinander gemacht zu haben – erst als Reporterin, dann Redakteurin und Ressortleiterin, schließlich als Chefredakteurin. Weil ich in jeder Position von Kollegen und Vorgesetzten gleichermaßen gelernt habe, konnte ich mir treu bleiben und, habe ein Bewusstsein für andere Positionen behalten, und die Souveränität gewinnen können, das Amt auszuüben, ohne dass es mich als Menschen stark verändert.
Erschrickt man dennoch manchmal vor der Macht- oder zumindest Einflussfülle, die Chefredakteurinnen plötzlich haben?
Komischerweise nicht, und mir war nach zwei Wochen klar, genau an der richtigen Stelle angekommen zu sein. Vermutlich auch, weil wir ein Kollektiv an Chefredakteuren sind, das im Zweifel als Korrektiv wirkt. Diese Einbindung im Team erlebe ich als überaus angenehm, ich arbeite im Alltagsgeschäft eng mit dem Digitalchef Oliver Michalsky. Und ich kooperiere viel und immer mehr mit Jan Philipp Burgard vom Fernsehen… Insofern bin ich eigentlich nie in die Gefahr geraten, lonely at the top zu sein.
Mal vorausgesetzt, das gilt auch für Dagmar Rosenfeld an der WamS-Spitze: Hat sich die paritätische Aufteilung der vier Chefredaktionen zufällig ergeben oder war sie Plan der Geschäftsführung?
Das müssen Sie im Zweifel die Geschäftsführung fragen, ich glaube allerdings, es war schlicht dem Umstand geschuldet, dass die entsprechenden Leute, also geeignete Frauen, bereits hier waren. Der Axel Springer Konzern hat das Thema Frauenförderung schon sehr früh zur Priorität gemacht.
Die Springer SE dagegen wird weiterhin von drei Männern geführt, ergänzt immerhin von Niddal Salah-Eldin…
… die auch von uns aus der Welt kommt!
Und als weiblicher PoC die Abteilung Talent & Culture leitet. Ist diese Personalie bereits Ausdruck oder erst der Anfang einer entsprechenden Firmenkultur?
Beides. Ich empfinde es so, einen Verlag hinter mir zu haben, für den Frauen in Führungspositionen bereits selbstverständlich waren, als andere erst darüber nachgedacht hatten. Wir haben eine Führungsquote von fast 40 Prozent Frauen. Natürlich war es, als ich Journalistin wurde, überall noch anders als heute. Wir haben hier in der WELT zum Beispiel schon lange viele Ressortleiterinnen. Und gerade, weil das – anders als früher, wo wir darüber ständig intensiv diskutiert haben – jetzt gar nicht mehr groß thematisiert wird, halte ich diese Entwicklung für organischer als in anderen Redaktionen.
Wissen Sie das aus Ihrer persönlichen Arbeitserfahrung in diesen anderen Redaktionen?
Da ich seit mehr als zehn Jahren nicht mehr in anderen Redaktionen tätig war, weiß ich das eher aus Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen oder über die Frauennetzwerke, zu denen ich branchenübergreifend Kontakt habe.
Tut mir leid, dass ich das Thema Gleichberechtigung durch meine Fragen womöglich daran hindere, organisch zu werden…
Mit dieser Frage müssen und wollen wir uns trotz aller Fortschritte weiter auseinandersetzen. Frauen, die fünf Jahre jünger sind als ich, haben schließlich einen anderen Zugang dazu als ich, die wiederum einen anderen hat als Frauen, die fünf Jahre älter sind als ich. Schon aus meiner Erfahrung heraus, als Journalistin anfangs immer mal alleine unter Männern gewesen zu sein und später dann zunächst eine der wenigen Ressortleiterinnen. Das hat sich total verändert, aber die weiblichen Stimmen sind – in fast allen gesellschaftlichen Bereichen – abgesehen von ein paar lauteren Ausnahmen schon noch ein wenig leiser als die männlichen.
Quantitativ, weil sie zu wenige sind, oder qualitativ, weil sie übertönt werden?
Beides, wobei ich gar nicht weiß, ob wir quantitativ insgesamt noch immer in der Minderheit sind in der Redaktion, aber nach oben hin wird es halt kontinuierlich dünner, besonders in vielen Unternehmen. Es gibt gewiss Frauen, die es ablehnen, andauernd über Frauenthemen zu sprechen, ich finde das nachvollziehbar, und auch ich fühle mich nicht allein durch mein Geschlecht dafür zuständig.
Aber betroffen?
Ja. . Dass Frauen in unserer Branche so häufig über Dinge wie Familie und Kinder berichten, hat am Ende ja auch damit zu tun, dass sie sich privat noch immer mehr damit beschäftigen als ihre Männer. Und ja, ich finde, es müssen mehr weibliche Stimmen in die WELT und darum kümmere ich mich.
Heißt das, Sie haben da ein aktives Sendungsbewusstsein?
Sendungsbewusstsein weiß ich nicht, empfinde aber eine Stimmenvielfalt in jeder Beziehung als wichtig. Dazu gehören junge und alte, arme und reiche, mächtige und ohnmächtige, aber eben auch weibliche und männliche. Wenn Sie Zeitungen – und damit meine ich nicht nur unsere, sondern alle von SZ bis FAZ – aufschlagen, sehen sie auf den ersten vier, fünf Seiten vor allem männliche Köpfe. Diese Dominanz müssen wir ändern, weshalb wir bei Gastbeiträgen darauf achten, insbesondere auch Autorinnen zu fragen und Frauen im eigenen Haus ermutigen, ihre Stimmen zu erheben.
Tun Sie das auch ganz persönlich?
Klar. Ein Beispiel – vor dem internationalen Frauentag haben wir überlegt, ob wir daraus kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges eine Sondernummer machen oder ob wir es ignorieren. Wir haben uns dann für einen Schwerpunkt entschieden und Frauen eingeladen, über Freiheit zu sprechen. Aber nicht zwingend bezogen auf Geschlechterrollen, die Autorinnen sollten schreiben, was sie wollten. Und obwohl alle total unterschiedliche Ansätze verfolgt haben, stellte sich heraus: Freiheit ist auch ein sehr weibliches Thema. Denn wenn Frauen unfrei sind, ist es meist auch die restliche Gesellschaft.
Weil ihr Freiheitskampf im Grunde schon bei der Geburt beginnt und bei Männern erst mit der Volljährigkeit?
Das beste Beispiel erleben wir momentan doch gerade im Iran. Natürlich haben wir Frauen manchmal andere Perspektiven auf Dinge als Männer. Ich möchte aber viele Perspektiven sehen. Und grundsätzlich will ich niemanden nötigen, über irgendwas zu schreiben, weil er oder sie dafür prädestiniert erscheint. Das wäre ja auch wieder zwanghaft.
Wir beschränken das Thema Diversität hier gerade stark auf Geschlechterfragen. Wie sehr versuchen Sie, auch auf anderen Feldern inklusiv zu sein – Hautfarbe, Herkunft, Behinderungen zum Beispiel?
Wünschenswert ist all dies auf jeden Fall und daher auch ständig ein Thema bei uns. Aber der Journalismus hinkt da gerade im Vergleich mit anderen Branchen schon noch ein Stück hinterher. Menschen mit Migrationshintergrund zum Beispiel, so schwierig ich den Begriff finde, wenn die Personen in dritter, vierter Generation hier leben, sind definitiv zu wenig vertreten in den klassischen Medien. Wenn man betrachtet, wie sich die Bevölkerung unter 30 jetzt zusammensetzt, ist es demnach keine altruistisches, sondern ein egoistisches Motiv, sie mehr in den Blick zu nehmen.
Kann mehr Diversität auf der Angebotsseite, also im Journalismus, eigentlich für weniger Wut und Hass in den Echoräumen der Nachfrageseite, also beim Publikum, sorgen?
Das wäre glaube ich zu einfach gedacht, denn das Wutpotenzial der Gesellschaft wird von vielen Themen gespeist. Diversität zum Beispiel steigert es in einigen Schichten sogar noch. Aber so wichtig Journalismus in einer und für eine pluralistischen Demokratie auch ist: Wir sind keine Volkserzieher!
Bei all den Veränderungen, die das Blatt – in den vergangenen Jahren auch zusehends von weiblicher Seite mitgestaltet – seit Jahrzehnten durchmacht, geht der positive Wandel, was die Verkaufszahlen betrifft, jedoch eher in die entgegengesetzte Richtung.
Sowohl die tägliche als auch die wöchentliche Zeitung haben natürlich das Problem aller Printerzeugnisse, nicht mehr zu wachsen. Das wird man weder in Deutschland noch anderswo je umdrehen. Aber unsere Zahlen sind doch generell gut!
Na ja, Abos und Kioskverkäufe sind 2020 unter 50.000 gerutscht, kaum ein Fünftel der Werte 20 Jahre zuvor – das ist auch im Vergleich aller Printmedien ein dramatischer Rückgang.
Wir denken schon seit langem vom Digitalen her, weit länger als andere Medienmarken, nämlich seit fast 20 Jahren, und unsere Website ist überaus erfolgreich.
Woran bemisst sich das?
Wir haben täglich zwischen 4 bis 5 Millionen Visits und stehen damit sehr weit vorne unter den überregionalen Medien, wir haben vor einer Weile die 210.000 Grenze mit digitalen Abos geknackt.
Und für die gedruckte Zeitung gilt, wie gesagt, dass ich es für einen Erfolg halte, das Niveau zumindest zu halten und nach der coronabedingten Delle wieder zugelegt zu haben.
Eine Delle, die auch von der enormen Zahl an Bordexemplaren herrührt, die 2020 nahezu komplett ausgefallen sind.
Ja. Aber wie gesagt, im Rahmen dessen, was heute zu erwarten ist, sind wir – trotz und wegen struktureller Veränderungen wie der neuen Wochenendausgabe kurz vor meiner Zeit – auf gutem Wege. Darauf kann man durchaus stolz sein.
Sie hängen also nicht am Papier?
Ich bin mit Zeitungen aufgewachsen, ich liebe Zeitungen, und bin immer noch ein bisschen aufgeregt, wenn ich sie morgens aus dem Briefkasten hole. Aber die Zeiten ändern sich. Wir versuchen auch auf Papier jeden Tag die bestmögliche Zeitung machen und dafür neue Abonnentinnen und Abonnenten zu gewinnen, können aber auch keine Wunder vollbringen.
Dafür aber eine Digitalstrategie erstellen, die das absehbare Ende der gedruckten Welt kompensiert. Wie sieht die aus?
aus meiner Sicht kann man heutzutage – egal ob Papier oder online – nicht mehr von der einen Strategie sprechen. Dafür verändert sich zu viel. Wir können hier gern spekulieren, wie Journalismus in zehn Jahren aussieht, aber das sind eben ein Stück weit Spekulationen. Der Axel Springer Verlag war mit Strategien wie digital first und online to print immer Vorreiter, wir beobachten permanent neue Entwicklungen und wie man sich neu aufstellen kann. Strategien sind langfristig, man muss sie aber auch kurzfristig anpassen können.
Sie steuern die Welt also auf Sicht Richtung nähere Zukunft?
Wir haben dabei alle stets die erweiterte Zukunft im Blick. Ich bin ja persönlich noch nicht kurz vor der Rentengrenze und möchte auch in 20 Jahren noch Journalismus machen. Das Wichtigste ist doch der Inhalt, nicht seine Form. Wo er zu lesen ist und wie, verändert zwar auch ein bisschen, was dort zu lesen ist, aber nicht die Grundsätze, nicht die Definition von gutem Journalismus.
Aber wie optimistisch sind sie denn beim Blick aufs Überübermorgen, dass Ihre Welt die große Flurbereinigung überregionaler, aber auch lokaler Zeitungen überlebt?
Sehr optimistisch! Ich bin sogar überzeugt, dass die Welt nahezu alles überlebt. Aber wenn man sich überlegt, wie die Branche vor 15 Jahren aussah, wäre es doch absurd zu glauben, in 15 Jahren wäre irgendetwas noch so wie heute. Wenn Sie allein schon betrachten, welche Zusammenarbeit es in den letzten paar Monaten bei uns von TV, Print, Audio und Digitalem gab, da sind wir echt Pioniere. Und wenn von den Neuerungen mal irgendwas nicht funktioniert, macht man halt neuere Neuerungen.
Fail, stand up, fail better…
Es ist wichtig, den bedauernden Tonfall der Lethargie zu vermeiden, was früher alles besser war. Umso mehr muss man um seine journalistischen Grundlagen und Werte kämpfen, an beidem besteht hierzulande ja immer noch großer Bedarf und Nachfrage. Anders als in den USA zum Beispiel.
Wo mittlerweile nicht nur die publizistische Vielfalt, sondern die Ein-Zeitungs-Countys aussterben.
Ja, mit Gegenden, in denen sich deutlich mehr als die Hälfte der Menschen ausschließlich per Facebook oder Youtube informieren und Posts auf soziale Medien für echte Nachrichten halten. Aber gerade da ist es doch auch unsere Aufgabe, das nicht nur zu kritisieren, sondern bessere Nachrichten und intelligente Debatten anzubieten, also gute Gründe, guten Journalismus zu nutzen.
Informieren Sie selber sich denn gelegentlich bei Social Media oder sind das reine Konsumplattformen?
Natürlich versuche ich mir jeden Tag einen Überblick zu verschaffen, was auch dort stattfindet, berücksichtige dabei aber natürlich die Bedingungen, unter denen die Inhalte dort zustande kommen. Debatten, die auf Facebook, Instagram, Twitter und auch auf TikTok, wo wir bewusst nicht vertreten sind, stattfinden, würde ich niemals eins zu eins bei uns abbilden, verfolge sie aber aufmerksam.
Was poppt als erstes auf Ihrem Smartphone auf morgens?
Tatsächlich Emails und diverse Newsletter, die meisten Zeitungen lese ich dann als E-Paper. Aber Eilmeldungen erreichen mich natürlich immer. Und die Webseite ist ständig offen.
Und was poppt als Letztes auf, vorm Schlafengehen?
Ehrlicherweise hab‘ ich früher stets aufgepasst, dass das Letzte abends ein Roman oder Sachbuch ist; es gelingt mir nur leider nicht mehr ganz so oft. Das hat aber auch mit der Nachrichtenlage zu tun, gerade in diesem Jahr. Wenn die wie zuletzt oft derart dramatisch ist, sitze ich doch mit Handy und Fernseher vorm Weltgeschehen.
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mit neuer Einsicht
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