Müllabfuhr & Medienopfer

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

25. April – 1. Mai

Die Frage, wer Opfer ist, wer Täter, umtreibt die Mediengesellschaft mitunter im Stile eines Flippers. Jan Böhmermann zum Beispiel, schon wieder der, gilt im türkischen Sultanat definitiv als letzterer, im deutschen Rechtsstaat hingegen als ersterer – auch wenn er grad staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen ihn aufnimmt, was die Rollenzuweisung so umkehrt, dass der Angeklagte in spe aus der allgemeinzugänglichen Öffentlichkeit zusehends ins innere Exil abwandert.

Aus dem er nun allerdings ausgerechnet in ein Medium zurückehrt, das zweifelsohne auf der roten Liste besonders übler Täter steht: Ab Mai wird Jan Böhmermann seine Sendung Sanft & Sorgfältig an der Seite von Oli Schulz nicht mehr im öffentlich-rechtlichen Radio Eins verbreiten, sondern bei Spotify. Jenem Musikstreaming-Dienst also, der die musikalische Vielfalt durch maximale Ausbeutung künstlerischen Eigensinns vernichtet. Oder ist Spotify selbst nur ein Opfer der Verhältnisse, das den schrumpfenden Tonträgermarkt digitales Asyl gewährt? Es ist kompliziert.

Nehmen wir Böhmermanns Urahn Thomas Gottschalk, der das Fernsehen in seiner eigenen Flegelzeit kaum weniger aufmischte als sein inkriminierter Epigone und für die Fähigkeit zur selbstreferenziellen One-Man-Show zum Schluss als aufdringlicher Lustgreis verunglimpft wurde. Ab 5. Juni soll seine RTL-Show Mensch Gottschalk satte drei Stunden lang live die Themen der Tage zuvor verwursten und damit, produziert von Spiegel TV, abermals den Tatort im Ersten angreifen. Der dürfte diese Opferrolle angesichts lausiger Quoten von Tommys Back to School an gleicher Stelle jedoch rasch Richtung Täterrolle verlassen.

Bleiben als unzweideutige Medienopfer der Vorwoche noch jene elenden Geschöpfe, die eine Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung am Mittwoch als „Müllabfuhr in Internet“ deklarierte: Billiglöhner in den rechtsfreien Räumen des globalen Kapitalismus, die das Netz von anstößigen Bildern jeder Art säubern. Für ihre Arbeit, von Nutznießern wie Facebook und Amazon gern keimfrei „Commercial Content Moderation“ genannt, kriegen die Putzkolonnen zwar kaum Geld, zahlen aber einen hohen Preis an sich selbst: zerstörte Seelen, Leben, Familien.

indexDie Frischwoche

2. – 8. Mai

Ein Schicksal, das dem jungen Jan (Leonard Carow) im famosen ARD-Mittwochsfilm Kaltfront (Foto: HR) gleich doppelt widerfährt. Zunächst als Kind, dessen Vater einst einer Bankräuberin zum Opfer fiel. 16 Jahre später als Teenager, den Judiths vorzeitige Hafterleichterung aus seiner fragilen Normalität reißt und mit ihm eine ganze Reihe weiterer Betroffener des tödlichen Überfalls von einst. So lauten die Protagonisten eines famosen Dramas um Schuld und Sühne, das vermutlich auch deshalb solche Wucht entfaltet, da der Regiedebütant Lars Henning einen Wagemut zeigt, den ihm das Metier noch früh genug austreiben wird.

Angefangen mit seinem eigenen Drehbuch, vollendet von seinen Darstellern, allen voran Jenny Schily als Täterin, die peu à peu zum Spielball von Menschen wie ihrer verleugneten Tochter (Lana Cooper) oder dem wunderbaren Christoph Bach als stinkreicher Sohn eines Ermordeten wird. „Du bist ja gar kein Opfer“, sagen die neuen Mitschüler des stotternden Jan zu Beginn, als der sich mit dem Messer gegen Klassenkeile wehrt. Klingt nach erfolgreicher Selbstbehauptung, also einem baldigen Happy-End? Pustekuchen! Mit Dialogen wie diesem lotet Henning die Grenze zwischen Hoffnung und Desaster bis ins Finale so ergebnisoffen aus, dass man nie weiß, wohin die Reise geht. Arme Täter, böse Opfer? Wenn‘s doch so einfach wäre…

… wüsste man genau, ob Glyphosat nun der Wunderstoff globaler Nahrungsmittelversorgung ist (wie die Hersteller beteuern) oder krebserregendes Teufelszeug (wie Gegner warnen). Am Freitag hilft 3sat ein wenig beim Beurteilen des Pestizids, wenn pünktlich zu dessen ablaufenden Zulassung die Doku Gift im Acker zur besten Sendezeit Licht ins Dunkel bringt. Licht ins Helle bringt hingegen Lutz Hachmeisters fabelhafte ARD-Doku Der Hannover-Komplex (heute, 22.45 Uhr) über das lukrative Biedermeierparadies Niedersachsen, in dem sich die Albrechts, Wulffs, die Machmeyers und Schröders seit jeher von Spießervorgarten zu Spießervorgarten Posten und Provinzfilets zuschustern.  Das erinnert ein wenig an den Ort der ersten europäischen Serienproduktion von Netflix: Marseille. Hier glitzert nix, hier ist es windig, hier hat Frankreichs zentralistische Klassengesellschaft eine Art stinkender Abseite, die ab Donnerstag im Streamingdienst kein Geringerer als Gérard Dépardieu regiert. Das will zwar mehr als es kann, ist aber doch Politentertainment auf hohem Niveau.

Tags drauf soll es auf Einsfestival ab 19.40 Uhr lustiger zugehen, wenn das „wöchentliche Comedy-Gossip-Magazin“ Shuffle die Heiterkeit zwischen Virtualität und Wahrheit auslotet. Na ja. Schauen wir lieber die farbige Wiederholung der Woche: Jean-Luc Godards wild gewordenes Jet-Set-Gemälde Elf Uhr nachts (Montag, 20.15 Uhr, Arte) von 1965 mit Jean-Paul Belmondo als Dandy, den die Langeweile in einen Mordfall zieht. Gefolgt vom schwarzweißen Zwölfakter Die Geschichte der Nana S. auf gleichem Kanal, in dem der Regisseur drei Jahre zuvor das Abgleiten einer Verkäuferin in die Prostitution skizziert hätte, als hätte es bis dato keine Filmregeln gegeben. Apropos: Mit Regeln hatte es auch der Auftakt der zehnteiligen Reihe Austropop-Legenden (Donnerstag, 20.15 Uhr, Servus) nicht so: Falco.

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