Altersglühen: Prämiert & ungewohnt

Improvisierter Grimmepreis

Mit Altersglühen (Foto: Georges Pauly/WDR) kriegt in diesem Jahr ein Film den bedeutsamen Grimme-Preis, der abgesehen von einigen Stars von vielen Sehgewohnheiten abweicht. Das könnte glatt Hoffnung machen, dass dem Genre etwas frischer Wind durchs öffentlich-rechtliche Gemüt bläst.

Von Jan Freitag

Die hypersupermegaindividualisierte Mediengesellschaft wagt sich nur selten noch an den alten Luftikus Spontaneität. Vermeintlich authentische Dokumentarformate sind zusehends gescriptet, vermeintlich humorindizierte Lacher kommen vom Band, vermeintliche Hingabe ist oft nichts als Angabe. Stand-up wird bis ins letzte Hüsteln durchdekliniert, geflirtet nur noch nach Rundumcheck des Beziehungspartners in spe und Lifeshows (wenn sie nicht sicherheitshalber zeitversetzt laufen) jede Unwägbarkeit weginszeniert. Kurzum: das hinreißende Handwerk der Improvisation – es stirbt bei aller Leichtigkeit des Seins langsam aus.

Genauer: Es starb.

Denn vorigen November ereignete sich Ungewöhnliches im intuitionsbereinigten Regelprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: Die ARD zeigte einen Spielfilm zur besten Sendezeit, der keines Drehbuches bedurfte, um seine erlesenen Protagonisten zur Höchstform zu treiben. Altersglühen heißt das famose Gespinst speeddatender Senioren von Senta Berger über Mario Adorf bis Michael Gwisdek und Hildegard Schmahl, die der vielfach spontaneitätserprobte Regisseur Jan Georg Schütte und sein gleichberechtigter Cutter Ulf Albert mit nicht mehr als Kurzbiografien ihrer Charaktere, einer adretten Stadtvilla in Hamburg und zwei knappen Drehtagen ausstattete, um sogleich die zweite Sensation des abgelaufenen TV-Jahres einzuleiten: Altersglühen bekam heute in Essen den Grimme-Preis verliehen.

Womit wir bei Ausnahmezustand Nummer drei wären, von allen erwartet, dennoch sensationell: In der Kategorie „Fiktion“ bekam nämlich auch der gefilmte Aberwitz schlechthin Deutschlands bedeutsamste Fernsehtrophäe: Ulrich Tukurs rauschhafter Tatort: Im Schmerz geboren, dessen heillos überdrehte Theatralik so mitreißend war, dass ein Leichenrekord jenseits der 50 beinahe zum Randaspekt geriet.

Nun muss das gehobene Feuilleton vor Entzücken nicht gleich beide Augenbrauen auf einmal hochziehen, nur weil da zwei komplette Konventionsverweigerungen zu höchsten Ehren kommen; die drei parallel gekürten Spielfilme Bornholmer Straße, Der Fall Bruckner und Männertreu sind zwar überaus ansehnlich, stilistisch aber doch eher gewöhnlich. Und doch ist es mehr als bloß der Erwähnung wert, wie viel Irrsinn den Juroren hier einer Belobigung wert war: Unverstellt faltige Menschen zur formatierten Primetime ohne schwedischen Sonnenuntergang im Rücken einfach mal so frei nach Schnauze quatschen zu lassen, statt nach Quotenkalkulation, ist ja ebenso waghalsig, wie Michael Proehls Shakespeare’sche Dramaturgie in Versform zur Grundlage eines tarantinoesken Gemetzels zu machen, das Regisseur Florian Schwarz im Opernambiente zelebriert.

Zumal diese Freiheit von Kunst und Kreativität langsam aber sicher – wenn schon nicht zur Regel, so doch zur regelmäßigen Abweichung davon wird. Schon im Vorjahr hatte das Marler Institut mit der verstörend realistischen SWR-Echtzeitfiktion Zeit der Helden ein Stück vorstädtischer Lebenswirklichkeit gekürt, das jeder kolportierten Sehgewohnheit von Programmdirektor Volker Herres’ Gnaden streng zuwider lief. Ein Trend, der mit Markus Imbodens Krimigroteske Mörder auf Amrum vor fünf Jahren gewissermaßen seinen Anfang nahm. Jeder Ausbruch vom Erwartbaren stellt sich darin ja nur als Vorbereitung des Nächsten dar.

Dieses Alleinstellungsmerkmal im seicht plätschernden Wellengang heiter bis wolkiger Stromlinienunterhaltung teilen solche Filme im Übrigen mit dem Tatort, der gestern nebenbei auch noch mit dem Grimme-Preis fürs Format im Ganzen gekürt wurde. Weil es zusehends vom Normierten abweicht. Weil es Regelbrüche nicht um seiner selbst willen einsetzt. Weil es einfach gut ist, wenn es denn gut ist. Weil selten gut ist, was noch nicht mal gut gemeint ist, ist es daher kein Wunder, dass von den zwölf vergebenen Grimme-Preisen diesmal exakt Nullkommanull an private Sender gingen. Deren Innovationspotenzial erreicht ja abseits vom Versuch, Inhalt irgendwann vollends durch Effekt zu ersetzen, in etwa die Zahl ihrer Auszeichnungen 2015. So gesehen war das abgelaufene ein gutes Jahr für den deutschen TV-Film. Vor allem aber ein gutes für uns. Die Zuschauer.

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