Frahm, Nonkeen, Lisbeth, Avalanches
Posted: July 15, 2016 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik |Leave a comment
Von wegen Lisbeth
Aus einer Stadt zu kommen, die Ravensburg heißt, meint eine Band die offenbar aus Ravensburg kommt, sei gar nicht so schlimm. Schließlich sorge schon das Herz des Stadtnamens Ravensburg für Anziehungskraft: Raven. Nun haben Von wegen Lisbeth wirklich nicht das Geringste mit dem technoiden Bezug des Wortes am Hut. Aber wenn grundsätzlich analoge Popmusik je die enthemmte Ausgelassenheit berauschter Raves im Wesenskern trug – dann diese. Grande heißt das Debüt der fünf zuckersüßen Hauptstädter (die zumindest dauernd Berlin im Text erwähnen), und dieser Titel ist angesichts der hinreißenden kleinstädtischen Großstadtpoesie zu bisweilen größenwahnsinnigen Arrangements voll überfrachteter Bläsersequenzen, Atariflächen, Steeldrums, gar einer E-Harfe und auch sonst übergroßem Gehabe absolut angemessen.
Schon das Eröffnungsstück mischt Metropole und Provinz mit so grandioser Nonchalance, dass man darauf glatt eine Ravensberliner Schule bauen könnte. “Schlaf auf jedem Klo mit jedem Typen den du willst”, singt Matthias Rohde da mit seiner aufgeweckten Stimme im sedierten Superpunk-Stiel, wähl’ die AfD, geh boxen, sei ein Arsch, “mach, was du willst, aber bring nie wieder deine neuen Freunde in meine Kneipe”. Stimmt, geht gar nicht, Fremde in meinem Terrarium und dann noch welche, den endemischen Arten wir meiner nicht passen. Diese windschiefe Geradlinigkeit urbaner Existenzen bringen Wir sind Lisbeth fast so toll auf den Punkt wie Ja, Panik und Bernd Begemann. Mit einem Sound, der zu fast jedem Zeitpunkt Spaß bereitet, ohne beliebig zu sein, voller Preziosen wie “Ich hab 99 Probleme und du bist jedes davon”. Herrlich!
Von wegen Lisbeth – Grande (Columbia)
Woodkid & Nils Frahm
Das Dilemma aller Pianisten überall ist: Wenn sie nicht gerade Stilettos zum Minikleid tragen wie Yuja Wang, selbstverliebte Rampensäue sind wie Lang Lang oder Kölner Konzerte geben wie Keith Jarrett, führen viele ein Dasein im Schatten großer Meister. Da die Klassikbranche nun ohnehin nicht für Innovationsfreude bekannt ist, haben es neue Arrangements ohnehin schwer. Es sei denn, man geht sie so feinfühlig, so wuchtig an wie Nils Frahm. In zwei Dutzend Platten und Kollaborationen hat der Hamburger seine Klaviertöne mit moderner Technik zu einer Art zeitgenössischem Traditionalismus verdichtet, der die Grenzen von U und E auflöst.
Nun vertont er an der Seite des interdisziplinären Superpatheten Woodkid einen Kurzfilm über New Yorks frühere Flüchtlingsschleuse Ellis Island. Wo will dieses raunende Klangkonvolut aus tropfendem Klavier, flächigen Synths und Robert De Niros Off-Stimme hin, wo kommt es her, was ist das überhaupt? Seine Antwort: Ellis will weder Soundtrack sein noch Album, sondern vertontes Empfinden dessen, was menschlich ist in unmenschlicher Lage – also weniger Musik als Dasein. Ellis erklingt nicht, Ellis lebt. Und zwar so, dass es der Bilder dazu kaum bedarf. Eindrücklicher ist selten jemand aus dem Schatten anderer getreten.
Woodkid & Nils Frahm – Ellis (Erased Tapes)
Nonkeen
Wobei man dazu dringend erwähnen muss, dass wohl kaum jemand eifriger aus seinem eigenen Schatten springt als eben dieser Nils Frahm. So oft variiert der Mittdreißiger seine Mischung aus Klassik und Moderne, dass man mittlerweile den Klappentext fast jeder Platte jenseits von Speed Metal einmal kurz durchlesen sollte, um auszuschließen, dass er nicht doch irgendwie seine Finger darin hat. Erst im Frühjahr kam ja das Resultat einer richtigen Band namens Nonkeen auf den Markt, die Frahm kurz zuvor an der Seite seiner Freunde Frederic Gmeiner und Sepp Singwald gegründet hatte, mit ersterem am echten Bass und letzterem am wahrhaftigen Schlagzeug.
Und irgendwie scheint das eingespielte Repertoire aus jazzigem Postrock und psychedelischer Electronica vom Februar 2016 einiges an verwertbarem Überfluss kreiert zu haben. Denn kein halbes Jahr später legt das Trio bereits den Nachfolger von Oddments vor, ergänzt um …Of The Gamble. Es ist wie der Vorgänger ein irritierendes Werk experimenteller Rock-Dekonstruktion, in dem man ständig auf der Suche nach Struktur und Ordnung ist. Wer sich jedoch hoffnungsfroh an wirren Tonkaskaden wie kassettenkarussell vorbeischlängelt, stößt auf taktsichere Synthieflächen wie diving plattform oder Krautreminiszenzen à la glow, die einfach ungeheuer angenehm reinlaufen ins Ohr. Schattensprungmusik vom Feinsten.
Nonkeen – Oddments Of The Gamble (R&S Records)
Hype der Woche
The Avalanches
16 Jahre sind eine Ewigkeit. Vor 16 Jahren hatten Rechner Bildschirme in Quadratform, Handys Tasten zum Telefonieren und Musikfans Regale voll Tonträger aus silbrigem Plastik oder einem seltsam schwarzen Zeug, das zu Knistern begann, wenn man es so oft benutzte wie The Avalanche. Zum Start des Millenniums veredelten die Australier einen Stil, der schon damals überholt war wie Postkarten: Turntableism. Aus 3500 Vinylsamples bastelten Robbie Chater, James Dela Cruz und Tony Diblasi seinerzeit ein Debüt, dessen Welterfolg Jägern und Sammlern der dritten Vinylgeneration von C2D bis Birdy Nam Nam die Wege ebnete. Zwei digitale Revolutionen später kehren The Avalanche nun mit gleicher Technik zurück, und selten hat eine Band länger fürs zweite Album gebraucht, selten klang es mehr wie zuvor, selten war das egaler. Denn wenn das Rapduo Camp Lo nun Honey Cones Philly-Hit Want Ads in Because I’m Me mit Big Beat anfettet und Frankie Sinatra durch schwarzweißen Calypso und bekifften Hip-Hop zur Synthie-Oper wird, vibriert jede Faser im Leib – so unterhaltsam, kreativ, so sprudelnd ist Wildflower. Alles schon da gewesen? Kein Problem! Nachdem die 90er grad mit Blumenleggings und Eurodance recycelt werden, stehen die 00er ohnehin in den Startlöchern. Mit The Avalanche an der Spitze.
http://www.vevo.com/watch/the-avalanches/Frankie-Sinatra/AUUV71600088