Reportage: Knastalltag & Kreisligaflucht

Die Schlacke von Santa FU

Grätschen hinter Gittern

Grantschlamm, Pöbeln, 0:4 – eigentlich war das Kreisklassenspiel unseres Autors eines wie so viele im Hamburger Amateurfußball. Wären die 8. Herren des FC St. Pauli dafür nicht in den Knast gereist, zu Eintracht Fuhlsbüttel, genannt Santa Fu, Mindeststrafe drei Jahre. Ein Selbsterfahrungsbericht.

Von Jan Freitag

Es regnet, natürlich. Erst leicht, bald strömend. Kein Wunder, schießt es mir Sonntagfrüh halb sechs beim ersten Blick ins Freie durch den Kopf: wenn im Film jemand beerdigt wird, öffnen sich aus trübgrauem Himmel ja auch stets die Schleusen. Und das hier, darauf deutet alles hin, wird eine Beerdigung erster Klasse: Wir treten zum Auswärtsspiel bei Eintracht Fuhlsbüttel an, unterste Liga, dort wo Hamburgs Amateurfußball noch Grantplatzasche und Schiris ohne Regelkenntnis kennt.

Wir, das sind die 8. Herren des FC St. Pauli. Und unser Gegner? Ist der Tabellendritte vom Flughafenviertel. Zuhause kaum besiegbar, auswärts ungeschlagen, obwohl – eigentlich auch sieglos. Fuhlsbüttel darf nicht reisen, weshalb die Kreisklasse B6 ihre Heimspiele komplett bei der Eintracht austrägt: Es ist Hamburgs einziges Knastteam im regulären Spielbetrieb und darin so erfolgreich, dass Kellerkinder wie wir den Hochsicherheitsknast nur zum Punkteliefern betreten. Bis dahin allerdings dauert es. 60 Minuten vorm Anpfiff beginnt am malerischen Eingangstor zur denkmalgeschützten JVA Baujahr 1879 ein bürokratisch eng getaktetes Ritual: Handys abgeben, Pässe auch, Taschenkontrolle, Leibesvisitation, erst dann geht es in die hermetische Welt des geschlossenen Strafvollzugs.

Müde, nass, ein wenig schüchtern und doch sonderbar aufgekratzt trotten 18 Herrenspieler gehobenen Alters ohne Zigaretten (bis auf zwei versiegelte Päckchen), aber mit trotzigem Zweckoptimismus (auf ein Fußballwunder) hinter die Mauer in malerischem Rotklinker. Beim Marsch durch die Zellentrakte öffnet der Wachmann insgesamt sechs mächtige Schlösser in sechs wuchtigen Türen, auch die Umkleidekabine schließt er hinter uns ab. Klackklack, Klackklack – es ist der Sound exekutiver Vollzeitbetreuung von 300 Häftlingen mit mindestens drei Jahren Haft für schwere Straftaten bis zum Kapitalverbrechen, die sich (wie kürzlich ein ZEIT-Artikel offenlegte) auf den JVA-Fluren durch ein Klima aus Gewalt und Angst fortsetzen, weil ihm ein fast grotesker Personalmangel gegenübersteht.

Den haben wir am eigenen Leib erlebt, als uns an einem sonnigen Herbstmorgen von der – kurz darauf ersetzten – Anstaltsleitung erklärt wurde, das Spiel falle wegen, genau, Personalmangels aus und werde 3:0 für uns gewertet. Es waren die ersten von nur drei sieglosen Spielen der Eintracht in dieser Saison. Sportlich ist die Aussicht, aus der Gefangenschaft etwas zurück in die Freiheit mitzunehmen, auch sechs Monate später also gering. Aber geht es an diesem Ort überhaut um Punkte? Die Tabelle? Fußball? „Wir spielen gegen harte Jungs“, bläut uns Spielertrainer Malte beim Umziehen ein, „aber nicht gegen schlechte Menschen“.

Das musste wohl mal gesagt werden angesichts dessen, was sein Kollege über die Eintracht sagt. Er betreue da Vergewaltiger, Räuber, Mörder und früher Mal, nach gut der Hälfte seiner 74 Jahren an der Seitenlinie im Knast scheint Gerhard Mewes fast stolz darauf zu sein, ein Mitglied der Terrorzelle vom 11. September. Wer in den Niederungen kickt, hat es naturgemäß mit rauen Sitten zu tun. „Fotze“ als freundlicher Hinweis auf die Rechtslage im vorigen Zweikampf gehört ebenso dazu wie Revanchefouls mit 40 Metern Anlauf. Aber das hier?

Intuitiv spanne ich den Schienbeinschoner fester vors Bein und schalte die Ohren auf Durchzug. Anderseits – hat nicht der Schiri bestätigt, was Knastspiele als urban legend umweht: „Es geht hier so zur Sache wie draußen“. Kreisklasse eben. „Aber die Spieler von Santa Fu haben mehr als drei Punkte zu verlieren.“ Das Privileg nämlich, dem Gefängnistrott zweimal pro Woche mit der Aussicht auf individuelle Erfolgserlebnisse zu entkommen. Die Statistik gibt ihm Recht: in 14 Spielen hat Fuhlsbüttel keine Karte kassiert. Disziplin durch Verlustangst; im Areal jener, deren Normalität von Entbehrung geprägt ist, klingt das dennoch kaum beruhigend. Im Gegensatz zum Ritual vorm Anpfiff. „Gebt mir ein F!“, ruft der schwarzweiß gestreifte Gegner im Kreis, „Gebt mir ein U! Gebt mir ein San-Ta-Fu!“. Corporate Identity unter Intensivtätern – das kontern mein flaues Gefühl im Magen mit einer Dosis Empathie.

Und die ist auch bitter nötig. Denn das Fußballspiel ist auf dem absurd schmalen Platz mit „Fußballspiel“ schnell falsch umschrieben. Mit jeder Sekunde Regen verwandelt sich der Boden mehr in ein Hochmoor. Bei meiner Einwechslung Mitte der 1. Halbzeit werde ich vom Zellenblock aus gleich mal lauthals für meine Frisur veräppelt, doch da steht es bereits 2:0 für jenes Team, das nach zehn Jahren Ligazugehörigkeit zwar stets ganz vorn mitspielt, aber wegen des Verbots von Auswärtsfahrten nicht aufsteigen darf. Geht also um nix, oder? Von wegen.

Für die Nummer 14 geht es um alles. Der Eintracht-Kapitän dribbelt und pöbelt und kämpft und foult und brilliert und beleidigt locker für zehn, also den Rest des Teams, das in etwa so zurückhaltend agiert wie erhofft und dabei äußerst intensiv spielt, aber praktisch nie unfair. Mein Gegenspieler rät mir nach einem Zweikampf freundlich, die Arme am Körper zu behalten, „der Schiri ist streng, den kenn’ ich“. Sein „Pitbull“ genannter Mitspieler auf der anderen Seite grunzt bisweilen wütend, wenn er zur Grätsche ansetzt. Am Ende ist aber auch er eher angemessen als übertrieben aggressiv.

Ob Eintrachts Torjäger, der dem Sozialpädagogen mit Trainerlizenz Mewes wegen einer Prügelei im Knastallag seit Wochen fehlt, die Stimmung aufgeheizt hätte, bleibt Spekulation. Es ist, wenn man so will, ein Spiel wie jedes andere. Nur dass wir durch sechs wuchtige Türen mit sechs mächtigen Schlössern eskortiert werden. Danach gibt es Frühstück bei Kay oder Mittag mit Familie, je nach Bedarf. So ein Ausflug in die Gefangenschaft hilft, sich das Privileg der Freiheit ganz neu vor Augen zu halten. Nächste Saison kommen wir wieder. Ich freue mich schon jetzt. Sofern es nicht regnet. Und das Personal reicht.

Der Artikel ist vorab auf ZEIT-Online erschienen
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